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DAS HEIDELBERGER INSTITUT FÜR HUMANGENETIK: VORGESCHICHTE UND AUSBAU (1962-2012) FESTSCHRIFT ZUM 50 JÄHRIGEN JUBILÄUM Anne Cottebrune Wolfgang U. Eckart (Hg.)

Das HeiDelberger institut für Humangenetik: VorgescHicHte

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Page 1: Das HeiDelberger institut für Humangenetik: VorgescHicHte

Das HeiDelberger institut für Humangenetik: VorgescHicHte unD ausbau (1962-2012)

festscHrift zum 50 jäHrigen jubiläum

anne cottebrune Wolfgang u. eckart (Hg.)

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1. Erbbiologische Lehre und Praxis an der Universität Heidelberg 1933-1945 8 Wolfgang U. Eckart

2. Die westdeutsche Humangenetik auf dem Weg zu ihrer universitären Institutionalisierung nach 1945 – Zwischen Neuausrichtung und Kontinuität 26Anne Cottebrune

3. „My personal situation has now changed from complete black to complete white“ – Friedrich Vogels Berufung auf den neu errichteten Lehrstuhl für Anthropologie und Humangenetik an der Universität Heidelberg 56Anne Cottebrune

4. Das Heidelberger Institut für Anthropologie und Humangenetik unter der Leitung von Friedrich Vogel, 1962-1994: Forschungsschwerpunkte und klinische Praxis 804.1 Humangenetik im Atomzeitalter: von der Mutationsforschung zum genetischen Bevölkerungsregister 82Alexander von Schwerin4.2 Mutagene Umweltstoffe: Gunter Röhrborn und eine vermeintlich neue eugenische Bedrohung 106Alexander von Schwerin4.3 Verhaltensgenetik und Elektroenzephalographie: Friedrich VogelsGrundlagenforschung für einen genetischen Humanismus 130Cornelius Borck4.4 „Wir hatten die besseren Bilder.“ Historische, mediale und ethische Aspekte der Zytogenetik 149Philipp Osten4.5 Von der eugenischen Familienberatung zur Genetischen Poliklinik. Vorgeschichte und Ausbau der Heidelberger humangenetischen Beratungsstelle 170Anne Cottebrune4.6 Humangenetik, Verhaltensgenetik und Psychiatrie: Peter Propping und die Implementierung psychiatrisch-genetischer Forschungskonzepte (1970-1984) 208Ekkehardt Kumbier und Sabine Herpertz4.7 Chemische Mutagenese, Verhaltensgenetik und experimentelle Embryologie: Werner Buselmaier über die tierexperimentelle humangenetische Forschung (1968-2012) 219

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6 | INHALT

4.8 „Die funktionale Organisation des Zellkerns zu verstehen, ist das Ziel“ – Thomas Cremer und die molekulare Zytogenetik 224Moderierte Darstellung von Thomas Cremer mit dem Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart und der Wissenschaftshistorikerin Anne Cottebrune4.9 Chromatinfaltungscode und die Funktion männlicher Fertilitätsgene in den Locus-spezifischen repetitiven DNA-Strukturen des Y-Chromosoms. Peter H. Vogt über den AZF-Locus und die Einführung der Sektion Molekular- genetik am Heidelberger Institut für Anthropologie und Humangenetik 2394.10 Brigitte Royer-Pokora über die Weiterentwicklung von molekulargenetischen Analysetechniken 2444.11 Gudrun A. Rappold über ihren Wiedereinstieg am Heidelberger Institut für Anthropologie und Humangenetik 248

5. Ein neuer Lehrstuhlinhaber für die Stadt der „genetischen Forschung“ – Das Berufungsverfahren 1992-1995 254 Wolfgang U. Eckart

6. Das Heidelberger Institut für Humangenetik unter der Leitung von Claus R. Bartram: Klinische Praxis und laufende Forschung 2626.1 „Die Humangenetik in ihrer ganzen Breite entfalten“ 264Moderierte Darstellung von Claus R. Bartram mit der Wissenschaftsjournalistin Claudia Eberhard-Metzger6.2 „Auf der Suche nach den genetischen Grundlagen menschlicher Erkrankungen“ 276Moderierte Darstellung von Gudrun A. Rappold mit der Wissenschaftsjournalistin Claudia Eberhard-Metzger6.3 Klinische Praxis und Patientenversorgung 2866.3.1 Johannes Zschocke über die Besonderheiten der Humangenetik 2866.3.2 Ute Moog über die Entwicklung der Genetischen Poliklinik zur Klinischen Ambulanz 2906.3.3 Nicola Dikow über klinische Genetik 2936.3.4 Anna Jauch über den Aufbau der molekularen Zytogenetik und deren Anwendung in Forschung und Diagnostik 2966.3.5 Johannes W. G. Janssen über Isolation und funktionelle Charakterisierung von Onkogenen des Menschen 2986.3.6. Katrin Hinderhofer über die molekulargenetische Diagnostik 3016.3.7 Rolf Köhler über die Genetik der pulmonalen ateriellen Hypertonie sowie molekulare Diagnostik und Forschung bei akuter lymphoblastischer Leukämie im Kindesalter 304

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6.3.8 Christian Sutter über onkogenetische Diagnostik und Forschung bei familiären Krebserkrankungen 3066.3.9 Ulrike Barth über Qualitätsmanagement im Bereich der genetischen Diagnostik 3086.3.10 Christine Fischer über die Statistik in der Genetik 3106.4 Forschungsschwerpunkte 3136.4.1 Herbert Steinbeisser über die Entwicklungsgenetik 3136.4.2 Heiko Runz über seine Rolle als Arzt und Humangenetiker 3156.5 Forschungstätigkeit in der Abteilung für Molekulare Humangenetik unter der Leitung von Gudrun A. Rappold 3176.5.1 Beate Niesler über Serotoninrezeptoren und die bidirektionale Interaktion zwischen Hirn und Darm 3176.5.2 Simone Berkel über die Erforschung genetischer Ursachen von mentaler Retardierung und Autismus 3206.5.3 Sandra Hoffmann über die molekularen Grundlagen des kardialen Reizleitungssystems 3226.5.4 Katja U. Schneider über die entwicklungsgenetische Steuerung des Knochenwachstums 3236.5.5 Volker Endris über das srGAP3/MEGAP-Gen und die Ätiologie mentaler Retardierung 325

Autorenverzeichnis 328

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106 | KAPITEL 4.2

4.2. muTAgEnE umwELTsToffE: gunTEr röHrborn unD EInE vErmEInTLIcH nEuE EugEnIscHE bEDroHungAlexander von Schwerin

Die reinstitutionalisierung der deutschen Humangenetik fand im Kontext des Atom-zeitalters und der damit einhergehenden gefahren statt. Als friedrich vogel im novem-ber 1962 als Direktor des neu gegründeten Instituts für Humangenetik und Anthropo-logie seinen Dienst in Heidelberg antrat, wurden die strahlengefahren jedoch bereits von anderen bedrohlichen Entwicklungen überschattet. Dafür stand in Deutschland ein Ereignis, das die bundesrepublikanische öffentlichkeit ein Jahr zuvor erschüttert hatte: die contergan-Katastrophe. Das bedrohungsszenario verlagerte sich damit auf die synthetische chemie. Der bislang größte Arzneimittelskandal in Deutschland er-wischte die Experten in wissenschaft und Politik allerdings unvorbereitet. seit Jah-ren diskutierten sie eine mögliche zunahme von fehlbildungen in der bevölkerung, vor allem in Hinblick auf strahlenquellen.1 Als sich Anfang der 1960er Jahre berichte über Kinder häuften, die mit verkürzten gliedmaßen geboren wurden, dachte jeden-falls zunächst niemand an ein medikament als ursache. Es war der Humangenetiker widukind Lenz (1919-1995), der in detektivischer Eigeninitiative contergan als ursa-che ausmachte und im november 1961 darüber berichtete. sehr schnell klärte sich danach auf, dass Thalidomid, der wirkstoff in contergan, die Kindesentwicklung im mutterleib massiv störte und zu den charakteristischen schäden führte.

Eine wenig beachtete wende in der geschichte des contergan-skandals ist, dass er nicht nur die öffentlichkeit für die Problematik des steigenden Arzneimittelkonsums sensibilisierte, sondern die gefahren von mutationsauslösenden stoffen – mutage-nen – erstmals auf die Tagesordnung setzte. Das war paradox, denn die wirkung des contergans hatte mit genetik wenig zu tun. unter den vorzeichen der alarmierenden situation spielten solche Differenzierungen aber keine rolle.2 genetiker und Human-genetiker fanden sich wie zuvor schon im Atomzeitalter im fahrwasser einer gesell-schaftlichen Debatte über technisch bedingte gefahrenquellen wieder. Anfang der 1960er Jahre war die neuartige bedrohung erst in umrissen bekannt, die in der auf den Erfolgen der chemischen Industrie basierten massenkonsumgesellschaft jedoch überall lauerte – in der dank des großzügigen Einsatzes von Düngemitteln und Pesti-ziden wachsenden Landwirtschaft ebenso wie in den auf neuen materialien wie Pvc basierten Konsumgütern, in rauchenden schloten, im steigenden Konsum von Arznei-mitteln und einer mit Hilfe von Lebensmittelzusatzstoffen boomenden Lebensmittel-

1 Thomann, contergan-Katastrophe, 2778-2782.2 Dazu ausführlich schwerin, contergan-bombe, 255-282. cottebrune, mensch, 223-235.

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industrie. genetiker und Humangenetiker forderten nun erstmals die regulierung von mutationsauslösenden stoffen. wichtige unterstützung fanden sie dabei von Toxiko-logen und der Deutschen forschungsgemeinschaft (Dfg).

friedrich vogel und sein Heidelberger Institut gehörten von Anfang an zum Kreis der in sachen chemischer mutagenese aktiven wissenschaftler. bereits 1958 hatte er zu-sammen mit seinem akademischen Lehrer Hans nachtsheim (1890-1979) und dem marburger Humangenetiker gerhard wendt (1921-1987) auf dringenden forschungs-bedarf aufmerksam gemacht: „überschwemmen doch den Körper eines jeden von uns als folge der modernen zivilisation große mengen der verschiedenartigsten che-mikalien, über deren mutagenität wir kaum etwas wissen.“3 vogel kam zunehmend zu der überzeugung, dass die strahlenbelastung durch medizin und Technik im verhält-nis zur Häufigkeit spontaner mutationen nicht ins gewicht fiel. zusammen mit dem statistiker Dietrich strobel errechnete er 250 „neumutanten“, die bei einer bevölke-rung von 2,5 millionen spontan entstehen würden.4 Die Erhöhung der mutationsrate durch künstliche strahlenwirkung, der ein mensch in seinem Leben durchschnittlich zusätzlich ausgesetzt sei, bezifferten vogel und sein mitarbeiter Peter Propping auf zwei Prozent der spontanrate – keine bedrohung für „our whole genetic system“.5 viel später sah sich vogel in dieser Einschätzung noch einmal bestätigt. nach der reaktor-Katastrophe in Tschernobyl berief er sich auf ungarische genetiker, die mit Hilfe ihres genetischen bevölkerungsregisters hätten nachweisen können, dass sich „die zahl der neumutanten unter den danach geborenen Kindern nicht messbar er-höht hatte“.6

Das Problem der „load of mutation“, wie es der genetiker Hermann muller (1890-1967) angesichts der strahlengefahr in den 1950er Jahren ausgerufen hatte, ließ vo-gel auch in Heidelberg nicht los. „Als Hauptarbeitsgebiet wählte ich wieder meine ‚alte Liebe‘, das mutationsproblem. Diesmal aber lag das schwergewicht bei der Aus-lösung von mutationen durch chemische Agenzien.“� Im gegensatz zu strahlen war die beurteilung der mutagenen gefährdung des menschen durch chemische subs-tanzen wesentlich komplizierter. Aus der großen zahl von chemikalien, mit denen der mensch in Kontakt kam, war bis Anfang der 1960er Jahre nur ein verschwindend geringer Anteil untersucht. 1963 begann man am Heidelberger Institut deshalb, das

3 mPg-Archiv, III. Abt., rep. 20A: nachtsheim, vogel, wendt: Denkschrift zur frage einer deutschen Kartei für einige ausgewählte Erbleiden des menschen, 18.2.1958.4 strobel, vogel, gesichtspunkt, 281. 5 Propping, vogel, betrachtungen, 53.6 vogel, Probleme, 488.

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Problem anzugehen.7 Im selben Jahr unterzeichneten die Atommächte in moskau ein Abkommen, in dem sie sich auf den stopp der oberirdischen Atomwaffentests ver-pflichteten. Das Ende dieser Ära, von der die Humangenetik ungemein profitiert hatte, bedeutete, dass man sich auch aus forschungspolitischen gründen neuen Inhalten zuwenden musste.

Von der Strahlengenetik zum Forschungsprogramm „Mutagene Substanzen“Im grunde hatten die genetiker mit ähnlichen Problemen zu tun, die sie schon in der strahlenforschung und bei der schätzung der spontanen mutationsrate des men-schen beschäftigt hatten: die beschränkte übertragbarkeit von versuchsergebnissen vom Tier auf den menschen und die enormen statistischen schwierigkeiten bei der Erfassung von schäden aus der chronischen und niedrigdosierten Exposition gegen-über „umweltnoxen“.8 vogel beharrte zwar noch Jahrzehnte später darauf, dass die genetische veränderung in der bevölkerung und die Exposition der „menschlichen Population“ überwacht werden müsse.9 Es war aber kaum realistisch, auf diese op-tion zu setzen. Die im zuge des Atomprogramms der deutschen bundesregierung initiierten register von Erbkrankheiten in der deutschen bevölkerung waren unter an-derem wegen der zu großen methodischen schwierigkeiten nicht über Pilotprojekte hinausgekommen.10

vogel stellte deshalb 1965 nüchtern fest, man werde völlig neue methoden entwi-ckeln müssen, wenn man die bedeutung von mutationen für die gesundheit der bevölkerung untersuchen wolle.11 Die Erfassung chemischer noxen würde zudem ungleich aufwändiger werden, weil man es mit Tausenden verschiedenen stoffen zu tun hatte. Als vogel nach Heidelberg kam, stand für ihn deshalb fest, dass die Iden-tifizierung von mutagenen stoffen nur mit Tierexperimenten gelingen konnte. „Als hauptsächliche wissenschaftliche Arbeitsrichtung für das neu gegründete, zunächst kleine Institut entschied ich mich – in Erweiterung meiner eigenen untersuchungen zur spontanen mutabilität menschlicher gene – für die Erforschung der Auslösung von mutationen in Keimzellen von säugetieren durch chemische substanzen [...].“12

7 vogel, Entwicklung, 413.8 vogel, Probleme, 489.9 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 12: vogel, röhrborn, Hansmann: Testung von fremdstoffen, 17-19.10 vogel, röhrborn, 245.11 siehe dazu den beitrag von schwerin in diesem band.12 vogel, mutations in man, 847.

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Als mitarbeiter für diese Aufgabe gewann vogel den genetiker gunter röhrborn (*1931), der mit den Problemen der chemischen mutagenese bereits vertraut war. Die medizi-ner Engelhardt schleiermacher und Traute schroeder (*1930) ergänzten das Team und übernahmen zytogenetische Arbeiten.13

röhrborns werdegang ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich. zum einen kam röhr-born wie vogel aus der strahlenforschung und den Problemen des Atomzeitalters zur Toxikogenetik. zum anderen zeigt röhrborns Karriere die bedeutung des netzwerks berliner genetiker für die Prägung und fortführung von forschungsproblemen. zen-tral für röhrborns berliner Jahre war der Experte für strahlengenetik Herbert Lüers (1910-1978). Lüers hatte einige Jahre bei nicolai Timoféeff-ressovsky (1900-1981) am Kaiser-wilhelm-Institut für Hirnforschung (KwI-H) in berlin-buch geforscht.14 Das von Timoféeff-ressovsky geleitete Institut für genetik war maßgeblich für die Entwicklung der strahlengenetik in Deutschland. nach 1945 widmete die sowjetisch kontrollierte

13 vogel, Institut, 10. Daneben forderten die Heidelberger statistische Erhebungen in Personenkreisen, die etwa im rahmen der Krebstherapie mit cytostatica behandelt worden waren. 14 vogel, Entwicklung, 413; vogel (Hg.), Humangenetik in Heidelberg, II-III.

Gunter Röhrborn

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zentralverwaltung das KwI-H in ein zentralinstitut für Krebsforschung um. nachtsheim, der das KwI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (ab den 1950er Jah-ren max-Planck-Institut) in Dahlem kommissarisch leitete, übernahm nun auch die Leitung des verwaisten genetik-Instituts, bis er sich nach Konflikten mit der zentral-verwaltung nach westberlin zurückzog und Lüers die Leitung übernahm. wenige Jahre später verließ auch Lüers berlin-buch und leitete übergangsweise eine strahlengeneti-sche Abteilung in nachtsheims max-Planck-Institut für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie (mPIvEE), bevor er 1956 das ordinariat für genetik und die Leitung des Instituts für genetik der freien universität berlin (fu) von nachtsheim übernahm. Im selben Jahr begann dort röhrborn mit strahlengenetischen Arbeiten. röhrborn kannte Lüers wohl schon aus dessen zeit am zentralinstitut für Krebsforschung, da er seine biologische Diplomarbeit an der dortigen Abteilung für biologische Krebsforschung geschrieben hatte.15

Lüers führte die bucher Tradition der Drosophila- und strahlengenetik am Institut für genetik fort, knüpfte aber auch an seine Arbeiten über den zusammenhang von ge-netik und der wirkung chemischer stoffe an: der Entstehung von resistenzen am bei-spiel des Kontaktinsektizids DDT, ab den 1950er Jahren dann auch mit der mutagenität von in Landwirtschaft bzw. medizin gepriesenen stoffen wie DDT, TEm, Thioxanthon-derivaten, chinon, sanamycin, cytostatica, megaphen und Thio-TEPA.16 Lüers gehörte zu den ersten, die auf die möglichen gefahren für den menschen durch chemische mutagene aufmerksam machten. röhrborn verstärkte den chemogenetischen Arbeits-schwerpunkt am Institut für genetik nach Abschluss seiner Promotion im Jahr 1958.17 zunächst befasste sich röhrborn mit der mutagenen wirkung von zytostatica wie zum beispiel myleran. Daneben versuchte er, chemische mutagene auf grund ihrer chemi-schen Konstitution zu klassifizieren.18 Ende der 1950er Jahre promovierte röhrborn an der fu, nicht weit entfernt von dem max-Planck-Institut, an dem vogel arbeitete.

röhrborn verfügte über die besten voraussetzungen und das vertrauen vogels, als er nach Heidelberg kam. seine Aufgabe bestand darin, die neue Arbeitsrichtung der Toxikogenetik aufzubauen und die tierexperimentellen Arbeiten zu leiten. vogel erin-nert sich: „für das damals neue Heidelberger Institut war das ein aussichtsreiches Pro-gramm: Ich selbst hatte mich ausgiebig mit Problemen der spontanen mutationen beim menschen befaßt; und ein chromosomen-Labor – ein notwendiger bestandteil für alle

15 zur biographie Lüers siehe in Pasternak (Hg.), wissenschaftler, 27-31.16 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 5: röhrborn: Lebenslauf, 20.2.1970.17 siehe Lebenslauf und Literaturliste Lüers in mPg-Archiv, II. Abt., rep. 1A, Institutsbetreuerakten mPIvEE, ordner 2 sowie Literatur laut Pubmed-Abfrage.18 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 5: röhrborn: Lebenslauf, 20.1.1970, und schriftenverzeichnis.

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Arbeiten über mutagenese – mußte ohnehin aufgebaut werden, da wir es auch für die klinische Diagnostik dringend brauchten. Eine tierexperimentelle Arbeitsgruppe sollte so etwas wie das Herzstück der neuen Arbeitsrichtung werden.“19 vogel und röhrborn wählten nicht Drosophila, sondern die maus als versuchstier, da sie säugetiere für die besser geeigneten modellobjekte hielten, um die wirkung chemischer mutagene beim menschen aufzuklären. vorbild waren die großen strahlengenetischen forschungspro-gramme, die amerikanische und englische genetiker seit den 1950er Jahren in den Atomversuchsanlagen in oak ridge, Tennessee, beziehungsweise im britischen Har-well betrieben. Eine wichtige voraussetzung für die geplanten versuche in Heidelberg war deshalb eine ausreichend große Tierversuchsanlage. Das Institut war zunächst in einem villenviertel im stadtteil neuenheim untergebracht. räume für die zytogeneti-schen Laboratorien kamen im Poliklinik-Anbau der universitäts-Augenklinik hinzu; im bereich der früheren zigarrenfabrik Landfried entstand eine Tierversuchsanlage.20

röhrborn fertigte in wenigen Jahren seine Habilitationsschrift über die mutagene wirksamkeit von Pharmaka an. Auf dieser grundlage entwickelte er ein Programm zur untersuchung der chemischen mutagenese, das er 1965 in der im zweiten Jahr beste-henden, von vogel mitbegründeten zeitschrift Humangenetik veröffentlichte – Hans nachtsheim zum 65. geburtstag gewidmet.21 röhrborns Programm zielte weniger auf die Erforschung der chemischen mutagenese als auf die Entwicklung von validen Test-methoden. Dass es sich dabei nicht um ein einfaches unterfangen handelte, verdeut-lichte die vielfalt in frage kommender Testobjekte: neben den von vogel und röhrborn präferierten säugetieren waren unter mutationsforschern auch Pflanzen, mikroorga-nismen, Drosophila und zellkulturen im gespräch. Die forschung musste außerdem noch eine reihe von voraussetzungen erfüllen, bevor die routineuntersuchung von verdächtigen stoffen in Angriff genommen werden konnte. röhrborn schlug zudem am beispiel der Pharmaka eine Kategorisierung von gefährlichen stoffen vor. Als „poten-tiell mutagene Pharmaka“ bezeichnete er stoffe, deren mutagenität bei pflanzlichen oder tierischen objekten nachgewiesen war.22 unter diesen stoffen unterschied röhr-born drei gruppen: erstens jene stoffe, die anscheinend bei jeder spezies mutagen wirkten und deren Einsatz bei fortpflanzungsfähigen menschen sehr bedenklich sei, zweitens die substanzen, deren mutagene wirksamkeit beim menschen wahrschein-lich und drittens schließlich die stoffe, deren mutagene wirksamkeit beim menschen fraglich sei.23

19 röhrborn, Konstitution, 523-529. 20 vogel, röhrborn, 242.21 vogel, Institut, 10.22 röhrborn, nebenwirkungen, 205-231.23 Ebd., 210.

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Das Programm, das röhrborn 1965 präsentierte, ist nicht nur als sehr früher versuch bemerkenswert, mutagene stoffe entsprechend ihrer gefährlichkeit zu klassifizieren. Es zeichnen sich darin bereits die schwierigkeiten ab, die die regulierung mutagener stoffe in den kommenden Jahren zu einer Herausforderung für die regulierungspoli-tik und damit auch für die bis dahin eingespielte rollenverteilung von wissenschaft und Politik machen sollten. Das ordnungsprinzip, das röhrborn für sein abgestuf-tes Klassifikationssystem wählte, war angepasst an eine neue situation, mit der die mutagenitätsprüfung die wissenschaft konfrontierte. Die wissenschaft, so vermute-te röhrborn, würde bei der feststellung der mutagenität von stoffen voraussichtlich an grenzen stoßen. bei der beurteilung der mutagenität von einzelnen substanzen ließen sich oft „sehr verschiedene standpunkte einnehmen, deren Extreme schon fast ‚weltanschaulichen‘ charakter“ tragen würden.24 Daraus folgte, dass die wissen-schaft der Politik nicht mehr ohne weiteres Handlungsanleitungen zur Hand geben könne. röhrborn schlug deshalb vor, die mutagenitätsprüfung an mehreren Testob-jekten durchzuführen – mindestens eines davon sollte ein säugetier sein.� Auf grundlage von röhrborns überlegungen entwickelten vogel und seine mitarbei-ter und mitarbeiterinnen ein Testprogramm, das sie 1967 in der Deutschen medizini-schen wochenschrift einem breiten fachpublikum präsentierten.25 Dabei ließen sie keinen zweifel daran, dass die Entwicklung von mutagenitätstests noch am Anfang stand. Ausgangspunkt des Heidelberger Programms war röhrborns „multidimensi-onaler Ansatz“: nur durch die Kombination verschiedener Tests könnten die unter-schiedlichen genetischen Effekte erfasst und die relevanz für den menschen gewähr-leistet werden.26 zentralen stellenwert in dem anvisierten Testprogramm hatten Tests an mäusen. Diese In-vivo-Tests sollten durch In-vitro-Experimente – die behandlung verschiedener zellen wie Lymphozyten, fibroblasten, zellstämme in Dauerkultur, Tumorzellstämme wie die weithin gebräuchlichen HeLa-zellen und anschließende untersuchung der chromosomen – sowie durch statistische Erhebungen beim men-schen ergänzt werden. Die Heidelberger interessierten sich vor allem aus ökonomi-schen überlegungen für In-vitro-methoden, da diese mit weniger Aufwand verbunden waren. umgekehrt forderten sie aufwändige statistische Erhebungen in der bevöl-kerung, weil kein modellsystem so gut war, dass es untersuchungen am menschen ersetzen könne.27 Die spannung zwischen Effizienz und relevanz blieb ein Dilemma,

24 Ebd., 210-220.25 Ebd., 222.26 Ebd., 222.27 vogel, röhrborn, schleiermacher mutationen, 2249-2254; röhrborn, vogel, Einwirkung, 2315-2321; schleiermacher, schröder, Adler, vrba, vogel, sauger, 2343-2350; vogel, Krüger, röhrborn, schleiermacher, schröder, statistische untersuchungen, 2382-2388.

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das die Auseinandersetzung über die Etablierung von mutagenitätstests über viele Jahre bestimmte.

Heidelberger Mutationspolitik: von Mutationstests zur pränatalen DiagnostikEntsprechend ihrer mehrdimensionalen Konzeption der mutationsprüfung bauten die Heidelberger ihr untersuchungsprogramm in den nächsten Jahren aus. Die geteste-ten substanzen waren zunächst stark wirkende Tumortherapeutika. sie wurden im züchtungsversuch an der maus genetisch getestet; parallel dazu lief in vitro die be-handlung menschlicher Lymphozytenkulturen.28 Die Analyse von chromosomenano-malien mit neuen zytogenetischen methoden war ein schwerpunkt der Arbeiten, an den Engelhardt schleiermacher, Ilse-Dore Adler und Ingo Hansmann mitarbeiteten.29 Probeweise wagten sich die Heidelberger auch an populationsgenetische Arbeiten heran.30 zum einen ermittelten sie in zusammenarbeit mit der Heidelberger Ludolf Krehl-Klinik und der Haut- und strahlenklinik der universität sowie mittels Abfragen bei den Einwohnermeldeämtern, ob die nachkommen von mit zytostatika behandel-ten Patienten gesund waren oder nicht. zum anderen verteilten sie knapp 40 000 fragebögen unter den studierenden der universitäten in Heidelberg, freiburg und Darmstadt sowie an oberschulen, um schädliche folgen des Kaffeekonsums aufzu-spüren. Die Auswertung erfolgte mit Hilfe der rechenanlage der universität. vogel schlug auch untersuchungen an verkehrspolizisten vor, da diese in besonderer weise Auspuffgasen von Kraftfahrzeugen, sprich umweltnoxen, exponiert waren.31

Den schwerpunkt legten die Heidelberger in ihren untersuchungen auf Arzneimittel. Den Hintergrund dafür bildete die contergan-Katastrophe, die bis in die 1970er Jahre hinein das Problem der Arzneimittelsicherheit über medizinische und naturwissen-schaftliche fachkreise hinaus im gespräch hielt. ganz unbesehen davon, dass das contergan keine mutagene wirkung hatte, eigneten sich Arzneimittel unter diesen bedingungen besonders, auf die drohenden gefahren durch mutagene stoffe hin-zuweisen. „Kürzlich ging durch die medizinische fachpresse die nachricht: ‚Asthma bronchiale erfolgreich mit chlorambucil behandelt!‘ [...] chlorambucil ist ein n-Lost-Abkömmling; die ganze gruppe gehört zu den bekanntesten und wirksamsten che-mischen mutagenen.“32 mit dieser aufrüttelnden nachricht leiteten vogel und seine

28 vogel, röhrborn, schleiermacher, schröder, mutationen, 2252.29 Ebd., 2253 und vogel, Krüger, röhrborn, schleiermacher, schröder, mutationen, 2387.30 vogel, f., neue Entwicklungen auf dem gebiet der Humangenetik, in: Pädiatrie und grenzgebiete 4 (1965), 385-400, hier 393-394.31 vogel, röhrborn, 243-244.32 vogel, Krüger, röhrborn, schleiermacher, schröder, mutationen, 2382-2384.

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mitarbeiter einen wissenschaftlichen Artikel ein und beklagten, dass trotz der conter-gan-Katastrophe die frage, in welchem umfang der gebrauch chemischer stoffe „das genetische material zukünftiger generationen negativ beeinflußt“, nicht beachtet würde.33 Ende der 1960er Jahre änderte sich dies jedoch langsam.

Amerikanische genetiker und Toxikologen gründeten Anfang 1969, unter aktiver be-teiligung von röhrborn, die Environmental mutagen society (Ems), die als wissen-schaftliche vereinigung das ziel verfolgte, die Politik zum Handeln zu drängen.� Im selben Jahr kam auch in Deutschland einiges ins rollen. Die Dfg eröffnete ein auf die Prüfung chemischer mutagene spezialisiertes Institut – das zentrallaboratorium für mutagenitätsprüfung. Die bemühungen von vogel und seinen mitarbeitern und mit-arbeiterinnen fanden nun auch unter deutschen genetikern verstärkt beachtung. Die vorsitzende der gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik, Ilse schwidetzky, ermunterte vogel, auf dem Jahrestreffen der gesellschaft in mainz ein mutationsge-netisches symposium zu organisieren.34 schwidetzky und vogel gehörten beide ei-nem Expertenkreis an, der die populationsgenetische forschung im schwerpunktpro-gramm der Dfg „biochemische grundlagen der Populationsgenetik des menschen“ auf neue bahnen bringen wollte.35 Im oktober 1969 fand die erste große Konferenz zur chemischen mutagenese in Deutschland statt, organisiert von vogel und röhr-born. Die Dfg und die pharmazeutische Industrie – Thomae, bayer, Leverkusen und boehringer – finanzierten das Treffen, an dem samuel s. Epstein (*1926), marvin s. Legator (1926-2005), Ernest H. Y. chu und Heinrich v. malling (*1931) teilnahmen, die maßgeblich an den Entwicklungen in den usA beteiligt waren.36 vogel und röhrborn verstanden das symposium auch als ein politisches Instrument, um die verantwort-lichen aufzurütteln.37

Eines zeigte das symposium gewiss: Die mutationsforschung mochte in der Humange-netik generell eher zu den randständigen gebieten gehören, in Heidelberg hingegen war sie in diesen Jahren zentral. Allein fünf beiträge stammten von vogels mitarbei-tern: von röhrborn, schleiermacher, schroeder, olaf Klamerth und dem mathemati-ker Jens Krüger. Eingespannt war auch der wissenschaftliche nachwuchs, namentlich Peter Propping (*1942) und werner buselmaier (*1946), die zu dieser zeit „ihre ersten

33 vogel, röhrborn, Hansmann, Testung, 1669.34 vogel, f., g. röhrborn, E. schleiermacher, chemisch-induzierte mutationen bei sauger und mensch, in: naturwissenschaften 58 (1971), 131-141, hier 131.35 Ebd., 131. 36 frickel, scott, chemical consequences. Environmental mutagens, scientist Activism, and the rise of genetic Toxicology, new brunswick, rutgers university Press, 2004.37 röhrborn, gunter, friedrich vogel (Hg.), chemical mutagenesis in mammals and man, Heidelberg, new York, springer-verlag, 1970, viii.

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wissenschaftlichen sporen“ mit der Erprobung neuer mutagenitätstests verdienten.38 Die mutationsforschung am Institut profitierte zudem von den fortschritten in der zytogenetik und chromosomenanalyse. Die umwälzenden Entwicklungen auf diesen gebieten bescherten der Humangenetik „ihr organ“, wie ein Diktum des kanadischen Humangenetikers victor mcKusick (1921-2008) lautete.39 In Heidelberg befasste sich schroeder mit der zytogenetischen und vor allem histologischen Analyse der chromo-somen-Instabilität. Auf dem symposium in mainz machte sie den vorschlag, die zahl von Kernanomalien wie Anaphase-brücken und vor allem mikrokernen in zellen des Knochenmarkes als maß für eine mutagene wirkung zu verwenden – ein vorschlag, der später unter dem namen „mikrokerntest“ bekannt geworden ist.40

Die Debatte über die genetische bedrohung durch chemische substanzen wurde auch auf internationaler Ebene geführt. Als mitglied des Expert committee on Human gene-tics der weltgesundheitsorganisation (wHo) war vogel mitautor eines bereits im Jahr 1964 erschienenen berichts über die fortschritte in genetik und Humangenetik. wer darin einen überblick über die aufsehenerregenden fortschritte in der klinischen zy-togenetik erwartete, wurde allerdings enttäuscht. Der bericht konzentrierte sich allein auf das Problem der „genetischen Last“. maßgeblich für diese schwerpunksetzung war ein neues Problembewusstsein. sowohl der generaldirektor der wHo marcolino gomes candau (1911-1983) als auch die Experten des Komitees betonten nachdrück-lich die veränderte Lebenssituation der menschen. Die menschliche umwelt würde sich immer schneller verändern und deshalb wahrscheinlich zunehmend auch Aus-wirkungen auf die genetische Entwicklung der bevölkerung haben.41 gemeint waren damit neben sozialen und kulturellen veränderungen, wie sie Populationsgenetiker und Eugeniker die längste zeit im 20. Jahrhundert beschäftigen, technisch bedingte Einflüsse, darunter an erster stelle die zunehmende Anzahl mutagener stoffe in der menschlichen umwelt. Es war vogel, der diesen Punkt in die beratungen eingebracht und zusammen mit röhrborn den entsprechenden berichtsteil verfasst hatte. Einige Jahre später, Anfang der 1970er Jahre, befasste sich die wHo erneut mit diesem Pro-blem. Die scientific group on Principles for the Testing and Evaluation of Drugs for mutagenicity beriet über die regulativen maßnahmen, die zu ergreifen waren, um die

38 vogel, röhrborn, 244.39 Kevles, Daniel J., In the name of Eugenics. genetics and the uses of Human Heredity, Harvard, Harvard university Press, 1995, 249; weingart, Peter, Jürgen Kroll, Kurt bayertz, rasse, blut und gene. geschichte der Eugenik und rassenhygiene in Deutschland, frankfurt, suhrkamp, 1992, 644-645.40 vogel, röhrborn, 244.41 world Health organization (Hg.), Human genetics and Public Health. second report of the wHo Expert committee on Human genetics. Technical report series, bd. 282, geneva 1964, 5 und 16.

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bevölkerung vor mutagenen stoffen zu schützen.42 Jetzt war es röhrborn, der gemein-sam mit einem Toxikologen der firma merck als deutscher vertreter an den beratun-gen teilnahm.43 Die Arbeit der wHo Expertengruppe entsprach ganz der in Heidelberg verfolgten strategie, über das Thema der Arzneimittelsicherheit die Problematik der chemischen mutagenese auf die Tagesordnung von gesundheitspolitik und gefahr-stoffregulierung zu bringen.

Auf die Alarmierung der Politik zielte auch die gesellschaft für umwelt-mutationsfor-schung (gum), die am 29. Januar 1971 in Heidelberg gegründet wurde. gründungs-mitglieder waren gunter röhrborn und der freiburger genetiker Hans marquardt (1910-2009) unter beteiligung von Hans marquardt und Ekkehart w. vogel, vom Hei-delberger Krebsforscher rudolf Preußmann (*1928) und mitarbeitern des Instituts für Humangenetik Heidelberg, u.a. vogel und Propping.44 Ende des Jahres 1971 zählte die gesellschaft bereits 150 mitglieder. 1973 wurde die gum in die 1970 als Ableger der Ems gegründeten European Environmental mutagen society (EEms) aufgenommen. Der Historiker scott frickel spricht angesichts der gründungswelle von toxikogeneti-schen gesellschaften von einer wissenschaftlichen bewegung, in der sich die evolu-tionsbiologischen und eugenischen bedenken der genetiker mit dem bewahrenden geist des umweltgedankens verbanden.45 ob dies auch für Deutschland zutrifft, sei dahingestellt, der schutz der bevölkerung vor mutagenen umweltchemikalien aber war das tragende ziel dieser „grünen Eugenik“.46

In der Entwicklung der grünen Eugenik kam es zu bezeichnenden internationalen un-terschieden. während die mutationsproblematik in den usA ab Anfang der 1970er Jahre im Problem der Krebsentstehung und -verursachung aufging, blieb in Deutsch-land die eugenische Problemstellung vorherrschend.47 bezeichnend dafür war zum beispiel die 4. Tagung der Ems, die 1974 unter der Präsidentschaft von röhrborn in Heidelberg stattfand. obwohl die Tagung am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKfz) abgehalten wurde, stand nicht die Krebsgefahr, sondern die eugenische ge-fahr im vordergrund – zumindest, was das Interesse der Tagungsleitung und der be-richterstattung betrifft. Die rhein-neckar-zeitung berichtete ausschließlich von den

42 Dfg-Archiv, Az 6037, sonderkommission für mutagenitätsfragen, ordner 6: Protokoll der sitzung der Kommission für mutagenitätsfragen am 21.4.1971, 3.43 world Health organization (Hg.), Evaluation and Testing of Drugs for mutagenicity: Principles and Problems. report of a wHo scientific group. Technical report series, bd. 482, geneva 1971, 4.44 Das ziel war insbesondere, den Austausch zwischen mutationsforschern, Toxikologen, Pharmakologen und Klinikern anzustoßen – weshalb der Krebsforscher Karl-Heinrich bauer zum Ehrenpräsidenten gewählt wurde. (Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 7: universität Heidelberg: Pressemitteilung forschung, 15.10.1971)45 frickel, consequences, 108-110.46 zu „green eugenics“ siehe frickel, consequences, 104-107.47 zu den usA siehe creager, Political Life, 285-306.

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bedrohungen für das menschliche Erbgut, nicht ohne die erforderlichen maßnah-men anzusprechen: „mutationsprophylaxe kann auch schon im heutigen stadium der noch jungen wissenschaft betrieben werden, um einem langsamen zerfall des genetischen Erbgutes der menschheit entgegen zu wirken.“48 Die berichterstattung sprach den Konferenzplanern aus dem Herzen. Die Humangenetiker sahen zwar das Krebsproblem; doch, wie vogel und Propping bei anderer gelegenheit zu Protokoll gaben, sei der genetiker „vor allem an denjenigen mutationen interessiert, die über die Keimzellen an die nächste generation weitergegeben werden“.49 In seiner rede anlässlich röhrborns Emeritierung hob vogel hervor, dass „für sie die frage, welchen Einfluss diese mutagene auf die gesundheit künftiger generationen haben, immer die höchste Priorität besessen“ hat.50

In diesem Kontext erhielt die pränatale Diagnostik, die zur selben zeit technische fortschritte machte, eine neue Dringlichkeit. Die Dfg-senatskommission für muta-genitätsfragen, zu deren sitzungen vogel wiederholt eingeladen wurde, befand die technischen fortschritte bei der pränatalen Diagnostik gerade im Hinblick auf die frage für wichtig, wie auf die mutagene bedrohungslage zu reagieren war. Die Amnio-zentese war Anfang der 1970er Jahre fast soweit ausgereift, dass sie in der Praxis ein-gesetzt werden konnte. Die senatskommission unterstützte deshalb bestrebungen, ein entsprechendes von der Dfg gefördertes schwerpunktprogramm einzurichten.51 zu diesem zweck initiierte sie außerhalb ihrer eigentlichen funktion zwei Tagungen unter dem generalthema „schutz des menschlichen genoms“, eine davon 1972 in Kooperation mit der gesellschaft für genetik.52

Anfang der 1970er Jahre konnte man von pränataler Diagnostik kaum sprechen, ohne das spannungsfeld zwischen Eugenik und klinischer genetik – das heißt, einer programmatisch auf den Einzelfall konzentrierten genetischen Diagnostik – herauf-zubeschwören, in dem sich die Humangenetik zu dieser zeit bewegte. vogel stellte deshalb 1971 auf dem Internationalen Kongress für Humangenetik in Paris heraus, dass bei der familienberatung nach Einwirkung mutagener noxen die „situation des individuellen beratungsfalles“ im zentrum stehen müsse und nicht die mögliche ge-

48 Thielepape, martina: chemikalien können das Erbgut schädigen, in: rhein-neckar-zeitung vom 22.5.1974.49 Propping, Peter, friedrich vogel, betrachtungen zum Problem der umweltbedingten mutationen beim menschen, in: Triangel 12 (1973), 49-56, hier 51. Die frage der carcinogenität diskutierte auch die senatskommission für mutagenitätsfragen der Dfg nur als sonderthema. (uAH, Acc 12 95-33: sitzung 5/73 am 3.10.1973 sowie Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 12: Kommissions-sitzung am 15./16.6.1973)50 vogel, röhrborn, 245.51 Dfg-Archiv, Az 33220, ordner 10: meyl an Klofat, 3.1.1972.52 Dfg-Archiv, Az 33220, ordner 10: Protokoll über sitzung am 3./4.12.1971, 2.

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fahr für die bevölkerung als ganzes.53 In anderen Kontexten definierten die Human-genetiker die ziele der Toxikogenetik aber sehr viel weiter. „mutationsprophylaxe“ sollte durch Einschränkung im gebrauch von mutagenen Arzneimitteln, aber auch durch Konzeptionsverhütung nach Anwendung von zytostatika betrieben werden.54 Der freiburger genetiker carsten bresch (*1921) diagnostizierte deshalb eine Diskre-panz in den zielen der Toxikogenetik. Die einen wollten vor allem „Defektgeburten“, „fehl- und missbildungen“ in der jetzigen generation verhindern, den anderen – und damit sprach er die Humangenetiker und insbesondere die Humangenetiker in Hei-delberg an – ginge es darum, die „menschliche Erbinformation“ vor der Ansammlung von „Defekten“, sprich mutationen, in zukunft zu schützen.55

Kooperation mit dem Zentrallaboratorium für Mutagenitätsprüfung (ZLM)Die bemühungen, die mutagenitätsprüfung zu institutionalisieren, nahmen Ende der 1960er Jahre konkrete formen an. Die us food and Drug Administration er-richtete 1968 eine eigene Abteilung für die Prüfung von substanzen auf mutagene wirkung. Deren Leiter marvin s. Legator schätzte die Arbeiten in Deutschland und insbesondere die in Heidelberg.56 In Deutschland nahm ein Jahr später die Dfg das zentrallaboratorium für mutagenitätsprüfung (zLm) in freiburg in betrieb. Als eine der wichtigsten deutschen forschungsorganisationen setzte die Dfg damit ein kla-res zeichen auf dem gebiet der noch in den Kinderschuhen steckenden chemika-lien- und umweltpolitik.57 Der Auftrag des zLm, Testmethoden für die Prüfung von substanzen auf mutagenität zu entwickeln, entsprach den forderungen vogels und röhrborns. Dennoch entwickelten sich zwischen Heidelberg und dem zLm schnell Konflikte, die bereits in der Planung des zLm angelegt waren.

Die Entstehung des zLm geht auf die frühen 1960er Jahre zurück, jenem bereits er-wähnten umweltpolitischen umbruchspunkt. schon das beispiel des Heidelberger Instituts für Humangenetik zeigt, dass die Dfg eine wichtige rolle bei der Trans-formation der strahlenforschung in die Toxikogenetik spielte. Im Dezember 1963 erhielt vogel seine erste sachbeihilfe für die „Erforschung der chemischen muta-

53 vogel, f., genetische familienberatung nach Einwirkung mutagener noxen, in: biologisches zentralblatt 91 (1972), 227-232, hier 127.54 Ebd., 231; vogel, röhrborn, schleiermacher, mutationen, 141.55 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 12: bresch: memo, 24.9.1973, 4.56 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 4: Druckrey an Dfg, 20.8.1968.57 schwerin, Dose, 401-418.

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genese beim menschen“ in Höhe von 67 200 Dm.58 Es ist nicht übertrieben, wenn man feststellt, dass die Dfg die mutagenese-forschung von vogel und seiner for-schungsgruppe in den folgenden Jahren nahezu komplett finanzierte. In kaum ei-nem Artikel fehlt der Hinweis auf die unterstützung durch die Dfg. Die von vogel und von röhrborn beantragten fördermittel summierten sich bis Ende der 1960er Jahre auf 1 023 043 Dm.59 Auch bei anderen forschungsvorhaben vogels war auf die Dfg verlass.

Dennoch lief im verhältnis zur Dfg nicht alles glatt. Der grund dafür lag in spannungen zwischen der aufstrebenden molekularbiologie und der Humangenetik. In persönli-chen Konflikten kamen diese spannungen zum Ausdruck – so zum beispiel in dem ei-sigen verhältnis zwischen vogel und dem mikrobiologen fritz Kaudewitz (1921-2001), das auf die gemeinsame zeit am berliner mPI zurückging. Die mPg hatte Kaudewitz 1960 zum nachfolger nachtsheims als Direktor des mPIvEE erkoren. nachtsheim und vogel erkannten darin zurecht eine forschungspolitische richtungsentscheidung zu-gunsten der im Trend liegenden molekulargenetischen forschung und gegen die zu-letzt nur noch von nachtsheim betriebenen säugetiergenetik.60 nach heftigen Ausei-nandersetzungen mit Kaudewitz fiel es vogel deshalb nicht schwer, die sich bietende gelegenheit zu ergreifen und den ruf nach Heidelberg anzunehmen.61

genau zur gleichen zeit entstanden in der Dfg überlegungen, sich intensiver mit dem Problem der chemischen mutagenese zu befassen und zu diesem zweck eine senats-kommission ins Leben zu rufen. sowohl Kaudewitz als auch vogel waren als Kom-missionsmitglieder im gespräch. Dabei war klar, dass man beide wegen „härtester gegensätze“ aus der gemeinsamen berliner zeit nicht an einen Tisch setzen konnte.62 wer die Entscheidung letztlich traf, geht aus den umfangreich überlieferten Akten

58 Dfg-Archiv, Einzelförderakte, vo 35. unter dem Titel waren nicht nur die erwähnten Erhebungen mittels Krankenakten sowie unter studierenden zu verstehen, sondern auch untersuchungen an modell-objekten wie mäusen. 59 Die unterstützung für die „Erforschung der chemischen mutagenese beim menschen“ wurde nach der 1. sachbeihilfe im Jahr 1963 (67 200 Dm) im rahmen des sPP missbildungsentstehung fortgesetzt. gezahlt wurden 1965 247 295 Dm, 1967 85 420 Dm und 1967 171 900 Dm. für das Projekt Einfluss von mutagenen auf das molekularbiologische verhalten von nucleinsäure in vivo und in vitro erhielt vogel im rahmen des sPP biochemische grundlagen der Populationsgenetik des menschen 1968 erstmals unterstützung in Höhe von 77 415 Dm, 1969 weitere 57 200 Dm. röhrborn erhielt für „genetische untersuchungen an der maus“ 1963 und 1964 zusammen 19 333 Dm (sowie für 1961 beantragte untersuchungen zur mutagenität 7 300 Dm). 1968 erhielt er in übernahme vogels Projektförderung zur „Erforschung der chemischen mutagenese“ 116 370 Dm für den unterhalt der mäusezuchten im rahmen des sPP biochemische grundlagen der Populationsgenetik des menschen, 1969 172 160 Dm für den Aufbau der versuchstierstämme und zytologische untersuchungen und 1970 weitere 8 750 Dm. (Dfg-Archiv, Einzelförderakten, vo 35, ro 165 und mu 216)60 sachse, neugründung, 43-44, zu den vorgängen insgesamt 38-45. 61 Auch Kaudewitz warf das Handtuch. Das mPI wurde daraufhin als mPI für molekulare genetik im Jahr 1964 mit einer komplett neuen führungsriege wieder eröffnet. siehe sachse, neugründung, 41-42. vgl. auch den beitrag von cottebrune in diesem band.62 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 1: marquardt an schiel, Dfg, 19.2.1964; ebd.: Dr. schi/K.: vermerk, 20.2.1964.

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der Dfg-verwaltung nicht hervor. fest steht, dass vogel auf einem Treffen im februar 1964, auf dem eine Handvoll genetiker die weichen für die Arbeit der Kommission stellten, fehlte. Im sommer des Jahres berief der senat der Dfg die Kommission für mutagenitätsfragen ein, die umgehend ihre Arbeit – ohne vogel – aufnahm.63

was nur nach persönlichen Animositäten aussah, hatte grundsätzliche Differenzen in der zielsetzung und im technischen vorgehen bei der mutagenitätsprüfung zum Kern. Der Angelpunkt, um den sich dabei alles drehte, war die von den Humangenetikern präferierte säugetiergenetik. mikro- und molekularbiologen hielten die säugetierge-netik dagegen für generell überholt und bei der Prüfung auf mutagenität für über-flüssig. zwar hatte die mutagenitätskommission mit dem freiburger Humangenetiker Helmut baitsch (1921-2007) einen vorsitzenden, der sich wie das Kommissionsmit-glied marquardt für säugetierversuche aussprach, baitsch und marquardt blieben aber zu unentschieden, so dass die Kommission in ihren Planungen für ein künftiges forschungs- bzw. Testzentrum auf eine mikrobiologisch ausgerichtete strategie setz-te. Das Hauptargument war, dass mikrobiologische objekte – ob Hefen, bakterien oder auch zellkulturen – billig und effizient seien. Eine Prüfungsgruppe, darunter der Humangenetiker Peter Emil becker (1908-2000), die die Arbeit der Kommission eva-luierte, kritisierte diese vorentscheidung und forderte, dass die Planungen eine spä-tere Erweiterung um eine Abteilung für Kleinsäugergenetik berücksichtigen sollten.64 Diese forderung war leicht zu erfüllen, da die Dfg im Auftrag der Kommission bereits ein zum baugelände in freiburg benachbartes grundstück gesichert hatte.65 Die ho-hen mehrkosten für die Errichtung einer Abteilung für säugetiergenetik, so fügte man aber abwiegelnd hinzu, könnten eingespart werden, wenn die Dfg die kostspieligen untersuchungen in Heidelberg weiter unterstütze.66 Dieser Kompromiss öffnete den Heidelbergern die Tür in die senatskommission; denn baitsch setzte sich von nun an beharrlich dafür ein, dass die mutagenitätskommission die Heidelberger Arbeits-gruppe offiziell in ihre Planungen und Arbeit einbezog.67

63 schwerin, Dose, 404. Die Kommission für mutagenitätsfragen wurde im Jahre 1964 in folgender personeller zusammensetzung vom senat berufen: Helmut baitsch, reinhard w. Kaplan, fritz Kaudewitz, Herbert Lüers, Arthur Lüttringhaus, Hans marquardt, Peter starlinger. Im Jahr 1969 kooptierte die Kommission PD Preußmann, im Jahr 1970 röhrborn und werner schmid. Im Juni 1971 berief der senat die Kommission neu mit carsten bresch, rudolf L. Hausmann, winfried Krone, Diether neubert, Preußmann, röhrborn, schmid und Heinz günter wittmann (Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 7: besprechungsunterlage zu Punkt 5 der To für die 70. sitzung des senates am 30.6.1971; ebd.: Auszug aus dem Protokoll über die 70. sitzung des senates am 30.6.1971). für weitere Details siehe schwerin, Dose, 405.64 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 2: niederschrift über die sitzung der Prüfungsgruppe am 3.2.1966, 3-4.65 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 1: niederschrift der konstituierenden sitzung der Kommission für mutagenitätsfragen am 14.11.196, 9-10.66 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 2: vorlage für HA am 16.7.1966: Az. mu 216/1, 6-7.67 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 2: Dr. schi/Ko: vermerk, 4.3.1966.

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Die Kooperation zwischen dem zLm in freiburg bzw. der mutagenitätskommission der Dfg und der Arbeitsgruppe in Heidelberg kam nur langsam in gang. zu röhrborns finanzierungsantrag für den unterhalt der Heidelberger mäusezuchten notierte die Dfg Ende 1968, dass eine Arbeitsteilung mit dem zLm in freiburg vereinbart sei.68 Im oktober 1969 hatte röhrborn seinen ersten Auftritt im Kontext der Dfg mutage-nitätskommission anlässlich eines von der Dfg veranstalteten wissenschaftlichen symposiums zur Einweihung des zLm in freiburg. Das symposium und vor allem die anschließende Pressekonferenz blieben nicht nur der Dfg in unangenehmer Er-innerung. Die Konfrontation der mutationsforscher mit kritischen und hartnäckigen Pressevertretern stellt einen markstein in der Herausbildung einer umweltpolitisch kritischen öffentlichkeit dar. Die demonstrierte uneinigkeit zwischen röhrborn und Kaudewitz bot dabei allen grund für bohrende nachfragen zu den Erfolgsaussich-ten des zLm. „Daß es taktisch falsch ja geradezu naiv war, die heftig ausgetragene Kontroverse innerhalb der Kommission für mutagenitätsfragen – hier bakterienge-netiker (Kaudewitz e.g.), für die Dns gleich Dns ist, und hier Humangenetiker (röhr-born e.g.), für die der säugermetabolismus stets der ausschlaggebende faktor des relevanzproblems war – auch noch in einem (publizierten!) Journalistengespräch (anläßlich der Eröffnung des zLm) an die breite öffentlichkeit zu tragen, wissen wir heute alle.“69

noch im selben Jahr entsandte der Dfg-senat röhrborn als neues mitglied in die se-natskommission, so dass er schon Anfang 1970 an den weiteren, für die zukunft des zLm entscheidenden beratungen teilnahm.70 verbunden damit war ein vorläufiger Kompromiss in der frage der säugetiergenetik. Die Aufstellung einer eigenen Arbeits-gruppe und die Errichtung finanziell aufwändiger ställe und Labore für Kleinsäuger wurde erneut verschoben, die Heidelberger Arbeitsgruppe dafür unmittelbar in das Testprogramm des zLm integriert. vogel beharrte zwar darauf, dass das zLm auf ab-sehbare zeit selbst routinetests an säugetieren durchführen müsse, die Kooperation sicherte aber vorerst die mitsprache in den Angelegenheiten des zLm.

Die finanzierung der Heidelberger Arbeiten und des mäuselaboratoriums lief damit ab 1970 über die finanzierung des zLm und war gegenstand der beratungen in der mutagenitätskommission. vogel verfügte in Heidelberg inzwischen über eine große und moderne mäusezuchtanlage, für die die volkswagen-stiftung 250 000 Dm bewil-

68 Dfg-Archiv, Einzelförderakten, ro 165: schwerpunktliste für ro 165/7.69 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 10: Dr. yl/sp: vermerk, 23.10.1972.70 siehe fußnote 67.

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ligt und die universität 400 qm versuchstierraum zur verfügung gestellt hatte.71 Den täglichen betrieb betreuten zwölf technische Assistentinnen und Assistenten.72 für die mutagenitätskommission war es darüber hinaus günstig, dass die Kosten für die aufwändige Tierhaltung ab Anfang der 1970er Jahre über den von vogel verantworte-ten sonderforschungsbereich (sfb) 35 (Klinische genetik) abgedeckt waren.73 umge-kehrt brachte die zuchtanlage die Heidelberger in eine komfortable verhandlungspo-sition. bei den neuverhandlungen der Kooperation zwei Jahre später vermerkte das Protokoll, dass die Heidelberger zur weiteren Kooperation gebeten werden mussten und dass zur zeit kein anderes Institut in der bundesrepublik über die technischen Er-fahrungen von röhrborns Arbeitsgruppe verfüge und derartige routinetests am säu-getier durchführen könne.74 Er wäre froh, zierte sich röhrborn, wenn man in Heidel-berg diese routineuntersuchungen nicht durchführen müsste und sich stattdessen voll den forschungsarbeiten im rahmen des sfb widmen könnte.

mit beginn der formalen Kooperation übernahm es die Heidelberger Arbeitsgruppe, in Absprache mit der mutagenitätskommission ausgewählte substanzen an säugern zu testen.75 geprüft wurden vor allem solche stoffe, die in zellkulturen und niederen organismen mutagene Eigenschaften gezeigt hatten und die wegen ihrer verbreitung eine ernste bedrohung darstellten.76 zum Einsatz kam vor allem die dominante Letal-mutationsmethode, die zu den weniger aufwändigen Prüfmethoden mit säugetieren gehörte. Teil der Absprache war auch die Entwicklung und Testung von neuen Prüfme-thoden.77 so übernahm es röhrborn, den in den usA entwickelten „host-mediated as-say“, der die Effizienz der mikroorganismen-Tests mit der Aussagekraft von säugetier-Tests kombinieren sollte, auf seine Tauglichkeit zu prüfen. von 1972 an untersuchten die Heidelberger auch zytogenetische In-vivo-Testmethoden.78

71 Dfg-Archiv, Az 33220, ordner 5: vogel an Dahls-odenthal, 21.12.1970; Dfg-Archiv, Einzelförderakten, ro 165: schwerpunktliste für ro 165/7, 10.72 Dfg-Archiv, Einzelförderakten, ro 165: schwerpunktliste für ro 165/7, 10; Dfg-Archiv, Az 33220, ordner 5: Institut für Anthropologie und Humangenetik, Arbeitsgruppe PD röhrborn, stellenbesetzung.73 Dfg-Archiv, Einzelförderakten, ro 165: schwerpunktliste für ro 165/13, 5.74 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 10: Protokoll über die besprechung des Antrags ro 165/13, 12.6.1972. Ein gutachter nahm einen ganz ähnlichen Hinweis von röhrborn 1973 zum Anlass herauszustellen, dass es ein opfer für einen kreativen wissenschaftler bedeute, solche routineaufgaben zu übernehmen (Dfg-Archiv, Einzelförderakten, ro 165: Hauptausschussliste für ro 165/16, 19).75 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 4: Protokoll sitzung der Kommission für mutagenitätsfragen am 24.4.1970, 7.76 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 5: röhrborn an Dfg, 11.5.1970.77 Der Hauptausschuss der Dfg bewilligte 1970 auf zwei Jahre 145 000 Dm für die „[r]outinemäßige mutagentiätsprüfung in der Dominanten Letalmethode“, 1972 für die Prüfung verschiedener Tests auf ein Jahr 159 650 Dm, 1973 für ein weiteres Jahr 193 159 Dm. 1971 bewilligte der Hauptausschuss auf zwei Jahre 122600 Dm für die „routinemäßige mutagentiätsprüfung im ‚host-mediated assay‘“, 1973 ergänzt um 18 100 Dm (Dfg-Archiv, Einzelförderakten, ro 165).78 Dfg-Archiv, Einzelförderakten, ro 165: schwerpunktliste für ro 165/13, 5-6.

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Säugetiere versus MikrobenDie mutagenitätskommission entpuppte sich indes als ein „sack flöhe“, wie es in der Dfg-geschäftsstelle hieß.79 Die Humangenetiker ließen in der Diskussion um die säugetiergenetik nicht locker. marquardt, inzwischen deutscher vorsitzender der neu gegründeten European Environmental mutagen society (EEms), machte darauf auf-merksam, dass „sowohl in der Industrie wie von anderer seite Prüfungen auf mutage-nität nur dann voll anerkannt werden, wenn säugetiertests durchgeführt werden“.80 röhrborn habe die so genannte Dominante Letalmethode so weit ausgebaut, dass sie nun als Prüfsystem Anwendung finden könne. Die methode werde insbesonde-re bei der bestimmung von maximal zulässigen Dosen und Konzentrationen unent-behrlich sein. marquardt regte an, röhrborn mit seiner gesamten Arbeitsgruppe nach freiburg zu transferieren und auf diese weise ein für Europa vorbildliches Prüfinstitut für genetische Aktivität von umwelt-chemikalien zu schaffen. für röhrborn kam ein solcher schritt zwar nicht in frage; er argumentierte aber im gleichen sinne, als er von der Ems-Tagung in washington berichtete, dass man sowohl in den usA als auch bei der wHo Ergebnisse von mutagenitätstests ohne säugertests nicht anerkennen wolle.81 Das blatt schien sich im sinne der Heidelberger Humangenetiker zu wenden.

vom 11. bis 14. Januar 1971 stand eine Klausurtagung zu dem für das zLm existen-tiellen methodenproblem an. nach vier Tagen Diskussion vermeldeten die Kontra-henten schließlich einen Durchbruch, den man auf einer folgetagung im februar konkretisierte.82 Der Hauptausschuss der Dfg befürwortete den fertigen Plan, der immer noch einen Kompromiss darstellte, nun aber vorsah, die vier gastlaboratorien des zLm zu einer säugerabteilung umzubauen, die Abteilung für zellkulturen perso-nell zu verstärken und röhrborn für die Entwicklung neuer methoden institutionell stärker einzubinden.83 In der geschäftsstelle der Dfg freute sich die zuständige re-ferentin Dagmar Dahs-odenthal, damit seien trotz fortdauernder meinungsverschie-denheiten zwischen den mikrobengenetikern und den Humangenetikern endlich die überfälligen Konsequenzen aus dem Einweihungssymposium zwei Jahre zuvor gezo-gen worden.84

79 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 12: bresch handschriftlich auf dem Protokollentwurf für sitzung am 3.10.1973.80 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 6: marquardt an schiel, 10.8.1970.81 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 4: Protokoll sitzung der Kommission für mutagenitätsfragen, 24.4.1970, 4 und 9. Die wHo wurde verschiedentlich bemüht, um die notwendigkeit der säugetiergenetik zu untermauern (siehe auch Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 5: Antrag röhrborn sowie Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 10: Protokoll über die besprechung des Antrags ro 165/13, 12.6.1972).82 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 6: Protokoll zur Arbeitstagung „Entwicklung und methoden“ am 18.2.1971.83 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 7: besprechungsunterlage zu Punkt 5 der Tagesordnung für die 70. sitzung des senats am 30.6.1971, 2.84 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 6: Dr. D./wo.: vermerk, 26.1.1971.

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bewegung kam auch in anderer Hinsicht in die bemühungen der Heidelberger. 1972 berief der bundesforschungsminister acht mutationsforscher in einen Ad-hoc-Aus-schuss chemogenetik, darunter röhrborn. Der Ausschuss, in dem säugetiergenetiker das sagen hatten, sollte ein mutationsgenetisches forschungsprogramm erarbeiten. röhrborn übernahm die Koordination der Entwicklung und standardisierung zytoge-netischer Tests, eine Aufgabe, die sich mit seinen Arbeiten für das zLm gut vereinba-ren ließ.85 Der Arbeitskreis zytogenetik machte sich unter beteiligung von Industriela-boren ab november 1972 ans werk.

Im zLm in freiburg kamen allerdings die Dinge gemäß der vereinbarung auf der Klau-surtagung nicht in gang. Einige Kommissionsmitglieder machten dafür ungleiche Kräfteverhältnisse in der Kommission verantwortlich.86 Denn, um den umbildungspro-zess des zLm zu unterstützen, berief der Dfg-senat im Juni 1971 die Kommission neu. Die Dfg-geschäftsstelle nutzte die gelegenheit, die alten rivalitäten zu entschärfen: röhrborn blieb, Kaudewitz ging.87 neuer vorsitzender der Kommission wurde jedoch der freiburger genetiker carsten bresch, der sich äußerst gewissenhaft und mit kla-ren vorstellungen ans werk machte. bresch setzte aus grundsätzlichen Erwägungen auf schnelle und effiziente routineprüfungen – und damit auf mikroorganismen. Die Dfg solle sich auf die Aufgabe beschränken, mit schnelltests auf problematische stoffe aufmerksam zu machen – mehr verantwortung könne die wissenschaft unter den gegebenen bedingungen nicht übernehmen.88 breschs Trumpf war ein neues Testverfahren, das der amerikanische mikrobiologe bruce Ames (*1928) entwickelt hatte. Der so genannte Ames-Test galt als schnell, billig und aussagekräftig und fand in den usA rasch verbreitung.89 bresch bezog sich ebenfalls auf das vorbild usA. un-ter dem Eindruck der neuen methode habe sich auf der ersten internationalen Tagung über umweltmutagene 1973 im kalifornischen Asilomar gezeigt, dass man in den usA inzwischen wieder bakterien als Testorganismen favorisiere und säugetiertests nur in Ausnahmefällen durchführen wolle.90

Die bestrebungen, die säugetiergenetik im großen stil für die mutagenitätsprüfung zum Einsatz zu bringen, traten damit wieder auf der stelle, und die Heidelberger mussten sich erneut in den ring werfen. um wieder in die offensive zu kommen, ver-fassten vogel, röhrborn und Hansmann für die Kommissionssitzung im frühsommer

85 Dfg-Archiv, Az 33220, ordner 8: Protokoll der sitzung des ad hoc-Ausschusses „chemogenetik“ am 30.6.1972, 4.86 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 13: neubert an schiel, 8.11.1974.87 siehe fußnote 67.88 schwerin, Dose, 410-411.89 creager, Political life.90 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 12: mohn in Protokoll der sitzung am 3.10.1973, 3.

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1973 eine Denkschrift.91 sie griffen darin die harsche Kritik des Toxikologen Dietrich Henschlers (*1924) auf, die dieser schon zwei Jahre zuvor auf der versammlung der gesellschaft Deutscher naturforscher und Ärzte vorgebracht hatte. Henschler verfügte als vorsitzender der so genannten mAK-Kommission über ein gewichtiges wort in der Dfg.92 Die mAK-Kommission machte auf dem gebiet des Arbeitsschutzes im grunde das, woran die mutagenitätskommission bislang scheiterte: grenzwerte für toxische substanzen ausarbeiten und damit die konkrete grundlage für die staatliche regulie-rung von gefahrstoffen schaffen.93 Henschlers apodiktisches urteil, dass Prüfmetho-den an „Primitivorganismen“ für die risiko-beurteilung „völlig unbrauchbar“ seien, hatte in der Dfg bereits einige Aufregung ausgelöst.94 Auch vogel, Hansmann und röhrborn übten sich jetzt in Klartext und deklinierten durch, in welchen Dimensionen man denken musste, wenn man die Prüfung von stoffen auf ihre gefährlichkeit für den menschen gewissenhaft durchführen wollte. Die Dfg-geschäftsstelle errechnete, dass ihre forderungen auf „die größe eines mittleren max-Planck-Institutes“ hinaus-liefen.95 Die Kommissionssitzung am 15. und 16. Juni 1973, auf der diese fragen dis-kutiert wurden, verlief entsprechend lebhaft. bresch, verstärkt durch einige Kommis-sionsmitglieder, stand röhrborn und Preußmann gegenüber. röhrborn drohte zwi-schenzeitlich mit Austritt aus der Kommission, bresch mit dem rücktritt vom vorsitz.96 bresch stimmte den Heidelbergern in einem Punkt zu: Die größenordnung des zLm war im vergleich zu Einrichtungen in den usA „lächerlich“ klein.97 Die Kommissions-sitzung brachte zwar nicht die Entscheidung, besiegelte aber im grunde schon das Aus der säugetiergenetik am zLm.

Die forderungen der Heidelberger überstiegen bei weitem die möglichkeiten der Dfg. breschs Alternativvorschlag, billigen Testsystemen mit mikroorganismen den vorzug zu geben, war dagegen praktikabel. Es war deshalb letztlich der Dfg-Haushaltskasse geschuldet, dass die wissenschaftliche Kontroverse schließlich noch im Laufe des Jahres 1973 zugunsten breschs vorschlag entschieden wurde.98 Das zLm sollte sich in zukunft auf die funktion beschränken, mit relativ einfachen Tests eine größere Anzahl von stoffen auf verdachtsmomente zu screenen und damit eine „Initialzündung“ zu

91 später veröffentlicht als vogel, röhrborn, Hansmann, Testung.92 mAK steht für das im Arbeitsschutz gebräuchliches grenzwertkonzept der maximalen Arbeitsplatz-Konzentration. 93 bächi, Krise, 419-435.94 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 7: Henschler an speer, Dfg, 16.6.1971; Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 10: Henschler: manuskript, o.D.95 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 14: Klofat: vermerk, 23.1.1975.96 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 12: Dr. Kt/hat: vermerk, 19.6.1973.97 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 12: Protokoll der sitzung am 3.10.1973, 8.98 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 12: Protokoll der sitzung am 3.10.1973, 8; Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 13: Protokoll der sitzung am 21.1.1974, 5 und 15-16.

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geben, aber alles weitere den verhandlungen zwischen Industrie und Politik zu über-lassen. Eine Testbatterie aus einem bakterientest, einem mikrokerntest und einem Test mit Drosophila wurde für ausreichend befunden.

Die Politik von TestsystemenDie frage der säugetiergenetik war im zLm vom Tisch. bresch standen indes noch schwere zeiten bevor, denn letztlich sollte das zLm auch in seiner Impulsgeberfunk-tion nicht mehr auf die beine kommen. In Heidelberg fand im mai 1974 die Jahresta-gung der europäischen sektion der Ems statt, gesponsert von Dfg und Industrie. Das übergewicht an vorträgen zum gebiet der säugetiergenetik spiegele, so sah es röhr-born, einen internationalen Trend.99 Etwa zeitgleich endete die Kooperation der von röhrborn geleiteten Heidelberger Arbeitsgruppe für mutagenitätsforschung mit dem zLm, da röhrborn als neuer Direktor des Instituts für Humangenetik nach Düsseldorf wechselte. Als neuer vorsitzender der gum, die über wichtige Einflussmöglichkeiten in der Politik verfügte, suchte röhrborn nun an Dfg und zLm vorbei die geschicke der Toxikogenetik in Deutschland zu beeinflussen. zu einem von röhrborn organisierten Treffen im bundesforschungsministerium waren zwar auch bresch und die Dfg gela-den, diese kamen aber nicht zum zuge.100 Auf diese weise gelang es, die aufwändige und kostenintensive säugetierforschung weiter im spiel zu halten – gegenläufig zu den Entwicklung in den usA.101 röhrborn erhielt 1991 das bundesverdienstkreuz 1. Klasse für seine Arbeiten.

Die berufung von röhrborn nach Düsseldorf besiegelte in Heidelberg das Ende der toxikogenetischen Arbeitsrichtung. vogel war sich bewusst, dass ein universitäts-Institut mit begrenzten mitteln nicht schritt halten konnte mit den Entwicklungen auf dem gebiet der Toxikogenetik.102 Die Dfg indes berief vogel 1975 in einen neu ge-schaffenen wissenschaftlichen beirat, der die Entwicklung des zLm nach Auflösung der mutagenitätskommission und nach Einsetzung von bresch als Leiter des zLm be-ratend begleiten sollte.103 Anfang der 1980er Jahre übernahm vogel schließlich die undankbare Aufgabe, das zLm abzuwickeln.

Die wissenschaftliche Kontroverse um das richtige vorgehen bei der Prüfung von stoffen und substanzen auf mutagenität war damit noch lange nicht beendet. Die

99 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 13: buselmaier u. röhrborn an Dfg, 14.10.1974.100 Dfg-Archiv, Az 6037, ordner 14: Klofat: vermerk, 7.5.1975.101 roll, mutagenitätsprüfungen, 328.102 vogel, Institut, 10.103 uAH, Acc 12 95-40: Anlage in: maier-Leibnitz an mitglieder des Hauptausschusses, 5.1.1977, 12.

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Episode der Heidelberger mutagenitätsforschung und ihrer konfliktreichen begeg-nung mit mikrobengenetikern liefert jedoch in vielerlei Hinsicht Anschauungsmate-rial. Hervorzuheben ist, dass die Auseinandersetzung über das technische für und wider von säugetiertests untergründig mit politischen zielsetzungen in der frage der mutationspolitik korrespondierte. Die Heidelberger Humangenetiker plädierten strikt für säugetiertests, weil nur diese mit sicherheit ausschließen konnten, dass die Keimbahn gefährdet war. Die genetische belastung der gesamtbevölkerung war für die Humangenetiker der maßstab, der jeden Aufwand und alle wissenschaftliche gründlichkeit bei der mutagenitätsprüfung rechtfertigte. vor diesem Hintergrund ist die These, dass in den 1970er Jahren das Paradigma einer „autoritären Eugenik“ zu-gunsten einer medikalisierten, „demokratischen Humangenetik“ verschwand, deren maßstab das Individuum war, kritisch zu hinterfragen.104 Das epistemische Interesse der humangenetischen forschung war und blieb der genetische bestand der bevölke-rung, ein abstrakter, aber unter den bedingungen massenkonsumgesellschaftlicher mutationsgefahren politisch anschlussfähiger bezugsrahmen. In die Praxis gewendet resultierte daraus eine „grüne Eugenik“, die zum einen ein wichtiges Argument im ringen um eine verbesserte chemikalienregulierung war und die zum anderen den Individualbezug der klinischen genetik in frage stellte.

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104 zur dieser These siehe weingart, Kroll, bayertz, rasse, 664-668.

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4.3. vErHALTEnsgEnETIK unD ELEKTroEnzEPHALogrAPHIE: frIEDrIcH vogELs grunDLAgEnforscHung für EInEn gEnETIscHEn HumAnIsmus1 Cornelius Borck

Es war eine ungewöhnliche frage, der sich friedrich vogel in seiner 1957 eingereich-ten Habilitationsschrift widmete: Die Erblichkeit des normalen Elektroenzephalo-gramms.2 waren nicht Erbkrankheiten die klassischen forschungsgegenstände der medizinischen Anthropologie und Humangenetik? und liegt nicht bis heute der schwerpunkt ebenso wie der überwältigende Ertrag ihrer forschungen bei der Identi-fikation von genetischen Pathologien bzw. von mit einem erhöhten Erkrankungsrisi-ko assoziierten genen? was kann es demgegenüber bedeuten, die Erblichkeit eines normalen befundes zu erforschen, wie lassen sich überhaupt die im Elektroenze-phalogramm (EEg) aufgezeichneten rhythmischen schwankungen der elektrischen Hirnaktivität mit Erblichkeit in verbindung setzen bzw. welchen Ertrag kann man sich davon versprechen? was hier auf den ersten blick als ein eher akademisches spezia-lisierungsthema erscheinen mag, entpuppt sich bei näherer betrachtung nicht nur als Auftakt zu einem Leitthema von vogels forschungen, sondern als Kern der von ihm avisierten neupositionierung der genetik als schlüsseldisziplin einer ebenso huma-nistisch inspirierten wie naturwissenschaftlich fundierten selbstaufklärung des men-schen. was vogel zur verklammerung von verhaltensgenetik und Elektroenzephalo-graphie veranlasste, war seine vision eines genetischen Humanismus. Diese vision war seine Antwort auf die im namen der Eugenik exekutierte mörderische biopolitik während des nationalsozialismus – aber zur sprache konnte er das erst bringen, als er am Ende seiner beruflichen Laufbahn beim weltkongress für Humangenetik in ber-lin den Hauptvortrag hielt.

Vogels Forschungen zum EEG im Überblickbereits ein rascher blick auf die veröffentlichungen von vogel verdeutlicht, wie wich-tig ihm die Elektroenzephalographie als forschungsgebiet war: bereits im unmittel-baren umfeld der Habilitation hatte er über das Hirnstrombild gesunder Jugendlicher bzw. über familienuntersuchungen zum EEg sowie speziell zur genetik von b-wellen publiziert.3 1979 schloss sich eine große dreiteilige studie über das EEg als for-

1 Ich danke Anne cottebrune für die unterstützung bei den recherchen und Eberhard schwinger für wertvolle Hinweise.2 vogel, Erblichkeit.3 vogel, wendt, Hirnstrombild und Konstitution, 299-311; vogel, götze, familienuntersuchungen, 668-700; vogel, genetik der �-wellen, 137-173.

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schungsinstrument in der verhaltensgenetik an,4 auf die er am Ende seiner aktiven berufstätigkeit in den 1990ern wieder zurückkam, als mit der automatisierten EEg-Analyse neue Auswertungsverfahren möglich geworden waren.5 schließlich stellte vogel im Jahr 2000 die forschungen auf diesem gebiet nochmals in der monographie genetics and the Electroencephalogram zusammenfassend dar – dem letzten buch, das er veröffentlichte.6 ohne vogels Leistungen auf anderen gebieten in Abrede zu stellen, kann man also von einem Lebensthema sprechen, dem er sich früh widmete, dem er trotz seines breiten forschungsspektrums die Treue hielt und bis ans Ende sei-nes wirkens einen großen stellenwert einräumte. und so sah er es wohl auch selbst, zumindest wählte er dieses Thema für seine Abschiedsvorlesung „Theorie – metho-de – Erkenntnis“ im Jahr 1994. Die vorlesung trug den untertitel: „Der fortschritt der humangenetischen methoden im Laufe von 40 Jahren, dargestellt an der genetischen Analyse des menschlichen Elektroenzephalogramms (EEg)“.7

Stufen der Verklammerung von Genetik und ElektroenzephalographieDer Kontinuität in der beschäftigung mit dem EEg beinahe über das gesamte Lebens-werk entsprach eine erstaunliche stringenz in der Abfolge einzelner stufen. Am be-ginn stand mit der Habilitation eine klassische studie der zwillingsforschung, in der er die EEgs von eineiigen und zweieiigen zwillingen miteinander verglich.8 vogel war vermutlich durch die EEg-studien seines Lehrers Hans nachtsheim mit dieser for-schungsmethode vertraut; darüber hinaus ist es durchaus wahrscheinlich, dass eine noch ältere beobachtung aus der Literatur zum Ausgangspunkt für seine eigenen for-schungen wurde, die bis dahin eigentlich eher als ein Kuriosum gegolten hatte: EEg-Kurven zeigten komplexe, sich fortwährend verändernde Potenzialschwankungen, die nicht leicht zu deuten waren – ganz anders als die regelmäßige Kurve des Elekt-rokardiogramms. Aber dennoch gelang es einem geübtem beobachter, zwei verschie-dene registrierungen ein und desselben Probanden aus einem stapel von Kurven he-rauszufinden.9 offenbar vermutete vogel in dieser überraschenden Individualität von EEg-Kurven ein genetisches muster und wählte die methode der zwillingsforschung zur überprüfung dieser Hypothese. gleich in seiner ersten studie untermauerte vogel nämlich diesen frühen befund der EEg-forschung und konnte in seiner Habilitation

4 vogel, schalt, Krüger, Propping, Lehnert, Electroencephalogram, 1-45; vogel, schalt, Krüger, Electroencephalogram (EEg), 47-80; vogel, schalt, Electroencephalogram (EEg) as a research tool, 81-111.5 Anokhin, steinlein et al., low-voltage electroencephalogram, 99-112; Anokhin, vogel, EEg alpha rhythm frequency analysis 1-14.6 vogel, genetics and the electroencephalogram.7 vogel, Theorie – methode – Erkenntnis, 41-67.8 vogel, Erblichkeit.9 Travis, gottlober, brain waves, 532-533.

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eindrucksvoll bestätigen, dass die EEg-Kurven von eineiigen zwillingen von dersel-ben Ähnlichkeit waren wie zwei EEg-Kurven von einem Probanden zu verschiedenen zeiten. zweieiige zwillinge hingegen zeigten wie geschwister unterschiedliche EEgs, die sich kaum ähnlicher waren als willkürlich gewählte Kurven. Damit war für vogel bewiesen, dass die Kurven im EEg trotz ihrer komplexen muster und ihrer ungeklär-ten neurophysiologischen genese erblich geprägt waren. vogel wiederholte dabei sogar das alte zuordnungsspiel (und kam auch später in vorträgen für ein breiteres Publikum gern darauf zurück): Aus seinem Kurvenstapel ließen sich die EEg-Kurven der eineiigen zwillingspaare ebenso korrekt identifizieren wie zuvor am beginn der EEg-forschungen die registrierungen eines Probanden zu zwei verschiedenen zeit-punkten.10

gleich die nächste studie ergänzte die zwillingsstudie um die familienforschung. Auf den nachweis der Erblichkeit folgte damit die suche nach dem vererbungsmuster. Tatsächlich fand vogel eine reihe von physiologischen EEg-varianten, für die er einen mendelschen Erbgang nachweisen konnte.11 Diese studien hatte vogel noch in ber-lin durchgeführt, wo er über die schulbehörde zugang zu zwillingspaaren bekommen hatte. nach seiner berufung nach Heidelberg sicherte er sich den zugriff auf große, gesunde Kollektive durch beteiligung an den flugmedizinischen untersuchungen der bundeswehr. später, als aus den untersuchungen zur „verhaltensontogenie und verhaltensgenetik“ ein Dfg-schwerpunkt bzw. sonderforschungsbereich geworden war, ergänzte er diese serien um untersuchungen an gesunden studierenden, wobei er nun auch geschlechterunterschiede untersuchte.12 mit dieser materialbasis, also nach dem beweis der Erblichkeit des EEg und der Identifikation von verschiedenen EEg-Phänotypen, konnte er endlich zum Kern seiner verhaltensgenetischen studien vorstoßen: Die suche nach Korrelationen zwischen den von ihm entdeckten EEg-vari-anten und Persönlichkeitstypen, wie sie sich in einschlägigen psychologischen Tests und psychophysiologischen reaktionsmustern unterscheiden ließen. Diese komple-xen studien, die genetik, Psychologie und Hirnforschung miteinander verknüpften, führte er in den 1970ern zunächst an den bundeswehrangehörigen bzw. deren fami-lien durch, später wiederholte er sie an den studierenden und erweiterte die serie

10 In einigen fällen war ein zweiter versuch erforderlich, aber nur weil diese Kurven zufällig auch anderen ähnlich gewesen waren. noch dort, wo keine strenge Ähnlichkeit vorlag, galt ihm dies nicht als gegenargument gegen die Erblichkeit des EEg, sondern vielmehr als ein Hinweis auf eine durchgemachte Hirnschädigung des einen zwillings (was sich biographisch bestätigen ließ) – und damit eine bestätigung für die These.11 vogel, götze, familienuntersuchungen, 668-700. beim sogenannten niederspannungstyp mit nur schwach ausgeprägten Alpha-wellen vermutete vogel einen autosomal-rezessiven Erbgang, bei der fronto-präzentralen beta-Dominanz einen autosomal-dominanten.12 friedl, vogel, ruhe-EEg, 115-122; ruchalla, schalt, vogel, mental performance, 189-205. zur förderung humangenetischer forschung im rahmen von Dfg-schwerpunktprogrammen vgl. cottebrune, Der planbare mensch, 288-292.

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um ähnliche untersuchungen an speziellen weiteren gruppen wie z.b. Alkoholiker-familien.

Diese stete Ausweitung der EEg-studien von der zwillingsforschung auf die normvari-anten bei den flugschülern der bundeswehr und deren familienangehörige, die stu-dierenden und schließlich immer weitere Kollektive auf der suche nach spezifischen EEg-mustern wurde nicht zuletzt dadurch möglich, dass vogel mit seiner berufung nach Heidelberg die untersuchungen zu feldforschungen umgestaltete. Dazu ließ er sich eigens einen vw-bus zu einem mobilen EEg-Labor umrüsten, so dass er auf im-mer weiteren Touren seine Probanden aufsuchen konnte, anstatt alle in sein Labor einbestellen zu müssen.13 Die neue genetik kam buchstäblich zu den menschen, für die sie sich interessierte, – so wie später vogel seinen genetischen Humanismus in öffentlichen Diskussionsrunden, allgemeinbildenden vorträgen und radiosendun-gen immer größeren Kreisen nahezubringen suchte. Eine unermüdliche Hilfe war da-bei seine langjährige technische Assistentin Edda schalt, die vogel bereits in berlin in die EEg-studien eingearbeitet hatte und die in Heidelberg sogar einige zeit im Institut wohnte. Ihre Erinnerungen an diese zeit veranschaulichen nicht nur den besonderen charakter dieser forschungswelt, sondern beschreiben auch die Entstehung einer Arbeitshypothese für die verknüpfung von EEg-varianten und Persönlichkeitstypen:

13 vogel, fahrbares EEg-Laboratorium, 26-27.

Friedrich Vogel mit seiner langjährigen Mitarbeiterin, der Technischen Assistentin Edda Schalt. Die Aufnahme entstand bei der Feier des 50. Geburtstages des ersten Sohns von Friedrich Vogel, Sebastian, am 4. Juni 2005

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„Die Dienstreisen mit dem bus und die Doktorarbeiten zur Abklärung der vererbung unserer normvarianten waren erfolgreich beendet. wir hatten dabei festgestellt, dass sowohl die Leute mit niederspannungs-EEg als auch die mit den sogenannten regel-mäßigen Alphawellen ein gegensätzliches, aber doch auffälliges verhaltensmuster zeigten. so, daß wir schon im voraus sagen konnten: „Der hat’s.“ nun wollten wir mit psychologischen Tests prüfen, ob sich der Eindruck objektivieren ließ.“14

Tatsächlich fand vogel eine Korrelationen zwischen EEg- und Persönlichkeitstypen, wenngleich diese befunde bei weitem nicht so einheitlich waren wie bei den zwil-lingsstudien zum EEg-Typ. Aber seither unterschied er zwischen wenigstens zwei auch vom Persönlichkeitstyp her entgegengesetzten EEg-varianten, nämlich einerseits dem von Alphawellen dominierten EEg, dessen Trägern er eine gute stressresistenz, hohe genauigkeit mit guter, kontrollierter spontaner Aktivität bei insgesamt etwas verlang-samten reaktionszeiten bescheinigte, und einem niederspannungs-EEg mit von der Persönlichkeit her geringer spontaner Aktivität, hoher gruppenabhängigkeit und einer extrovertierten, sorglos-entspannten Haltung bei etwas kürzeren reaktionszeiten.15 nach dem nachweis der Erblichkeit der EEg-varianten und den spontan bemerkten Persönlichkeitstypologien dürfte vogel die doch recht vagen Korrelationsbefunde et-was enttäuschend gefunden haben. zumindest hieß es in der summarischen Darstel-lung dieser forschung im späten buch:

„for a geneticist accustomed to precise methods and unequivocal results, working with psychological concepts and methods is sometimes similar to looking through a pane made from frosted glass: very interesting and important structures seem to emerge but their boundaries appear to be somewhat hazy.“16

Aber trotz dieser selbstkritischen skepsis zog vogel bemerkenswerte schlussfol-gerungen für die von ihm angestrebte verhaltensgenetik. nirgends mehr als hier zeigte sich, wie vogel seine forschungen als beitrag zur grundlagenforschung, als baustein zur Aufklärung der psychophysiologischen natur des menschen und zur Lösung des Leib-seele-Problems verstand. so vage die Ergebnisse dieser aufwän-

14 schalt, vogelflug mit schaltproblemen, 52. Ich danke Anne cottebrune für die gelegenheit zur Einsichtnahme.15 vogel, schalt, Krüger, Propping, Lehnert, Electroencephalogram; vogel, schalt, Krüger, Electroencephalogram (EEg); vogel, schalt, Electroencephalogram (EEg) as a research tool.16 vogel, genetics and the electroencephalogram, 155. mit den erforderlichen umfangreichen statistischen Auswertungen wurde der mathematiker Jens Krüger beauftragt. Dass die Auswertungen die Ewartungen nicht vollends trafen, belegte schalt in ihren Erinnerungen mit einem wunderbaren zitat, das sie vogel in den mund legte: “Es ist ein wahres glück, daß wIr Herrn Krüger haben, denn wir sind beide viel zu schnell im beurteilen der Ergebnisse! Herr Krüger stoppt immer so abrupt unseren Höhenflug! und er ist soo schön gründlich!“ (schalt, vogelflug mit schaltproblemen, 62)

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digen studien auch ausgefallen sein mochten, sie ließen sich neurophysiologisch gut im zusammenhang mit der damals heftig diskutierten Theorie zur funktion der formatio reticularis als eines Aktivierungssystems deuten: „wenn der a-rhythmus sehr stark ausgeprägt ist, sollte das auf starke thalamische modulation und ver-stärkung hinweisen.“17 Die psychologischen Tests mögen nur ungenaue Ergebnisse gebracht haben, und auch die frage musste umstritten bleiben, ob es sich bei den EEg-mustern um echte Phänotypen handelte. Aber dennoch ließ sich eine spur ver-folgen, die einzelnen studienergebnisse fügten sich wie Puzzlesteine zu einem bild zusammen, wie im Prinzip die genetik einen bestimmten neurophysiologischen Aktivitätslevel determiniert, der sich in einem typischen EEg-muster manifestiert, das wiederum mit bestimmten verhaltensformen korreliert ist. bis zu einer echten Theorie der genetischen Anteile an Hirnfunktion und Persönlichkeit mochte es noch weit sein, aber hier zeichnete sich doch immerhin ein weg ab, auch wenn sich be-dauerlicherweise der „wissenschaftliche fortschritt nicht nach den Emeritierungs-Terminen von Professoren“ richtete.18 Im verbund mit der Elektroenzephalographie konnte die genetik bis zur Erforschung des wesen des menschen vordringen, nicht weil der mensch genetisch determiniert war, sondern weil beide methoden zusam-men den biologisch vorgegebenen rahmen menschlicher selbstentfaltung auszu-loten versprachen.

Technische Schwierigkeiten als Brücken über epistemologische HindernisseEine solche zusammenfassende Darstellung von vogels beschäftigung mit dem EEg verstellt allerdings leicht den blick für die besonderheit des Themas. Im mittelpunkt seiner forschungen stand ein ausgesprochen komplexes Phänomen, weil EEg-Kur-ven – ganz anders als EKg-signale – nur gewisse frequenzregelmäßigkeiten, aber kein wiederkehrendes muster zeigten. schon am beginn von vogels untersuchungen hatten forscher über mehr als zwei Jahrzehnte immer aufwändigere verfahren entwi-ckelt, um die neuro- und psychophysiologische bedeutung der EEg-signale zu ent-schlüsseln. ganz ähnlich war die Lage in der humangenetischen forschung, wo zur Diagnostik ebenfalls vergleichsweise komplizierte methoden entwickelt wurden. Da war es nur naheliegend, dass sich Kollegen in beiden Disziplinen üblicherweise auf ihr jeweiliges spezialgebiet beschränkten:

„whenever I talked about my research on the genetics of the EEg, the answer of the human geneticists was: ‚very interesting, but I do not understand anything about the

17 vogel, Theorie – methode – Erkenntnis, 53f.18 Ebd., 62.

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EEg.‘ on the other hand, EEg specialists usually remark: ‚very interesting, but I do not understand anything about human genetics.‘…“19

Aber dieses späte zeugnis von vogel verriet nur die Hälfte der schwierigkeiten: gene-tik und EEg waren sicher zwei technisch anspruchsvolle und allein deswegen schon auseinander driftende Themen. Aber als besondere schwierigkeit kam noch hinzu, dass der status des EEg in bezug auf genetische faktoren gar nicht geklärt war. Das EEg bot auf der basis der aufgezeichneten Potenziale keine klar voneinander abge-grenzten Phänotypen als eindeutige basis für genetische untersuchungen. oben-drein war auch die frage unentschieden, ob den anhand des EEgs unterschiedenen rhythmen überhaupt eine zentrale funktion in der gehirntätigkeit zukam oder ob es sich bei ihnen um summationseffekte handelte, die allenfalls indirekte rückschlüsse auf neurophysiologische Prozesse erlaubten.

EEg-forscher beschäftigten sich intensiv mit dem Problem der genese und funktion von EEg-wellen, denn schon früh hatte sich die Hoffnung zerschlagen, mit dem EEg unmittelbar den schlüssel zur höheren Tätigkeit des nervensystems in Händen zu halten.20 Aber trotz intensiver forschungen blieb letztlich umstritten und bis heute ungeklärt, ob es sich beim EEg um ein signifikantes biologisches Phänomen – oder vielmehr um eine nur diagnostisch brauchbare methode handelte, bei dem der mess-wert so stark von der Apparatur und den bedingungen der registrierung mitgeformt wurde, dass er neurophysiologisch nicht weiter aufzuschließen war. Auf diese epis-temologischen Probleme ging vogel an keiner stelle seiner studien zu EEg und ge-netik ein, sie verschwanden gleichsam hinter den technischen schwierigkeiten. für ihn stellte das EEg trotz seiner unklaren natur schlicht das einzig verfügbare beispiel dessen dar, was heute Endophänotyp genannt wird: ein biologischer Parameter, der objektiv registrierbar und vermessbar war und sich deshalb mit genetischen befun-den in verbindung setzen ließ.21

Inzwischen hat die genetische forschung vogels EEg-genetik weitgehend als veraltet ad acta gelegt. Aus sicht der heutigen forschungen ist sie allein schon deswegen veraltet, weil sie mangels genetischer Assoziationsstudien beim Phänotyp als gene-

19 vogel, genetics, vii.20 borck, recording the brain, 367-379.21 zobel, maier, Endophänotypen, 205-214.

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tischer Einheit hatte stecken bleiben müssen.22 Aber in epistemologischer Perspek-tive wird gerade dieser wechsel in der wertschätzung zum historisch bedeutsamen vorgang. Denn ob die heutigen Endophänotypen sich einmal als stabilere größen der genetischen forschung erweisen werden, steht bislang noch aus. seit dem Hu-mangenom-Projekt ist eine schier unüberschaubare Anzahl von Linkage-Analysen erschienen, in denen ähnlich selbstverständlich feste verbindungen zwischen ge-nom und merkmal behauptet wurden, wie vogel dies zum EEg publiziert hatte. nach einer Phase der Euphorie scheint die neueste forschung diesen Ergebnissen aber inzwischen eher skeptisch gegenüber zu stehen.23 Immerhin ist bemerkenswert, dass gerade die fülle an befunden die genetische forschung veranlasst hat, ihren eigenen methoden wieder stärker zu misstrauen. Der vergleichsfall von vogels forschungen verleitet deshalb zu einer Doppelthese: wo technische schwierigkeiten komplex sind, aber zu ihrer überwindung herausfordern, motiviert die Lösung offenbar zu einer positiven Tendenz bei der bewertung der so gewonnenen befunde, auch wenn der erzielte Durchbruch zunächst vor allem die technische bewältigung der Hindernisse anzeigt. Damit gewinnen technische schwierigkeiten zugleich eine bemerkenswerte positive bedeutung, eine neue wissensfelder erschließende Dynamik. Denn bei der Konzentration auf technische Probleme bleiben zweifel an der biologischen signifi-kanz der ermittelten befunde oder an der Kommensurabilität der kombinierten Daten ausgeklammert. gerade in komplexe technische Probleme lassen sich bedenken und zweifel auslagern, die Probleme fungieren also zugleich als brücken über epistemo-logische Hindernisse.

Wissenschaftliche Aufklärung im Atomzeitalterfür den Historiker bietet die beschäftigung mit dem spezialthema der genetik des EEg die gelegenheit, anhand eines Querschnitts durch vogels schaffen von seiner Arbeit am mPI für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie in berlin-Dahlem unter Hans nachtsheim bis zum letzten buch zugleich eine orientierung über aktu-elle forschungsprozesse zu gewinnen. Damit komme ich einerseits nochmals auf die eingangs gestellte frage zurück, warum vogel mit den normalen elektrischen Hirnrhythmen ein physiologisches Phänomen zum gegenstand seiner genetischen untersuchungen machte, und welche wissenschaftshistorischen Kontinuitäten oder

22 zusammen mit seiner schülerin ortrud steinlein beschrieb er noch einen genlocus für den niederspannungs-EEg-Typ, steinlein et al., Localization of a gene, 69-73. nur noch seine schüler zitieren gelegentlich seine Arbeiten, und die genetik des normalen EEgs ist offenbar längst kein forschungsgegenstand mehr, das letzte review liegt inzwischen schon zehn Jahre zurück (beijsterveldt, van baal, Twin and family studies, 111-138), während etwa zur genetik epileptischer Erkrankungen mehr als zweihundert reviews allein in den vergangenen beiden Jahren erschienen.23 Hewitt, candidate gene Association, 1-2.

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ideengeschichtlichen motive ihn dabei möglicherweise anleiteten. zugleich erlaubt das Thema aufgrund seiner Kombination von epistemologischer Herausforderung und gesellschaftlich-politischer relevanz andererseits auch noch einige bemerkun-gen zur Art und weise, wie vogel sich, sein Institut und das neue fach Humangenetik an der schnittstelle von wissenschaftlicher Aufklärung und medizinischer beratung im Atomzeitalter positionierte. vogel prägte dabei für sich ein neues rollenmodell des ebenso sachlichen wie vertrauenswürdigen Experten.

was wollte vogel mit seinen studien zum normalen EEg? Die Habilitationsschrift machte dazu keinerlei Angaben, nachtsheim hob in seinem vorwort die besonde-re strenge und Leistungsfähigkeit der angewandten zwillingsforschungen hervor, während vogel das objektiv-quantifizierende verfahren der aufwändigen, planimet-rischen Ausmessung der EEg-Kurven herausstellte. Eine noch frühere Arbeit hatte die suche nach ordnung in der vielfalt des Individuellen als motiv dafür genannt, EEg-formen mit Konstitutionstypen in verbindung zu setzen, was damals allerdings ohne Erfolg geblieben war.24 Die familien-analytische Arbeit zusammen mit götze aus dem Jahr 195925 vertiefte dann die methodische Ausrichtung, in dem sie eine autosomal-dominante und eine autosomal-rezessive EEg-variante herausstellte. somit schien es, als ob vogel mit seiner EEg-forschung die menschliche genetik methodisch gesi-chert weiter vorantreiben wollte, so wie bei der damals gerade erforschten Erblichkeit bestimmter blutgruppen-varianten. Tatsächlich sollte vogel später immer wieder sa-gen, dass er rein aus wissenschaftlicher neugier zu nachtsheim in die Erbbiologie ge-gangen sei, obwohl das fach damals so kurz nach dem Ende des nationalsozialismus wissenschaftlich isoliert gewesen sei.26 Das mag man für eine rückprojektion aus späterer zeit halten, als das verhältnis des neuen, nun „Humangenetik“ genannten faches zu seiner vorgängerin rassenhygiene durch klare Distanzierung geklärt war. vogel selbst gestand ein, dass er damals noch gar nicht habe formulieren können, welche starke Theorie hinter dem fach steckte, deren „Erklärungskraft über den be-reich derjenigen fälle hinausreicht, zu deren Erklärung sie ursprünglich geschaffen“ wurde.27

Der Titel der großen dreiteiligen studie von 1979 über die verbindungen von EEg-Phänotypen und Persönlichkeitstypen, die genau in der mitte seiner vierzigjäh-rigen beschäftigung mit dem Thema lag, verriet hingegen die besondere stoßrich-

24 vogel, wendt, Hirnstrombild und Konstitution.25 vogel, götze, familienuntersuchungen.26 sogar die nachrufe wiederholten es: Propping, bartram, friedrich vogel 1925–2006, 751–753; sperling, vogel (1925–2006), 755–757.27 vogel, Theorie – methode – Erkenntnis, 42.

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tung des vogelschen Programms: „Das EEg als untersuchungsinstrument in der verhaltensgenetik“.28 mehr als um die reine suche nach der Erblichkeit des normalen ging es vogel um die frage nach der Erblichkeit der spezifisch menschlichen fähigkei-ten, um den erblichen Anteil an verhalten, Intelligenz und psychischen Eigenschaf-ten. In mindestens zweierlei Hinsicht war dieses Programm bemerkenswert. Erstens zielte vogel selbst dort, wo von human behavior genetics die rede war, nicht auf eine Pathologisierung sozialer stigmatisierung. Diese Argumentation hatte allzu oft zu den für das feld so typischen Polemisierungen geführt, wenn für sozial abweichendes ver-halten ausschließlich genetische faktoren als biologisch allenfalls auszuschaltende, aber ansonsten nicht weiter zu beeinflussende ursachen geltend gemacht wurden.29 vielmehr situierte vogel die verhaltensgenetik gezielt im bereich der Erforschung des normalen. Ihm ging es um die Leistung des individuellen menschen. zweitens zielte sein verhaltensgenetisches forschungsprogramm auf die grundfrage einer phy-sischen Anthropologie schlechthin, die frage nach der Erblichkeit des wesens des menschen. Dabei stand ihm besonders die philosophische Dimension seiner for-schungen vor Augen. Er sah sich zeit seines Lebens als neugierigen, aber nüchternen naturwissenschaftlichen Aufklärer, der am Aufstieg einer großartigen wissenschaft teilhatte: „warum sind wir menschen im geistig-seelischen bereich so, wie wir sind? was ist das spezifisch-menschliche an uns? warum ist der eine so, der andere an-ders? wo liegen die ursachen für all das? – und das führte dann wieder auf die gene zurück – und speziell zur frage: wie wirken die gene auf das organ, in dem sich das alles abspielt –, das bewußtsein, das Denken, das fühlen – wie wirken sie auf das gehirn?“30

Dank ihrer fortschritte stand die genetik an der schwelle, die individuelle natur des menschen bis in dessen geistig-seelische veranlagungen hinein aufzuklären. Diese form eines genetisch grundierten Humanismus scheint mir vogels wirken auf vielen gebieten zu kennzeichnen, aber wohl auf keinem anderen gebiet zeigt sie sich in so reiner weise – nicht zuletzt, weil auf dem gebiet der verhaltensgenetik nur wenig fortschritte zu verzeichnen waren, aber vogel trotzdem daran festhielt.

In zeithistorischer Perspektive stellt sich dieser genetische Humanismus als versuch einer ebenso wissenschaftlich wie ethisch legitimierenden reaktion auf die ge-

28 vogel, schalt, Krüger, Propping, Lehnert, Electroencephalogram; vogel, schalt, Krüger, Electroencephalogram (EEg); vogel, schalt, Electroencephalogram (EEg) as a research tool.29 Longino, Helen, behavior as affliction: common frameworks of behavior genetics and ist rivals, in: mutating concepts, evolving disciplines: genetics, medicine, and society, hrsg. v. Lisa s. Parker u. rachel Ankeny, Dordrecht, Kluwer Academic Publishers, 2002, 165-187.30 vogel, Theorie – methode – Erkenntnis, 42.

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schichte des eigenen faches im nationalsozialismus dar. Die Lehrer vogels waren an der forcierung genetischer forschungen in form von massenweisen zwangsste-rilisierungen und systematischen Patientenmorden im namen einer rassisch defi-nierten volksgesundheit aktiv beteiligt gewesen. Im berlin der nachkriegsjahre mag vogel tatsächlich der einzige gewesen sein, der sich als junger student für die Ar-beiten an nachtsheims Institut interessierte, aber seine generation war intensiv in der menschlichen Erblehre und rassenhygiene geschult worden. umso stärker wird anschließend das bedürfnis gewesen sein, nicht gleich dem nächsten ideologischen schwenk nachzugeben, sondern vielmehr die spreu vom weizen zu trennen, den wis-senschaftlichen Kern der genetik zu retten und gerade auch ihre humanitäre seite herauszustreichen. Im namen einer solchen wissenschaft konnte die eigene Position z.b. durch Kritik am falschen reinheitsglauben der rassenhygiene gestützt werden.31 Dabei beinhaltete die Kritik am eigenen fach während der nazi-zeit in der Tat eine Kehrtwende, nämlich eine Abkehr vom zwang und eine Hinwendung zur beratung an seiner stelle. zugleich positionierten sich Humangenetiker wie vogel sehr geschickt an der schnittstelle von wissenschaft und Politik als Experten für die genetischen gefahren des technisch-industriellen fortschritts im aufziehenden Atomzeitalter. seit seinen studien zu spontanmutationen als ursache des retinoblastoms galt vogel als spezialist für die bestimmung von mutationsraten, was insbesondere aufgrund des erhöhten radioaktiven fallouts in den 1950er Jahren und wegen der weiten verbrei-tung chemischer mutagene als wichtige Aufgabe eingeschätzt wurde.32

In dieser neu gewonnenen Expertenposition kamen unerwartete Irritationen ausge-rechnet aus den eigenen reihen, nämlich aus den reihen jener naturwissenschaftler, die als Elite von genetik, Evolutionstheorie, medizin und biochemie 1962 beim man and His future-symposium der ciba-foundation für eine neue Eugenik, für gebur-tenkontrolle und menschenzüchtung aufgetreten waren.33 noch sieben Jahre später platzte ihm regelrecht der Kragen, als trotz sorgfältiger vorbereitung und Abstimmung beim hochkarätig besetzten symposium zu „genetik und gesellschaft“ die Diskus-sion gleich wieder auf menschenzüchtung einschwenkte und die Journalisten in den genetikern selbst die gefahr ausmachten: „für mein fach sehe ich eine gefahr darin, daß den Humangenetikern, die z.b. am ciba-symposium gar nicht beteiligt waren,

31 vogel, friedrich, sind rassenmischungen biologisch schädlich?, in: Der ganze mensch: Aspekte einer pragmatischen Anthropologie, hrsg. v. Hans rössner, münchen, Deutscher Taschenbuch-verlag, 1986, 92-109.32 vgl. schwerin in diesem band.33 wolstenholme, gordon E. w. (Hg.): man and his future, London, churchill, 1963; Petermann, Heike, Die biologische zukunft der menschheit: Der Kontext des cIbA symposiums »man and his future« (1962) und seine rezeption, in: ursprünge, Arten und folgen des Konstrukts "bevölkerung" vor, im und nach dem "Dritten reich": zur geschichte der deutschen bevölkerungswissenschaft, hrsg. v. rainer mackensen, wiesbaden, vs verlag für sozialwissenschaften, 2009, 393-414.

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dieses trotzdem immer wieder in die schuhe geschoben wird, daß sie sozusagen als eine gilde von gefährlichen Dunkelmännern bezeichnet werden, die nur mani-pulieren, und daß damit die wichtigen Dinge, die wir tun, in der öffentlichkeit arg behindert werden, daß weniger menschen zu uns kommen zur beratung als eigentlich sollten, daß weniger getan wird auf dem gebiet der mutationsprophylaxe und daß die forschung behindert wird.“34

vogel musste es dabei besonders schmerzen, wenn er mit der alten oder einer neuen Eugenik in verbindung gebracht wurde, denn für ihn war die neue Trinität der Human-genetik von „beratung“, „mutationsprophylaxe“ und „forschung“ kein alter wein in neuen schläuchen. nicht zuletzt seine neu gewonnene Expertenrolle hing von ihr ab.

Grundlagenforschung in spannungsvoller Kontinuität zur Eugenikvogels forschungen zur verhaltensgenetik zeigen, wie er an der frage der Erblichkeit individueller menschlicher und geistiger fähigkeiten interessiert war, um die genetik als grundlagenforschung an der schnittstelle von Körper, gehirn und geist voranzu-treiben. selbstverständlich verortete er sich in der ewigen Debatte über Erbe oder umwelt auf der ersten seite. Aber weil es ihm um die Erforschung ihrer Anteile ging, interessierte er sich auch gezielt für umwelteinflüsse und suchte sie präzise zu be-stimmen. zusammen mit seinem schüler Peter Propping veröffentlichte er 1981 eine allgemeinverständliche zusammenfassung seiner verhaltensgenetischen forschun-gen unter der rhetorischen frage Ist unser schicksal mitgeboren? mit dem ungewöhn-lichen begriff „mitgeboren“ anstelle des gängigen „angeboren“ umriss er bereits im Titel präzise seine Position: für ihn gab das je individuelle genetische Erbe einen möglichkeitshorizont vor, aber dieser Teil eines menschen determinierte damit noch lange nicht das schicksal und erst recht unterminierte er nicht individuelle freiheit.35 bereits auf dem umschlagtitel druckte der verlag dann auch die neue Losung human-genetischer beratung: „Auf der grundlage der neuesten forschungsergebnisse wird gezeigt, daß selbst bei ungünstigen Erbanlagen der einzelne sein Lebensschicksal in die Hand nehmen kann, um auch störungen eine positive wendung zu geben.“36

Aber viele der alten wissenschaftlichen Konstrukte blieben auch nach der umstellung von einer kollektiven auf eine individualistische Perspektive noch intakt. gerade weil

34 vogel, friedrich, in: genetik und gesellschaft: marburger forum Philippinum, hrsg. v. georg gerhard wendt, stuttgart, wissenschaftliche verlags-gesellschaft, 1970, 153.35 „wir sind nicht die sklaven unserer gene,“ formulierte vogel dazu prägnant in seiner Abschiedsvorlesung (vogel, Theorie – methode – Erkenntnis, 64).36 vogel, Propping, schicksal mitgeboren, 1981.

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bei vogel mit der Humangenetik nicht nur ein neuer name an die stelle der rassen-hygiene getreten war, sondern er in Abkehr von sozialdarwinismus, rassenhygiene und Eugenik nun den Einzelnen in seiner Individualität ins zentrum stellte, zeigen sich – wenigstens in der rückschau – zugleich auch bemerkenswerte spannungslini-en in diesem Programm. Ebenso selbstverständlich hielt die Humangenetik an einer wissenschaftlichen führungsrolle in der genetischen gesundheitsfürsorge fest, auch wenn diese nun zur individualisierten familienberatung geworden war. Im nachhin-ein wirkt es deswegen naiv, wenn vogel seinen bericht vom genetiker-Kongress 1958 in montreal mit der zuversichtlichen Hoffnung schloss, schon die nächste Tagung werde 1963 in Deutschland stattfinden.37 ganz so schnell ließ sich die Kehrtwende zur „guten“ wissenschaft nicht auf dem internationalen Parkett durchsetzen. zu-nächst bedurfte es einiger größerer zäsuren. Das mPI für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie wurde nach nachtsheims Abtreten nicht von vogel weitergeführt. vielmehr wurde es strategisch neu positioniert und nach einer unterbrechung als mPI für molekulare genetik neu gegründet.38 Die Humangenetik entdeckte die chromoso-mendiagnostik und später die molekularbiologischen methoden; auf beiden feldern mussten die deutschen forscher ihren rückstand im internationalen vergleich aufar-beiten. Aber 1986 war es soweit, vogel konnte den 7. International congress of Human genetics nach berlin holen.

Ähnliche spannungslinien zwischen neuanfang und historischer Prägung zeigen sich auch in vogels Arbeiten, vor allem in den büchern, die sich allgemeinen Themen wid-meten. zwischen der Habilitation und dem ruf auf den Heidelberger Lehrstuhl für das neu eingerichtete fach Humangenetik schrieb er ein Lehrbuch – den vorläufer für das bis heute auch international führende werk.39 wie in den späteren varianten des Lehr-buchs fing vogel auch hier mit einem Kapitel zur geschichte der Humangenetik an, in dem er aber – ganz im stile der zeit – jedweden Hinweis auf die genetik während der zeit des nationalsozialismus unterließ. stattdessen beinhaltete diese erste form des Lehrbuchs ganze Kapitel, welche die Herkunft der „Humangenetik“ umso klarer anzeigten: „rassenkunde und rassengeschichte“, „Das Problem der ‚rassenseele‘“, „Die eugenische beratung“ und „Der anthropologisch-erbbiologische Abstammungs-nachweis“. An ihre stelle traten erst in der 1979 gemeinsam mit Arno motulsky auf Englisch verfassten neuauflage Kapitel mit Titeln wie „genetic counseling“, „genetic screening“, „genetic manipulation“ bzw. „biologic future of mankind“. und selbst-

37 vogel, 10. Internationaler Kongreß für genetik, 313-316.38 sachse, neugründung, 24-50.39 vogel, Lehrbuch der allgemeinen Humangenetik. Ausgerechnet otmar von verschuer war ihm beim namen mit der neuausgabe seiner in drei Auflagen während der ns-zeit bewährten Erbpathologie als Genetik des Menschen: Lehrbuch der Humangenetik (münchen, urban & schwarzenberg, 1959) zuvorgekommen.

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verständlich ging dieses neue buch nun im historischen Kapitel auch auf die nazi-zeit ein.40 offensichtlich hatte es also erst eines Anstoßes von außen und des umweges über die englische sprache bedurft. beides hatte sich für vogel aus der Kooperation mit seinem amerikanischen Kollegen und freund Arno motulsky ergeben, dem nur knapp und auf leidvollen umwegen die Emigration aus nazi-Deutschland in die usA gelungen war.41

zwischen beiden Auflagen seines Lehrbuchs schrieb vogel zusammen mit walter fuhrmann das erste deutsche buch zur genetischen familienberatung – und auch hier findet sich eine ähnliche spannung: Das buch startete gemäß dem neuen Im-perativ der individuellen Perspektive mit einem fallbeispiel, wo die bedenken gegen eine eheliche verbindung wegen familiärer belastung dank genetischen wissensfort-schritts hatten ausgeräumt werden können.42 Aber fuhrmann und vogel kamen am schluss ihres buches im namen der alten eugenischen volksgesundheit dann doch zweifel an ihrem neuen individualistischen Ansatz. beispielsweise führten sie aus, dass die warnung vor der verwandtenehe zu einer Ausbreitung krankhafter gene in der bevölkerung führe, während ein erkrankter Homozygoter ohne Kinder gleich „zwei kranke gene aus dem gesamtbestand der bevölkerung eliminiert.“43 An Passa-gen wie dieser wird besonders deutlich, wie zwar die Intention der Humangenetik von vogel in die entgegengesetzte richtung gedreht wurde, aber deswegen mit nach wie vor gültigem wissen um eine volksgesundheit in Konflikt geriet.

Die Grenzen der GenetikEs ist deswegen umso bemerkenswerter, welche wendung vogel einem nachgera-de klassischen Thema der volksgesundheit gab, der Alkoholsucht. Die forschungen zusammen mit Peter Propping zur verhaltensgenetik dieser Erkrankung bestätigten ein weiteres mal, dass Alkoholiker gehäuft ein instabiles EEg mit nur schwach aus-geprägtem Alpha-rhythmus zeigten. Aber anstatt Alkoholismus als Ausdruck einer genetisch minderwertigen Persönlichkeitsausstattung zu begreifen, die durch das ab-norme EEg bewiesen würde, suchten vogel und Propping nach der streuung verschie-

40 vogel, motulsky: Human genetics.41 Anonym: Holding out Hope.42 Entsprechend hieß es im Abschnitt über autosomal-rezessive Erbleiden: „bedenkt man die große zahl der unerkannt in der bevölkerung lebenden genträger, so ist der Anteil der erfaßten und zur beratung kommenden Heterozygoten bei seltenen Erbleiden so gering, daß auch ihr Ausschluß in überschaubaren zeiträumen keinen erkennbaren Effekt zeigen könnte.“ fuhrmann, vogel, genetische familienberatung. Damit bezog vogel klare Position gegen seinen Lehrer nachtsheim, der gerade zwei Jahre zuvor nochmals seine eugenischen bedenken publiziert hatte (nachtsheim, Kampf den Erbkrankheiten).43 fuhrmann, vogel, genetische familienberatung, 88.

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dener EEg-varianten unter den Angehörigen dieser gruppe. Der bus wurde wieder in bewegung gesetzt, das mobile EEg-gerät brachte die methode zu den menschen, damit aus der Erbpathologie die Humangenetik würde. mit der unermüdlichen Hilfe von frau schalt fanden vogel und Propping tatsächlich eine familiäre Häufung des eigentlich harmlosen niederspannungs-EEg-Typs unter den Alkoholiker-familien, wo-bei viele der merkmalsträger keine Alkoholsucht zeigten. Deshalb sahen sie in der ge-netischen veranlagung nicht die ursache für den Alkoholismus, sondern erblickten im Trinken eine unbewusste strategie der betroffenen, die hirnelektrisch nachweisbare, rhythmisierende wirkung des Alkohols auszunutzen, um die psychophysiologischen Effekte ihres EEg-Typs auszugleichen.44

Die studien zur Alkoholsucht zeigen also noch einmal die für vogel typische umdeu-tung der befunde im sinne seines genetischen Humanismus und die charakteristi-sche verklammerung von verhaltensgenetik und EEg-forschung. wie kein anderer physiologischer Parameter war das EEg des menschen von Anfang an mit psycho-physiologischen fragestellungen in zusammenhang gebracht, ja regelrecht mit einem psychophysiologischen Erwartungsdruck überfrachtet worden.45 vogel hatte die erste Phase der EEg-forschung nur knapp verpasst, die methode war bei Kriegsende kaum in Deutschland etabliert, und er kombinierte sie mit dem neuen verständnis der ge-netik als reiner grundlagenforschung. Dabei stellte er zunächst die Datenlage zur Erb-lichkeit des EEg auf eine solide basis und identifizierte eine reihe von erblich fixier-ten EEg-varianten als Endophänotypen. seine studien zur verhaltensgenetik, vogels beitrag zur genetischen wesensmäßigkeit der menschlichen Leistungsfähigkeit fielen hingegen nicht nur uneindeutig, sondern auch erstaunlich konventionell aus. Denn sehr ähnliche fixierungen auf den Alpharhythmus hatten die EEg-forschung spätes-tens seit ihrer überschneidung mit der Kybernetik geprägt.46 so hatte etwa norbert wiener auf der basis einer Analyse seines eigenen EEgs postuliert, dass regelmäßig-keit und stabilität des Alpha-rhythmus Kennzeichnen eines scharfen verstandes sei-en, während sein britisches Pendant grey walter höchst effektvoll gleich eine ganze EEg-basierte Persönlichkeitstheorie popularisiert hatte.47 vogels langwierige unter-suchungen ergänzten zwar die weit ausgreifenden Theorien dieser beiden Pioniere und vieler weiterer EEg-forscher um eine fundierte genetische Perspektive, aber sie fügten den alten Debatten letztlich wenig hinzu.

44 vogel, grundlagen und bedeutung genetisch bedingter variabilität, 173-188; Propping, wirkung von Alkohol auf das gehirn, 47-64.45 borck, schreiben Lesen rechnen, s. 55-68.46 borck, Hirnströme.47 walter, living brain.

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für ihn persönlich hingegen bildeten die EEg-forschungen nicht nur einen wichtigen zweig seiner verschiedenen genetischen Arbeiten, sondern das wissenschaftliche fundament seines genetischen Humanismus. zu gewichtigen Anlässen wählte er re-gelmäßig die verhaltensgenetik und stellte dieses Thema in den Kontext philosophi-scher Diskussionen.48 In diesem sinne war es die Krönung eines Lebenswerks, dass er beim Internationalen Humangenetiker-Kongress 1986 in seinem alten studienort berlin seine vision eines genetischen Humanismus einem großen Publikum vortra-gen und so die historische verantwortung der deutschen genetiker international un-terstreichen konnte.49 Aber im bemühen, den Ängsten der öffentlichkeit vor den ge-fahren genetischer manipulation die wahren grenzen der genetik entgegenzuhalten, sprach er zugleich das verdikt über seine verhaltensgenetischen forschungen:

„genetic mechanisms determining the development of the human brain and leading to individual differences in its performance are almost completely unknown. The task could be likened to the attempt of a schoolboy at improving the latest Ibm computer after receiving his first electronic set as a christmas present.“50

LiteraturAnonym: Holding out Hope in a cruel world: geneticist Arno motulsky recalls wartime

Europe, [report on interview for spielberg’s survivors of the shoah project], uni-versity of wisconsin medicine: 25 (2002) <http://depts.washington.edu/medgen/documents/Arnoswarstory.pdf>.

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Anokhin, Andrey u. friedrich vogel, EEg alpha rhythm frequency analysis and intelli-gence in normal adults, in: Intelligence 23 (1996), 1-14.

beijsterveldt, cE van u. g.c.m. van baal, Twin and family studies of the human elect-roencephalogram: a review and a meta-analysis. biol Psychol 61 (2002), 111-138.

borck, cornelius: Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie, göttingen, wallstein verlag 2005.

borck, cornelius, recording the brain at work: The visible, the readable, and the In-

48 vogel, zukünftige Aufgaben, 701-707; vogel, biological basis of behavior, 409-416; vogel, geschichtlichkeit des menschen, 9-20.49 gemäß seiner Publikationsliste war es 1986 das erste mal, dass er öffentlich über geschichte und politischen Kontext der Humangenetik in Deutschland sprach: „our generation – and especially we as human geneticists – have to carry our share of the ‚family load‘ of all germans.“, vogel, Human genetics, 44. Dabei zog er allerdings die typische exkulpierende scheidelinie zwischen echter Humangenetik und der “pseudoscience“ eines mengele.50 vogel, Human genetics, 47.

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