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CLIVE CUSSLER Eisberg

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Page 1: CLIVE CUSSLER Eisberg

CLIVE CUSSLER

Eisberg

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Die Autoren

Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman vonClive Cussler ein New-York-Times-Bestseller. Auch auf der deutschenSPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründeteer die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erfor-schung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der

Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Dirk Cussler arbeitete nach seinem Studium in Berkeley viele Jahre langin der Finanzwelt, bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben widmete.Darüber hinaus nahm er an mehreren der über achtzig Expeditionen der

NUMA teil.

Die Dirk-Pitt-Romane von Clive Cussler bei Blanvalet:

1. Der Todesflieger; 2. Eisberg; 3. Hebt die Titanic; 4. Der Todesflug derCargo 03; 5. Um Haaresbreite; 6. Im Todesnebel; 7. Tiefsee; 8. Cyclop;9. Das Alexandria-Komplott; 10. Die Ajima-Verschwörung; 11. Sahara;12. Inka-Gold; 13. Schockwelle; 14. Höllenflut; 15. Akte Atlantis; 16. ImZeichen der Wikinger; 17. Die Troja-Mission; 18. Geheimcode Makaze;19. Der Fluch der Wikinger; 20. Polarsturm; 21. Wüstenfeuer; 22. Unter-

druck; 23. Die Kuba-Verschwörung; 24. Geheimakte Odessa

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Deutsch vonTilman Burkhard

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Die Originalausgabe erschien 1975unter dem Titel »Iceberg«

bei Dodd, Mead & Company, NewYork.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten,so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,

da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglichauf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

4. AuflageTaschenbuchausgabe Juli 2002 bei Blanvalet

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe by Clive CusslerCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1978

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Zefa/MasterfileSatz: DTP-Service Apel, Hannover

Druck und Einband: GGP Media GmbH, PößneckVerlagsnummer: 35601

HK · Herstellung: Heidrun NawrotMade in Germany

ISBN 978-3-442-35601-6www.blanvalet-verlag.de

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Prolog

Der durch Drogen verursachte Schlaf verflüchtige sich all-mählich, und in qualvollem Kampfe erwachte das Mädchenzum Bewusstsein. In ihre sich langsam öffnenden Augenfloss ein trübes und milchiges Licht, und in ihre Nase stiegein abscheulicher fauliger Gestank. Sie war nackt, ihr bloßerRücken war an eine feuchte, gelbe, mit Schleim überzogeneWand gepresst. Es ist nicht wahr, es ist einfach unmöglich,versuchte sie sich während des Erwachens einzureden. Esmusste eine Art entsetzlicher Albtraum sein. Noch bevor siejedoch die in ihr aufsteigende Panik niederzukämpfen ver-mochte, wuchs plötzlich noch viel mehr gelber Schleim vomBoden hoch und kroch die Schenkel ihres wehrlosen Kör-pers empor. Völlig außer sich vor Schrecken, begann sie zuschreien, wahnsinnig zu schreien, während der abscheulicheSchleim ihre nackte, schweißnasse Haut überzog. Ihre Au-gen quollen aus den Höhlen und sie wehrte sich verzweifelt.Es war zwecklos – ihre Hand- und Fußgelenke waren fest andie schlammbedeckte Wand gekettet. Langsam und stetigkroch der widerliche Schleim über ihre Brüste. Und geradeals er die Lippen des Mädchens berührte, hallte ein entsetz-licher Lärm durch das Dunkel des Zimmers, und eine un-sichtbare Stimme sagte: »Es tut mir Leid, dass ich Ihre inter-essante Lektüre unterbrechen muss, Lieutenant, aber diePflicht ruft.«

Lieutenant Sam Neth klappte das Buch, das er in seinerHand hielt, zu. »Verdammt, Rapp«, sagte er zu dem säuer-

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lich dreinblickenden Mann, ebenfalls ein Lieutenant, der ne-ben ihm im dröhnenden Cockpit saß, »jedes Mal, wenn ichan eine spannende Stelle komme, mischen Sie sich ein.«

Rapp deutete auf das Buch. Auf dem Umschlag war einMädchen zu sehen, das in einem Becken voll gelbenSchlamms steckte und, wie Rapp folgerte, durch ein Paar rie-sige Brüste vorm Untergehen bewahrt wurde. »Wie könnenSie diesen Schwachsinn nur lesen?«

»Schwachsinn?« Neth verzog sein Gesicht schmerzlich.»Sie mischen sich nicht nur in meine Privatangelegenheiten,Lieutenant, Sie gefallen sich auch noch in der Rolle meinespersönlichen Buchkritikers!« Er rang in gespielter Verzweif-lung die Hände. »Warum spannt man mich nur immer miteinem Copiloten zusammen, dessen primitives Gehirn sichweigert, den Bildungsstand unserer Zeit zu akzeptieren?«Neth legte das Buch auf ein primitiv zusammengebautes Ge-stell, das in einem Seitenfach an einem Kleiderhaken aufge-hängt war. Einige zerlesene Zeitschriften, die nackte Mäd-chen in zahlreichen verführerischen Posen zeigten, lagenebenfalls auf dem Gestell und ließen erkennen, dass Neth,was die Literatur betraf, nicht unbedingt auf die Klassikereingeschworen war.

Neth seufzte, dann richtete er sich in seinem Sitz auf undblickte durch die Windschutzscheibe hinunter auf das Meer.

Das Patrouillenflugzeug der U.S.-Küstenwache war nunschon seit vier Stunden und zwanzig Minuten auf einemlangweiligen achtstündigen Routineflug, um einen Eisbergzu überwachen, dessen Weg kartographisch festgehaltenwerden sollte. Die Sicht war, bei wolkenlosem Himmel, glas-klar, und es herrschte eine sanfte Dünung – für den Nordat-lantik Mitte März selten gute Bedingungen. Im Cockpitkümmerte sich Neth mit vier Mitgliedern der Crew um dieSteuerung und Navigation der riesigen vierstrahligen Boe-

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ing, während die restlichen sechs Mann im Laderaum Diensttaten und den Radarschirm sowie andere wissenschaftlicheInstrumente überwachten. Neth schaute auf seine Uhr, wen-dete das Flugzeug in einem weiten Bogen und brachte es aufdirekten Kurs zur Küste von Neufundland.

»Genug für heute.« Neth lehnte sich zurück und griffwieder nach seiner Horrorgeschichte. »Bitte, Rapp, bewei-sen Sie ein bisschen Selbständigkeit. Bis wir in St. John’ssind, möchte ich nicht mehr gestört werden.«

»Ich werd’s versuchen«, antwortete Rapp. »Übrigens,wenn das Buch wirklich so spannend ist, können Sie es mirvielleicht leihen, wenn Sie damit fertig sind?«

Neth gähnte. »Tut mir Leid, ich verleihe aus Prinzip kei-ne Bücher.« Plötzlich knackte es in den Kopfhörern, und ergriff nach dem Mikrophon. »Okay, Hadley, was haben Sieauf dem Herzen?«

Hinten, im schwach erleuchteten Rumpf der Maschine,starrte der Obergefreite Buzz Hadley angestrengt auf denRadarschirm, das Gesicht vom unwirklichen, grünen Schim-mer des Schirms übergossen. »Ich habe ein seltsames Signal,Sir. Achtzehn Meilen von hier, Richtungskoordinaten drei-vier-sieben.«

»Immer mit der Ruhe, Hadley. Was meinen Sie mit selt-sam? Beobachten Sie einen Eisberg oder empfangen Sie aufIhrem Gerät einen alten Draculafilm?«

»Vielleicht hat er ebenfalls Ihre Horrorgeschichte gele-sen«, grunzte Rapp.

Hadley meldete sich wieder: »Wenn man nach Aussehenund Größe urteilt, ist es ein Eisberg, aber für gewöhnlichesEis ist das Signal viel zu stark.«

»Na gut«, seufzte Neth. »Wir werden uns die Sache ein-mal ansehen.« Er wandte sich missmutig an Rapp: »Seien Sieso nett und bringen Sie uns auf Kurs drei-vier-sieben.«

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Rapp nickte, zog das Steuer herum und brachte die Ma-schine auf den neuen Kurs. Das Flugzeug, das vom ständigenDröhnen der vier Pratt-Whitney-Motoren vibrierte, gingsanft in die Kurve, dem neuen Ziel entgegen.

Neth nahm das Fernglas und richtete es auf die unendli-che Wasserfläche. Er stellte die Brennweite ein und hielt dasGlas so ruhig, wie es ihm das Vibrieren der Maschine er-laubte. Dann erblickte er ihn – ein weißer unbewegter Fleckinmitten einer türkis schimmernden See. Langsam wuchsder Eisberg in seinem Fernglas an, als das Flugzeug sich ihmnäherte. Neth ergriff das Mikrophon: »Was meinen Sie dazu,Sloan?«

Lieutenant Jonis Sloan, an Bord zuständig für Eisbergeund ihre Beobachtung, musterte den Berg durch die halbge-öffnete Tür des Laderaums hinter der Kontrollkabine.

»Nichts Besonderes, normaler Durchschnitt«, hörte manSloans Stimme im Kopfhörer. »Ein Tafelberg mit ebenerSpitze. Ich schätze: Sechzig Meter hoch und vielleicht eineMillion Tonnen schwer.«

»Durchschnitt?« Neth schien ziemlich überrascht.»Nichts Besonderes? Ich bedanke mich für Ihre äußerst auf-schlussreichen Bemerkungen, Sloan. Ich kann es kaum er-warten, bis ich ihn zu Gesicht kriege.« Er wandte sich anRapp: »Wie hoch sind wir?«

Rapp schaute starr geradeaus. »Dreihundertfünfzig Me-ter. Dieselbe Höhe, in der wir schon den ganzen Tag flie-gen … und gestern auch … und vorgestern …«

»Ich wollte mich bloß vergewissern. Danke«, unterbrachihn Neth sarkastisch. »Sie werden es nie erfahren, Rapp, wiesehr Ihre enormen Talente an den Kontrollgeräten mir inmeinem Alter ein Gefühl der Sicherheit vermitteln.« Er setz-te eine verbeulte Fliegerbrille auf, schützte so seine Augengegen den eisigen Wind und öffnete das Seitenfenster, um

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den Eisberg genauer zu beobachten. »Da ist er!«, schrie erRapp zu. »Fliegen Sie ein paar Mal über ihn weg, dann wer-den wir schon entdecken, was es zu entdecken gibt!«

Es dauerte nur ein paar Sekunden, und Neth hatte das Ge-fühl, sein Gesicht wäre so zerstochen wie ein Nadelkissen.Die eisige Luft riss an seiner Haut, bis sie völlig taub war. Erbiss die Zähne zusammen und richtete seinen Blick fest aufden Berg.

Die riesige Eismasse sah aus wie ein aufgetakeltes Geister-schiff, als sie majestätisch unter dem Fenster des Cockpitsdahintrieb. Rapp nahm das Gas zurück, zog vorsichtig denSteuerknüppel nach links und sanft kurvte die Maschinenach Backboard ein. Er ignorierte den Richtungsanzeigerund riskierte einen Blick über Neths Schulter auf die glit-zernde Eismasse. Er umkreiste den Berg dreimal und warte-te auf das Zeichen Neths, wieder auf Geradeausflug zu ge-hen. Schließlich zog Neth den Kopf in die Kabine zurückund nahm das Mikrophon zur Hand: »Hadley! Der Berg istso blank wie der Hintern eines Neugeborenen!«

»Es muss etwas dort sein, Lieutenant«, war Hadleys Stim-me zu vernehmen. »Ich habe ein wundervolles Echozeichenauf meinem …«

»Ich glaube, ich habe ein dunkles Objekt ausgemacht,Käpt’n«, schaltete Sloan sich ein. »Knapp über der Wasserli-nie auf der Westseite.«

Neth wandte sich Rapp zu: »Gehen Sie auf sechzig bissiebzig Meter runter!«

Rapp reagierte wie befohlen. Er umkreiste den Berg nocheinmal einige Minuten lang, wobei er die Geschwindigkeitnur knapp dreißig Stundenkilometer über dem Punkt hielt,an dem die Maschine abschmieren würde.

»Näher«, murmelte Neth gespannt. »Noch mal dreißigMeter.«

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»Warum landen wir eigentlich nicht auf dem verdammtenDing?«, bot Rapp beiläufig an. Wenn seine Nerven auch aufsäußerste angespannt waren, so ließ er sich doch nichts an-merken. Er sah aus, als wollte er gleich in tiefen Schlaf fallen.Nur die winzigen Schweißperlen über seinen Augenbrauenverrieten die totale Konzentration, die für diesen riskantenhandgesteuerten Flug nötig war. Die blauen Wellen schienenso nah, dass er das Gefühl hatte, er könnte Neth über dieSchulter langen und sie mit Händen greifen. Und um seineAnspannung noch zu erhöhen, türmten sich jetzt die Wändedes Eisbergs hoch über dem Flugzeug auf, und der Gipfelverschwand vollständig über dem Rahmen des Cockpitfens-ters. Ein einziger Ruck, dachte er, eine kurze heimtückischeBö, und die Spitze des Backbordflügels taucht in einen Wel-lenkamm und die ganze großartige Maschine verwandeltsich augenblicklich in einen wirbelnden Trümmerhaufen.

Endlich entdeckte Neth etwas … etwas Undeutliches,Schemenhaftes, an der Grenze zwischen Wirklichkeit undEinbildung. Langsam nahm es feste Formen an; es schienvon Menschenhand zu stammen. Schließlich – Rapp kam eswie nach einer Ewigkeit vor – schloss Neth das Fenster wie-der und schaltete das Mikrophon ein.

»Sloan? Haben Sie es gesehen?« Die Worte klangendumpf und unklar, als ob Neth in ein Kissen spräche. Zuerstdachte Rapp, dass Neths Kiefer und Lippen eingefroren wä-ren, doch als er ihn verstohlen musterte, bemerkte er ver-blüfft, dass Neths Gesicht nicht vor Kälte, sondern aus pu-rem Entsetzen erstarrt war.

»Ich habe es gesehen.« Wie ein mechanisches Echo kamSloanes Stimme über die Bordanlage. »Aber ich kann es ein-fach nicht glauben.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Neth. »Aber es ist dort un-ten – ein Schiff, ein Geisterschiff, das im Eis verpackt ist.« Er

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wandte sich an Rapp und schüttelte den Kopf, als traute erseinen eigenen Worten nicht. »Ich konnte keine Einzelheitenerkennen … nur die verwischten Umrisse des Bugs odermöglicherweise des Hecks, das war nicht sicher auszuma-chen.«

Er setzte die Brille ab und deutete mit dem rechten Dau-men in die Höhe, für Rapp das Zeichen, die Maschine hoch-zuziehen. Dankbar atmete Rapp auf und schuf endlich wie-der einen beruhigenden Abstand zwischen der Maschineund dem kalten Atlantik.

»Entschuldigen Sie, Lieutenant«, ließ sich Hadley überden Kopfhörer vernehmen. Er beugte sich über sein Radar-gerät und beobachtete sorgfältig einen kleinen weißenPunkt, der sich fast genau in der Mitte des Schirms befand.»Die Gesamtlänge dieses Dings im Berg beträgt ungelogenvierzig Meter.«

»Höchstwahrscheinlich ein verlassener Fischkutter.«Neth massierte intensiv seine Wangen, wobei er Schmerzenverspürte, als das Blut wieder zu zirkulieren begann.

»Soll ich mich mit dem District Headquarters in NewYork in Verbindung setzen und eine Rettungsmannschaftanfordern?«, fragte Rapp sachlich.

Neth schüttelte den Kopf. »Es ist nicht nötig, ein Ret-tungsschiff hierherzuhetzen. Ganz offensichtlich gibt es kei-ne Überlebenden. Wir werden einen genauen Bericht verfas-sen, wenn wir zurück in Neufundland sind.«

Es entstand eine Pause. Dann bat Sloan: »Fliegen Sie nochmal über den Eisberg, Käpt’n. Ich möchte ihn farbig markie-ren, damit wir ihn rascher wiederfinden.«

»Sie haben Recht, Sloan. Werfen Sie die Markierung ab,wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe.« Neth wandte sich Rappzu: »Überfliegen Sie den Berg in hundert Meter Höhe.«

Die Boeing, deren vier Motoren immer noch mit gedros-

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selter Kraft liefen, schwebte wie ein ungeschlachter Vogelaus dem Mesozoikum, der auf Nestsuche war, über den im-posanten Eisberg. Am Rumpfende des Laderaums hob Slo-an seinen Arm und wartete. Dann warf er auf Neths Kom-mando ein Gurkenglas voll roter Farbe hinaus. Das Glaswurde kleiner und kleiner, schrumpfte zu einem winzigenPunkt zusammen und schlug endlich auf der glatten Ober-fläche des Zieles auf. Ein zinnoberrot leuchtender Fleckbreitete sich langsam auf der Millionen von Tonnen schwe-ren Eismasse aus.

»Genau getroffen.« Neths Stimme klang beinahe heiter.»Die Rettungsmannschaft wird ihn ohne Schwierigkeitenfinden.« Dann verdüsterte sich sein Gesicht plötzlich und erstarrte auf den kleinen Fleck hinab, wo das Schiff eingesargtlag. »Arme Teufel! Ich frage mich, ob wir jemals erfahren,was ihnen zugestoßen ist.«

Rapps Blick wurde nachdenklich. »Sie hätten sich jeden-falls keinen größeren Grabstein aussuchen können.«

»Der wird aber nicht lange halten. Zwei Wochen, nach-dem dieser Berg im Golfstrom treibt, wird von ihm so wenigübrig sein, dass es nicht einmal reicht, ein paar Dosen Bier zukühlen.«

In der Kabine breitete sich Schweigen aus, eine Stille, diedurch das ununterbrochene Dröhnen der Maschine nurnoch unterstrichen wurde. Einige Minuten lang sprach nie-mand, jeder war in seine eigenen Gedanken versunken. Siekonnten lediglich gebannt auf die weiße Bergspitze starren,die unheildrohend aus dem Meer emporragte, und Vermu-tungen über das Geheimnis anstellen, das unter ihrem Eis-mantel begraben lag.

Schließlich lehnte Neth sich in seinen Sessel zurück, bis erfast waagrecht lag, und gab sich wieder als der alte, durchnichts aus der Ruhe zu bringende Kapitän: »Ich würde vor-

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schlagen, Lieutenant, dass Sie uns heimfliegen, bevor dieBenzinuhren auf Null stehen. Es sei denn, Sie haben ein un-bezwingliches Verlangen, mit dieser Klapperkiste zu was-sern.« Er grinste anzüglich. »Und bitte, keine Verzögerun-gen mehr.«

Rapp warf Neth einen vernichtenden Blick zu, dannzuckte er die Achseln und brachte das Patrouillenflugzeugzum zweiten Mal auf Kurs Neufundland.

Als die Maschine der Küstenwache verschwunden unddas gleichmäßige Dröhnen ihrer Motoren in der kalten, sal-zigen Luft verklungen war, lag der turmhohe Eisberg wiedereingehüllt in Totenstille, wie während des ganzen Jahres, dasvergangen war, seit er an der Westküste Grönlands von ei-nem Gletscher ins Meer geglitten war.

Plötzlich bewegte sich aber knapp über der Wasserlinieetwas. Zwei verwischte Schatten verwandelten sich unmerk-lich in zwei Männergestalten, die sich langsam erhoben undin Richtung des Flugzeugs, das verschwunden war, blickten.Für das bloße Auge waren sie aus einer Entfernung vonmehr als zwanzig Schritten schon nicht mehr erkennbar –beide trugen weiße Schneeanzüge, die vollkommen vor demfarblosen Hintergrund verschwanden.

Sie standen lange Zeit da, warteten und horchten gedul-dig. Dann, als sie sicher waren, dass das Flugzeug nicht zu-rückkehren wurde, kniete einer der beiden Männer sich nie-der, scharrte das Eis beiseite und holte ein kleines Funkgeräthervor. Er zog die drei Meter lange Teleskopantenne aus,stellte die Frequenz ein und fing an zu kurbeln. Er brauchtesich weder besonders kräftig, noch besonders ausdauernd zubemühen. Irgendwo wurde sein Sender ständig überwacht;die Antwort ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten.

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Lieutenant Lee Koski klemmte den Stiel seiner Maiskolben-pfeife noch fester zwischen die Zähne, schob seine derbenFäuste noch fünf Zentimeter tiefer in seine pelzbesetzteWindjacke und zitterte trotzdem in der eisigen Kälte. Dereinundvierzig Jahre und zwei Monate alte Koski, der schonachtzehn Jahre seines Lebens im Dienst der U.S.-Küstenwa-che verbracht hatte, war klein, sehr klein, und die schwere,dicke Kleidung ließ ihn fast so breit wie hoch erscheinen.Die blauen Augen unter dem schütteren weizenblondenHaar leuchteten mit einer Kraft, die anscheinend von nichtsgetrübt werden konnte, ganz gleich, wie er gelaunt war. Erbesaß die Selbstsicherheit, die alle Perfektionisten auszeich-net, eine Eigenschaft, die nicht unwesentlich zu seiner Beru-fung als Kommandant des neuesten Schnellboots der Küs-tenwache, der Catawaba, beigetragen hatte. Er stand auf derBrücke wie ein Kampfhahn, breitbeinig, und dachte nicht imTraum daran, den Koloss von einem Mann, der neben ihmstand, anzusehen, als er mit ihm sprach.

»Sogar mit Radar werden sie sich schwer tun, uns bei die-sem Wetter zu finden.« Der Klang seiner Stimme war eben-so schneidend und durchdringend wie die kalte Atlantikluft.»Die Sichtweite beträgt kaum eine Meile.«

Langsam und bedächtig warf Lieutenant Amos Dover,der stellvertretende Kommandant auf der Catawaba, eineZigarettenkippe in die Luft und betrachtete mit wissen-schaftlichem Interesse, wie der rauchende weiße Stummel

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vom Wind über die Schiffsbrücke weit hinaus in die beweg-te See gerissen wurde.

»Es wurde auch nichts ändern, wenn sie es schafften«,quetschte er undeutlich zwischen den Lippen hervor, die indem eisigen Wind blau angelaufen waren. »So wie wir hierherumschlingern, müsste der Hubschrauberpilot entwederstrohdumm oder stinkbesoffen oder beides sein, wenn erauch nur im entferntesten daran dächte, hier herunterzuge-hen.« Dabei deutete er mit dem Kinn auf die Landeplattformder Catawaba, die von der sprühenden Gischt völlig nasswar.

»Manchen Leuten ist es gleich, wie sie sterben«, sagteKoski ernst.

»Niemand kann behaupten, sie wären nicht gewarnt wor-den.« Dover sah nicht nur aus wie ein großer Bär, auch seineStimme schien tief aus dem Leib zu kommen, sodass sie wieein Brummen klang. »Ich habe den Hubschrauber benach-richtigt, gleich nachdem er von St. John’s abgeflogen war,und ihm mitgeteilt, dass ich ihm wegen des starken Seegangsvon einem Rendezvous dringend abriete. Alles, was der Pi-lot darauf antwortete, war ein freundliches Dankeschön.«

Es begann nun zu nieseln, und die fünfundzwanzig Kno-ten schnelle Brise peitschte den Regen derart über das Schiff,dass alle Männer, die auf Deck Dienst taten, schleunigst ihrÖlzeug holten. Die Catawaba und ihre Crew hatten Glück.Die Lufttemperatur lag gerade noch ein paar Grad über demGefrierpunkt, sonst wäre das Schiff bald mit einer Eisschichtüberzogen gewesen.

Koski und Dover hatten eben ihr Ölzeug angezogen, alsder Lautsprecher auf der Brücke metallisch knackte: »Käp-t’n, wir haben eben den Vogel im Radar reingekriegt und lei-ten ihn her.«

Koski griff zu seinem Sprechfunkgerät und bestätigte den

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Empfang: »Ich fürchte, da braut sich ein Unwetter zusam-men.«

»Sie wollen wissen, wieso wir eigentlich unbedingt Passa-giere an Bord nehmen sollen?«

»Wollen Sie es nicht wissen?«»Allerdings. Und ich möchte weiter wissen, warum der

Befehl, sich zur Verfügung zu halten und einen Zivilhub-schrauber an Bord zu nehmen, direkt aus dem Hauptquar-tier in Washington und nicht von unserer eigenen Bezirks-zentrale kam.«

»Es war verdammt unklug vom Kommandanten«, brumm-te Koski, »uns nicht zu erzählen, was diese Leute wollen. Ei-nes ist sicher: Eine Vergnügungsreise nach Tahiti ist dasnicht.«

Koski erstarrte plötzlich und horchte in die Richtung, ausder das unverkennbare Knattern der Rotorblätter eines He-likopters ertönte. Eine halbe Minute lang blieb er noch un-sichtbar hinter den Wolken, dann erblickten ihn die beidenMänner gleichzeitig. Der Hubschrauber kam von Westendurch den dünnen Regen und hielt direkt auf das Schiff zu.Koski identifizierte ihn sofort als die zweisitzige zivile Ver-sion des Ulysses Q-55, einer Maschine, die über vierhun-dertfünfzig Kilometer in der Stunde fliegen konnte.

»Er ist verrückt, wenn er es versucht«, erklärte Dover tro-cken.

Koski sagte nichts. Er griff erneut nach seinem Walkie-Talkie und schrie: »Setzen Sie sich mit dem Piloten des Heli-kopters in Verbindung und sagen Sie ihm, er soll nicht ver-suchen zu landen, solange wir durch drei Meter hohe Wellenstampfen. Sagen Sie ihm, dass ich jede Verantwortung fürsein Wahnsinnsunternehmen ablehne.«

Koski wartete ein paar Sekunden und ließ den Hub-schrauber nicht aus den Augen: »Also?«

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Es krachte im Lautsprecher: »Der Pilot sagt, er wäre Ihnenfür Ihre Anteilnahme äußerst dankbar, Käpt’n. Ferner lässt erfragen, ob Sie ein paar Männer zur Hand haben, die das Fahr-gestell sichern, sobald er auf dem Landeplatz aufsetzt.«

»Er ist ein liebenswürdiger Scheißkerl«, grunzte Dover.»Das muss man ihm zugute halten.«

Koski schob sein Kinn vor und umklammerte den Stielseiner Pfeife mit der Gewalt eines Schraubstocks. »Zur Höl-le mit seiner Liebenswürdigkeit! Die Chancen stehen ausge-zeichnet, dass dieser Idiot mir ein gutes Stück von meinemSchiff zertrümmert.« Er zuckte resigniert die Achseln, er-griff ein Megaphon und schrie in das Mundstück: »Inspi-zient Thorp! Halten Sie Ihre Leute bereit, um diesen Vogelbei der Landung zu sichern. Aber lassen Sie sie um Gotteswillen so lange in Deckung bleiben, bis er sicher aufgesetzthat – und halten Sie auch eine Rettungsmannschaft bereit!«

»Ich würde in diesem Augenblick um keinen Preis mitden Burschen dort oben tauschen«, meinte Dover mit seinerBärenstimme, »selbst wenn ich dafür alle Schönheitsköni-ginnen Hollywoods bekäme.«

Die Catawaba durfte auf keinen Fall geraden Kurs mitdem Wind halten, überlegte Koski, sonst würden die durchdie Schiffsaufbauten verursachten Turbulenzen den Hub-schrauber ins sichere Verderben schleudern. Wenn er dasSchiff andererseits quer zum Wind stellte, würde es viel zustark rollen, um eine sichere Landung auf der Plattform zuerlauben. Seine jahrelangen Erfahrungen und sein Urteils-vermögen, gepaart mit dem Wissen um die Eigenheiten derCatawaba, ließen seinen Entschluss fast zu einer Routineent-scheidung werden. »Wir werden ihn mit Rückenwind herlot-sen, mit dem Bug gegen die See. Drosseln Sie die Geschwin-digkeit und veranlassen Sie den nötigen Kurswechsel.«

Dover nickte und verschwand im Ruderhaus. Etwas spä-

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ter erschien er wieder. »Befehl ausgeführt. Das Schiff liegtmit der See und läuft so gleichmäßig, wie es der Seegang er-laubt.«

Gebannt starrten Koski und Dover auf den hellgelbenHelikopter. Er schwebte durch den Nebel heran und näher-te sich in einem Dreißig-Grad-Winkel zu dem gischtendenKielwasser dem Heck der Catawaba. Obwohl der Wind dieUlysses arg herumstieß, gelang es dem Piloten, die Maschineauf gleicher Höhe zu halten. Nach etwa hundert Meternging er allmählich mit der Geschwindigkeit herunter, bis erschließlich wie ein Kolibri über der auf und ab schaukelndenPlattform in der Luft stand. Der Helikopter – Koski kam eswie eine Ewigkeit vor – behielt noch immer seine Höhe bei;der Pilot versuchte abzuschätzen, wie hoch sich das Heckdes Schnellboots mit jedem Wellenberg hob. Als die Lande-plattform sich wieder einmal auf dem Gipfelpunkt befand,nahm er plötzlich Gas weg, und die Ulysses setzte sauber aufder Catawaba auf, nur einen Augenblick, bevor das Heckwieder in das nächste Wellental sackte.

Die Kufen hatten kaum die Plattform berührt, als auchschon fünf Männer der Schiffscrew über das schwankendeDeck flitzten und im Kampf mit dem Sturm begannen, denHelikopter abzusichern, ehe dieser ins Wasser gefegt wurde.Der Motor erstarb, die Rotorblätter hörten auf sich zu dre-hen, und an der Seite des Cockpits öffnete sich eine Tür.Zwei Männer sprangen herunter, mit eingezogenen Köpfen,gegen den peitschenden Sprühregen.

»Dieser Hundesohn!«, murmelte Dover verblüfft. »Essah aus, als wäre es eine Routinesache!«

Koskis Gesicht verhärtete sich. »Ich kann den beiden nurwünschen, dass sie ein erstklassiges Empfehlungsschreibenhaben. Und dass ihr Amtssitz das Hauptquartier der Küs-tenwache in Washington ist.«

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Dover lächelte. »Vielleicht sind es Mitglieder des Kon-gresses, die sich auf einer Inspektionsreise befinden.«

»Unwahrscheinlich«, erwiderte Koski kurz.»Soll ich sie in Ihre Kabine bringen?«Koski schüttelte den Kopf. »Nein. Überbringen Sie ihnen

meine Empfehlungen und schaffen Sie sie in die Offiziers-messe.« Dann grinste er verschlagen. »Im Moment ist daseinzige, was mich interessiert, eine Tasse Kaffee.«

Nach genau zwei Minuten saß Commander Koski an einemTisch in der Offiziersmesse und umfasste mit seinen durch-gefrorenen Händen dankbar einen Becher mit dampfendemKaffee. Er hatte ihn fast zur Hälfte geleert, als sich die Türöffnete und Dover den Raum betrat, gefolgt von einemrundlichen Menschen mit einer großen randlosen Brille, dieauf einem kahlen, von wirrem weißen Haar umkränztenKopf saß. Auf den ersten Blick wirkte er auf Koski wie derberühmte zerstreute Professor. Sein Gesicht war rund, seinAusdruck gütig, und in seinen braunen Augen steckte einverschmitztes Lächeln. Der Neuankömmling erblickte denCommander, ging auf seinen Tisch zu und streckte ihm dieHand entgegen.

»Commander Koski, nehme ich an. Hunnewell ist meinName – Dr. Bill Hunnewell. Es tut mir Leid, dass ich Sie sobelästige.«

Koski erhob sich und schüttelte Hunnewell die Hand.»Willkommen an Bord, Doktor. Bitte setzen Sie sich dochund trinken Sie eine Tasse Kaffee.«

»Kaffee? Ich kann dieses Zeug nicht ausstehen«, erwider-te Hunnewell düster. »Aber ich würde für mein Leben gerneine Tasse heißen Kakao trinken.

»Kakao haben wir da«, erklärte Koski liebenswürdig. Erlehnte sich in seinen Stuhl zurück und rief: »Brady!«

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Ein Steward in einer weißen Jacke kam aus der Kombüsezum Vorschein. Er war groß und mager und seinen Gangkonnte er sich nur in Texas angeeignet haben. »Ja, Sir? Wasdarf es sein?«

»Eine Tasse Kakao für unseren Freund und zwei weitereBecher Kaffee für Lieutenant Dover und …« Koski hieltinne und schaute fragend hinter Dover. »Ich glaube, DoktorHunnewells Pilot fehlt noch?«

»Er ist in einer Minute da.« Dover sah unglücklich aus. Esschien, als wollte er Koski warnen. »Er wollte sich erst nochvergewissern, dass der Hubschrauber auch sicher vertäutist.«

Koski blickte Dover durchdringend an, dann wandte ersich ab. »Das ist alles, Brady. Bringen Sie gleich die ganzeKanne. Ich kann auch noch einen Becher Kaffee vertragen.«

Brady nickte bestätigend und kehrte in die Kombüse zu-rück.

»Es ist wirklich angenehm«, meinte Doktor Hunnewell,»wieder vier feste Wände um sich zu haben. In dieser Schau-kelkiste zu sitzen und nur durch eine Plastikwand von denNaturgewalten getrennt zu sein, genügt, um graue Haare zubekommen.« Er fuhr sich über den schütteren weißen Haar-kranz und grinste.

Koski setzte seinen Becher ab und sah Hunnewell ernstan. »Ich glaube, Sie haben nicht bemerkt, Dr. Hunnewell,wie dicht Sie daran waren, nicht nur Ihre wenigen Haare zuverlieren, sondern gleich Ihr Leben. Es war überaus leicht-fertig von Ihrem Piloten, bei diesem Wetter überhaupt an ei-nen Flug zu denken.«

»Ich kann Ihnen versichern, Sir, dass dieser Ausflug not-wendig war.« Hunnewell sprach in einem wohlwollendfreundlichen Ton, wie er vielleicht einen Schuljungen belehrthätte. »Sie, Ihr Schiff und Ihre Mannschaft haben eine hoch-

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wichtige Aufgabe zu erfüllen, und alles kommt auf einepünktliche Erledigung an. Wir können es uns nicht leisten,auch nur eine Minute zu verlieren.« Er zog einen Stoß Papie-re aus seiner Brusttasche und schob sie Koski über den Tischzu. »Ich muss Sie bitten, sofort Kurs auf dieses Gebiet zu neh-men. Inzwischen erkläre ich Ihnen unser Erscheinen hier.«

Koski nahm die Papiere an sich, ohne sie durchzusehen.»Verzeihen Sie, Doktor Hunnewell, aber ich bin nicht be-fugt, Ihren Wünschen zu entsprechen. Der einzige Befehl,den ich von der Zentrale erhalten habe, ist der, zwei Passa-giere an Bord zu nehmen. Es wurde nichts davon erwähnt,dass Sie das Kommando über mein Schiff zu übernehmenhätten.«

»Sie verstehen nicht.«Koski warf Hunnewell über seinen Kaffeebecher hinweg

einen durchbohrenden Blick zu. »Das, Doktor, ist einiger-maßen untertrieben. In welcher Eigenschaft kommen Sie?Weshalb sind Sie hier?«

»Beruhigen Sie sich, Commander. Ich bin kein feindlicherAgent, der auf Ihrem wertvollen Schiff Sabotage treiben will.Ich habe meinen Dr. phil. in Ozeanographie gemacht, undzur Zeit bin ich bei der National Underwater and MarineAgency beschäftigt.«

»Ich wollte Sie nicht kränken«, erwiderte Koski ruhig.»Aber trotzdem bleibt noch eine Frage offen.«

»Vielleicht kann ich sie Ihnen beantworten.« Die neueStimme hörte sich sanft an, doch schwang in ihr eine selbst-bewusste Sicherheit mit.

Koski richtete sich in seinem Stuhl auf und drehte sichnach einem großen, gut aussehenden Mann um, der lässig imTürrahmen lehnte. Das von Wind und Wetter gegerbte Ge-sicht, die harten, beinahe brutalen Züge und die durchdrin-genden grünen Augen, all das ließ darauf schließen, dass die-

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ser Mann sich nicht auf der Nase herumtanzen ließ. Er trugdie blaue Fliegerkombination der Air Force, blickte gelang-weilt durch den Raum, und dann grinste er Koski herablas-send an.

»Ah, da sind Sie ja«, sagte Hunnewell laut. »CommanderKoski, darf ich Ihnen Major Dirk Pitt, den Leiter desSonderdezernats der NUMA, vorstellen?«

»Pitt?«, wiederholte Koski verblüfft. Er starrte Dover anund zog eine Augenbraue hoch. Dover zuckte nur die Ach-seln und sah aus, als fühlte er sich nicht recht wohl in seinerHaut. »Etwa derselbe Pitt, der letztes Jahr den Unterwasser-schmuggel in Griechenland aufgedeckt hat?«

»Es waren wenigstens zehn Leute, die mehr als ich dazubeigetragen haben«, meinte Pitt.

»Ein Offizier der Luftwaffe, der an einem ozeanographi-schen Projekt arbeitet«, sagte Dover. »Das ist ja nicht geradeIhr Metier, Major.«

Die Falten um Pitts Augen wurden zur Basis eines Lä-chelns. »Es ist genauso wenig mein Metier, wie es für dieLeute von der Marine ihr Metier war, zum Mond zu fliegen.«

»Da haben Sie allerdings Recht«, pflichtete ihm Koski bei.Brady erschien und servierte den Kaffee und den Kakao.

Er ging wieder, tauchte jedoch gleich noch einmal auf mit ei-nem Tablett voller Sandwiches, um dann endgültig zu ver-schwinden.

Koski war es höchst ungemütlich zumute. Ein Wissen-schaftler von einer einflussreichen Regierungsbehörde – daskonnte kaum etwas Gutes bedeuten. Ein Offizier, der aus ei-ner völlig anderen Waffengattung stammte und für seine ge-fährlichen Eskapaden bekannt war – das war ausgesprochenschlecht. Und wenn gar beide zusammen auftraten, ihm hieram Tisch gegenübersaßen und ihm vorschrieben, was er zutun und zu lassen hatte, so war das fast schlimmer als die Pest.

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»Wie gesagt, Commander«, sagte Hunnewell ungeduldig,»wir müssen so schnell wie möglich Kurs auf das von mir ge-nannte Gebiet nehmen.«

»Nein«, lehnte Koski brüsk ab. »Es tut mir leid, wenn ichstarrköpfig erscheine, doch Sie müssen mir zustimmen, dasses mein Recht ist, die Ausführung Ihrer Befehle zu verwei-gern. Als Kapitän dieses Schiffes bin ich lediglich verpflich-tet, den Anweisungen zu gehorchen, die entweder von derBezirksleitung der Coast Guard in New York oder aus derZentrale in Washington kommen.« Er legte eine Pause ein,um sich eine neue Tasse Kaffee einzugießen. »Und meine Be-fehle lauten, zwei Passagiere an Bord zu nehmen, nicht mehrund nicht weniger. Ich habe diesem Befehl entsprochen, undjetzt setze ich meinen ursprünglichen Patrouillenkurs fort.«

Pitts Augen musterten Koskis steinerne Gesichtszügeebenso, wie ein Metallurg einen hochwertigen Stahlguss aufFehler untersucht hätte.

Plötzlich stand er auf. Er ging bedächtig zur Kombüsen-tür hinüber und warf einen Blick in die Küche hinein. Bradywar gerade dabei, einen großen Sack Kartoffeln in einenDampftopf zu schütten. Dann wandte Pitt sich, immer nochschweigend, um und inspizierte den Korridor vor der Messe.Sein kleiner Trick funktionierte; Koski und Dover tauschtenverwirrte Blicke aus, während sie seine Bewegungen ver-folgten. Als er sicher zu sein schien, dass sie keine Lauscherhatten, ging Pitt zum Tisch, setzte sich und beugte sich zuden beiden Offizieren der Coast Guard hinüber. Seine Stim-me war nur noch ein Flüstern: »Meine Herren, es handeltsich um folgendes: Die Papiere, die Dr. Hunnewell Ihnen ge-geben hat, beschreiben den ungefähren Standort eines Eis-bergs, der für uns von größter Bedeutung ist.«

Koski stieg eine leichte Röte in die Wangen, aber es gelangihm, eine gelassene Miene zu bewahren. »Und was, wenn ich

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die törichte Frage stellen darf, bezeichnen Sie als einen Eis-berg von höchster Wichtigkeit?«

Pitt machte eine bedeutungsvolle Pause. Dann sagte er:»Einen, in dem die Überreste eines Schiffes eingeschlossensind. Eines russischen Kutters, um genau zu sein, der mit denneuesten und raffiniertesten Aufklärungsgeräten ausgerüstetist, die die Sowjets bisher entwickelt haben. Zudem beher-bergt er den Code und die Daten für ihr gesamtes Aufklä-rungsprogramm in der westlichen Hemisphäre.«

Koski blinzelte nicht einmal. Ohne seine Augen von Pittzu wenden, holte er unter seiner Jacke einen Tabaksbeutelhervor und begann seelenruhig seine Maiskolbenpfeife zustopfen.

»Vor sechs Monaten«, fuhr Pitt fort, »kreuzte ein russi-scher Kutter namens Nowgorod einige Meilen vor der Küs-te Grönlands und überwachte die U.S.-Air-Force-Raketen-basis in Disko Island. Luftaufnahmen ergaben, dass dieNowgorod mit allen bisher bekannten elektronischen Emp-fangsantennen ausgerüstet war und auch noch einige zusätz-liche, bisher unbekannte besaß. Die Russen agierten äußerstklug. Der Kutter mitsamt seiner Besatzung, 35 hervorragendausgebildeten Männern und auch einigen Frauen, verirrtesich nie in grönländische Hoheitsgewässer. Unsere Pilotenwaren sogar ganz froh über ihn; sie benutzten ihn als Orien-tierungspunkt bei schlechtem Wetter. Die meisten russi-schen Spionageboote werden nach dreißig Tagen abgelöst,doch dieses behielt seine Position gut drei Monate lang bei.Unsere Marineaufklärung begann sich schon über den lan-gen Aufenthalt zu wundern. Dann war die Nowgorod an ei-nem stürmischen Morgen verschwunden. Das geschah fastdrei Wochen, bevor das Schiff erschien, das sie ablösen soll-te. Diese Verzögerung machte die ganze Angelegenheit nochmysteriöser – bis dahin war es noch nie passiert, dass die

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Russen ein Aufklärungsschiff zurückzogen, ehe nicht dieAblösung an Ort und Stelle war.«

Pitt schnippte die Asche von seiner Zigarette. Dann fuhrer fort: »Es gibt nur zwei Routen, die die Nowgorod auf ih-rem Heimweg benutzen konnte. Die eine führt über dieOstsee nach Leningrad und die andere durch die Barentsseenach Murmansk. Die Norweger und die Briten haben jedochaufs bestimmteste versichert, dass die Nowgorod keine vonbeiden befahren hat. Kurz gesagt: Irgendwo zwischen Grön-land und Europa ist die Nowgorod mit Mann und Maus ver-schwunden.«

Koski setzte seinen Becher ab und starrte nachdenklichauf den schmutzigen Boden. »Es berührt mich merkwürdig,dass die Küstenwache darüber nicht informiert wurde. Ichweiß bestimmt, dass wir nie einen Bericht über einen ver-missten russischen Kutter erhalten haben.«

»Das kam Washington ebenfalls spanisch vor. Warumsollten die Russen den Verlust der Nowgorod geheim halten?Die einzig logische Antwort war, dass sie vermeiden wollten,dass irgendeine westliche Nation die Spuren ihres moderns-ten Spionageschiffs entdecken könnte.«

Koskis Lippen verzogen sich zu einem sarkastischen Lä-cheln. »Und Sie meinen, ich kaufe Ihnen ein sowjetischesSpionageschiff, das in einen Eisberg eingeschlossen ist, ab?Kommen Sie, Major! Seit ich entdeckt habe, dass am Endeeines Regenbogens nie ein Topf voll Gold steht, glaube ichan keine Märchen mehr.«

Pitt lächelte zurück. »Sei’s drum. Auf jeden Fall hat eineIhrer eigenen Patrouillenmaschinen in einem Eisberg einSchiff entdeckt, das genau wie ein Kutter aussieht, und zwarin 47 Grad 36 Minuten nördlicher Breite und 43 Grad 17 Mi-nuten westlicher Länge.«

»Es stimmt«, erwiderte Koski kühl, »die Catawaba ist das

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Wachschiff, das dieser Position am nächsten steht. Aber wa-rum habe ich den Befehl, die Angelegenheit zu überprüfen,nicht direkt von der New Yorker Bezirkszentrale erhalten?«

»Das ist bei Spionegeaffären immer so«, antwortete Pitt.»Das letzte, was die Jungs in Washington wollen, ist ein öf-fentlicher Verkehr über Funk. Zum Glück hat der Pilot derMaschine, die den Eisberg entdeckt hat, bis zu seiner Lan-dung gewartet und erst dann einen genauen Lagebericht ge-geben. Wir stellen uns natürlich vor, dass wir uns den Kutterschnappen, bevor die Russen überhaupt Wind davon krie-gen. Ich glaube, Sie können sich denken, Commander, wieunschätzbar wertvoll jede geheimdienstliche Information,welche die russischen Spionageschiffe betrifft, für unsereRegierung ist.«

»Ich hielte es für vernünftiger, einige Geheimdienstleutezu dem Eisberg zu schicken, die eine Ahnung von Elektro-nik und vom Knacken eines Geheimcodes haben.« Die fastunmerkliche Änderung in Koskis Stimme konnte kaum alsEinlenken bezeichnet werden, doch sie war nicht zu über-hören. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich sage,ein Pilot und ein Ozeanograph scheinen mir hier ein bis-schen fehl am Platze.«

Pitt sah Koski durchdringend an, schaute kurz zu Doverhinüber und fixierte dann wieder Koski. »Das ist nur Tar-nung«, erklärte er gedämpft. »Und zwar aus folgendemGrund. Die Russen sind nicht auf den Kopf gefallen, wasSpionage betrifft. Sie müssen einfach misstrauisch werden,wenn sich eine Militärmaschine in einem Gebiet über der of-fenen See herumtreibt, das nur wenige, wenn überhauptirgendwelche Schiffe passieren. Die Flugzeuge der Nationa-len Tiefsee- und Marinebehörde dagegen sind allgemein da-für bekannt, dass sie wissenschaftliche Projekte in abgelege-nen Teilen der Meere durchführen.«

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»Und wofür sind Sie qualifiziert?«»Ich kann einen Hubschrauber bei arktischem Wetter flie-

gen, und Dr. Hunnewell ist zweifellos die größte Kapazitätauf dem Gebiet der Glaziologie«, antwortete Pitt.

»Ich verstehe«, meinte Koski langsam. »Dr. Hunnewelluntersucht den Eisberg, bevor die Jungs vom Geheimdienstdie Gesellschaft hochgehen lassen.«

»Sie haben es erfasst«, bestätigte Hunnewell. »Wennwirklich die Nowgorod unter dem Eis liegt, dann ist es mei-ne Aufgabe, die günstigste Methode herauszufinden, um denSchiffsrumpf freizulegen.

Sie wissen sicher, dass mit einem Eisberg umzugehen ei-nem Lotteriespiel gleicht. Es ist ähnlich wie beim Zerschnei-den von Diamanten; eine falsche Berechnung des Schleifers,und alles ist aus. Zu viel Dynamit an der falschen Stelle, unddas Eis springt und splittert auseinander. Oder man schmilztzu stark und zu rasch ab, der Schwerpunkt verschiebt sich,und der ganze Berg kippt um. Sie sehen also, dass es unbe-dingt notwendig ist, das Eis gründlich zu untersuchen. Sonstbekommt man die Nowgorod nie frei.«

Koski lehnte sich zurück und entspannte sich. Sein Blickruhte einen Moment lang auf Pitt, dann lächelte er. »Lieute-nant Dover!«

»Sir?«»Bitte erfüllen Sie das Begehren dieser Herrschaften und

nehmen Sie Kurs auf 47 Grad 36 Minuten Nord, 43 Grad 17Minuten West, volle Kraft voraus. Und benachrichtigen Siedie Bezirksleitung in New York, dass wir unsere Positionverlassen.«

Er schaute, ob sich irgendetwas in Pitts Miene veränderte.Aber dieser blieb unbewegt. »Nicht, dass ich Ihnen zu nahetreten wollte«, meinte er allerdings. »Aber ich schlage vor,dass Sie Ihre Bezirksleitung lieber nicht unterrichten.«

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»Ich bin nicht misstrauisch oder so etwas, Major«, ent-gegnete Koski entschuldigend. »Es gehört nur nicht zu mei-nen Gewohnheiten, den ganzen Atlantik zu durchkreuzenund dabei die Coast Guard im Ungewissen zu lassen, wo ihrSchiff geblieben ist.«

»Okay, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie unser Zielnicht nennen wollten.« Pitt drückte seine Zigarette aus.»Und bitte benachrichtigen Sie das Marineministerium, dassDr. Hunnewell und ich sicher auf der Catawaba gelandetsind und unseren Flug nach Reykjavik fortsetzen, sobaldsich das Wetter aufklärt.«

Koski zog die Augenbrauen hoch. »Reykjavik? Island?«»Ganz richtig. Das ist unser Ziel«, bestätigte Pitt.Koski wollte etwas sagen, dann überlegte er es sich anders

und zuckte nur die Achseln. »Ich sollte Ihnen Ihre Quartie-re zeigen, meine Herren.« Er wandte sich an Dover: »Dr.Hunnewell kann in der Kabine des Maschinisten schlafen.Major Pitt kann mit Ihnen zusammenziehen, Lieutenant.«

Pitt grinste Dover an, dann wandte er sich wieder an Kos-ki: »Sie wollen mich im Auge behalten?«

»Das haben Sie gesagt, nicht ich«, erwiderte Koski lako-nisch.

Vier Stunden später lag Pitt vor sich hindösend auf demFeldbett, das man in die eiserne Höhle gequetscht hatte, dieDover seine Kabine nannte. Er war zu Tode erschöpft, doches gingen ihm zu viele Gedanken durch den Kopf, als dass erhätte einschlafen können. Vor einer Woche hatte er um die-se Zeit noch auf der Terrasse des Newport Inn gesessen, zu-sammen mit einer wundervollen rothaarigen Nymphoma-nin, und hatte die herrliche Aussicht auf die Küste vonNewport Beach, Kalifornien, genossen. Er erinnerte sichvoller Begeisterung, wie er mit der einen Hand das Mädchengestreichelt und in der anderen einen Whisky on the Rocks

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gehalten und wie er die im mondbeschienenen Hafen ge-spenstergleich dahingleitenden Yachten beobachtet hatte, ei-nig mit sich und der Welt. Nun war er allein und lag auf ei-nem brettharten Faltbett in einem schlingernden Kutter derCoast Guard, der irgendwo auf dem eiskalten Atlantik da-hinfuhr. Ich muss ein ausgesprochener Masochist ein, dassich mich freiwillig zu jedem idiotischen Unternehmen mel-de, das Admiral Sandecker ausheckt. Admiral James San-decker, Generaldirektor der National Underwater and Mari-ne Agency, wäre bei dem Ausdruck »idiotisches Unterneh-men« zusammengefahren – er hätte es eher eine verdammtharte Geschichte genannt.

Wie hatte er doch vor wenigen Tagen, als er das Kom-mando zu diesem Unternehmen gegeben hatte, gesagt?

»Es tut mir Leid, dass ich Sie aus dem sonnigen Kalifor-nien holen muss. Aber es geht um eine verteufelt schwierigeSache.«

Sandecker, ein kleiner, rothaariger Mann mit dem Gesichteiner Bulldogge, schwang seine fünfzehn Zentimeter langeZigarre wie ein Dirigent durch die Luft. »Wir sind damit be-auftragt, eine wissenschaftliche Forschungsarbeit unterWasser durchzuführen. Warum ausgerechnet wir? Warumnicht die Marine? Man sollte annehmen, die Küstenwachekönnte ihre Probleme selbst lösen.« Er schüttelte irritiertseinen Kopf und zog an seiner Zigarre. »Jedenfalls haben sieuns die Angelegenheit aufgehalst.«

Pitt hatte zu Ende gelesen und legte den gelben Akten-ordner mit der Aufschrift »Vertraulich« auf den Schreibtischdes Admirals zurück. »Ich hätte nicht gedacht, dass sich einSchiff in einen Eisberg einfrieren lässt.«

»Es ist auch höchst unwahrscheinlich, doch Dr. Hunne-well hat mir versichert, dass es vorkommen kann.«

»Den richtigen Berg zu finden könnte sich schon als

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schwierig erweisen. Es ist immerhin vier Tage her, dass ihndie Küstenwache gesichtet hat. Dieser entzückende Eiswür-fel könnte inzwischen die halbe Strecke zu den Azoren zu-rückgelegt haben.«

»Dr. Hunnewell hat seine Position auf Grund der Strö-mungsgeschwindigkeiten und seiner Drift auf ein 100 Qua-dratkilometer großes Gebiet eingegrenzt. Wenn die Sicht gutist, sollte es Ihnen nicht schwerfallen, den Berg zu finden,vor allem, weil die Küstenwache ihn rot markiert hat.«

»Ihn aufzuspüren ist eine Sache«, sagte Pitt nachdenklich.»Auf ihm zu landen eine andere. Wäre es nicht klüger undauch ungefährlicher, mit einem …«

»Nein!«, unterbrach ihn Sandecker. »Keine Schiffe. Wenndas Ding in dem Eisberg so brisant ist, wie ich vermute,möchte ich, dass ihm keiner außer Ihnen und Dr. Hunnewellnäher als 100 Kilometer kommt.«

»Es mag Sie vielleicht überraschen, Admiral, aber ich binbisher noch nie mit einem Hubschrauber auf einem Eisberggelandet.«

»Wahrscheinlich hat das auch noch kein anderer gewagt.Eben darum habe ich Sie in Ihrer Funktion als Leiter desSonderdezernats hierhergebeten!« Sandecker lächelte bos-haft. »Sie haben das – sagen wir einmal: ärgerliche – Ge-schick, stets erfolgreich zu sein.«

»Ich darf mich diesmal«, fragte Pitt zweideutig, »sicherwieder freiwillig melden?«

»So kann man es ausdrücken.«Pitt zuckte hilflos die Achseln. »Ich weiß nicht, warum

ich Ihnen immer so leicht nachgebe, Admiral. Ich fange anzu glauben, dass Sie einen erstklassigen Narren aus mir ge-macht haben.«

Ein breites Grinsen zog über Sandeckers Gesicht. »Dashaben Sie gesagt, nicht ich.«

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Pitts Erinnerungen an sein Rendezvous mit dem AdmiralSandecker machten ihm nur teilweise Spaß. Nun sah er sichgestört.

Die Klinke wurde nämlich heruntergedrückt, und die Türging auf. Pitt öffnete träge ein Auge, es war Dr. Hunnewell.Der übergewichtige Doktor vollzog einen Balanceakt, als erversuchte, sich zwischen Pitts Liege und Dovers Spind hin-durchzumanövrieren, und landete endlich auf einem kleinenStuhl neben dem Schreibtisch. Sein lautes Stöhnen vermisch-te sich mit dem Ächzen des Stuhls, als er seinen massigenKörper zwischen die Lehnen fallen ließ.

»Wie um Himmels willen kann sich nur so ein Riese wieDover in so einen kleinen Stuhl zwängen?«, fragte er un-gläubig, mehr zu sich selbst als zu Pitt gewandt.

»Sie kommen spät«, gähnte Pitt. »Ich habe Sie schon vorStunden erwartet.«

»Ich konnte ja nicht um die Ecken schleichen oder durchdie Ventilatoren schlüpfen, als wäre ich selbst ein Spion. Ichmusste auf einen guten Vorwand warten, um mit Ihnen zusprechen.«

»Einen Vorwand?«»Ja. Schöne Grüße von Commander Koski. Das Dinner

ist serviert.«»Warum diese ganze Heimlichtuerei?«, fragte Pitt mit ei-

nem gerissenen Grinsen. »Wir haben nichts zu verbergen.«»Nichts zu verbergen! Nichts zu verbergen! Sie liegen da

wie eine unschuldige Jungfrau, die keine Sünde kennt, undsagen seelenruhig, wir hätten nichts zu verbergen!« Hunne-well schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wir kommen beidevor ein Militärgericht, wenn die von dem faulen Trick erfah-ren, mit dem wir ihnen eines ihrer neuen Küstenboote ent-führt haben.«

»Hubschrauber haben die dumme Angewohnheit, dass

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sie nicht mit Luft im Tank fliegen«, meinte Pitt sarkastisch.»Wir brauchen einen festen Standort für unser Unterneh-men und einen Platz, wo wir auftanken können. Die Cata-waba ist das einzige Schiff in dieser Gegend, das alle nötigenVoraussetzungen erfüllt. Und nebenbei waren Sie es, der dengetürkten Funkspruch aus dem Coast-Guard-Hauptquar-tier gesendet hat. Dafür sind also Sie verantwortlich.«

»Und dieses Märchen von dem vermissten russischenKutter? Sie konnten nicht abstreiten, dass das von Anfangbis Ende Ihre Idee war.«

Pitt verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrtean die Decke. »Ich dachte, sie würde jedem gefallen.«

»Das muss ich Ihnen lassen: Es war der großartigsteSchwindel, bei dem mitmachen zu müssen ich das Pechhabe.«

»Ich weiß. Es gibt Zeiten, da hasse ich mich selbst.«»Haben Sie sich überlegt, was passieren könnte, wenn

Commander Koski hinter Ihr reizendes Täuschungsmanö-ver kommt?«

Pitt erhob sich und streckte sich. »Wir tun ganz einfach,was jeder durchschnittliche amerikanische Betrüger auchtäte.«

»Und das wäre?«, fragte Hunnewell zweifelnd.Pitt lächelte. »Wir werden es reuevoll bedauern, wenn es

so weit ist.«

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Von allen Meeren ist der Atlantik am unberechenbarsten.Der Pazifik, der Indische Ozean, selbst die Arktis habenzwar alle ihre charakteristischen Tücken, doch eins ist ihnen

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gemeinsam: sie künden einen Wetterumschwung in der Re-gel lange vorher an. Nicht so der Atlantik, besonders nörd-lich des 15. Breitengrades. Innerhalb weniger Stunden kannsich eine spiegelglatte See in einen schäumenden Hexenkes-sel verwandeln, der von einem mit Windstärke 12 dahinra-senden Hurrikan aufgerührt wird. Ein andermal verhält sichdie launische Natur des Atlantiks gerade umgekehrt. Sturmund eine schwere See während der Nacht scheinen sichereAnzeichen für ein drohendes Unwetter, doch wenn es däm-mert, ist nichts außer einer azurblauen, spiegelglatten Was-serfläche unter dem blanken Himmel zu sehen. So erging esden Männern der Catawaba, als der Morgen gemütlich übereiner friedlichen See heraufdämmerte.

Pitt erwachte langsam. Sein erster Blick fiel auf dasHinterteil einer riesigen, weißen Hose, die voll und ganz vonDover ausgefüllt wurde. Der Lieutenant beugte sich geradeüber ein kleines Waschbecken und putzte sich die Zähne.

»Sie haben nie hübscher ausgesehen«, begrüßte ihn Pitt.Dover drehte sich um. Die Zahnpaste lief ihm über das

Kinn. »Wie bitte?«»Ich sagte: Guten Morgen.«Dover nickte nur, murmelte irgendetwas Unverständli-

ches durch die Zähne und drehte sich wieder dem Waschbe-cken zu.

Pitt setzte sich auf und horchte. Nur das Dröhnen derMaschinen war zu hören und das Surren des Ventilators, derwarme Luft in die Kabine blies. Die Bewegung des Schiffeswar so sanft, dass man sie kaum spürte.

»Ich möchte nicht als ein unhöflicher Gastgeber erschei-nen, Major«, sagte Dover; »aber ich würde vorschlagen, dassSie sich erheben. In etwa anderthalb Stunden müssten wir indem Gebiet sein, das Sie absuchen wollen.«

Pitt warf die Decken beiseite und stand auf. »Zunächst

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einmal das Wichtigste: Wie ist eigentlich das Frühstück inIhrem Etablissement?«

»Im Guide Michelin würde es zwei Sterne haben«, er-widerte Dover fröhlich. »Ich will es gerade zu mir nehmen.«

Pitt wusch sich flüchtig, beschloss, sich nicht zu rasieren,und zog schnell seine Fliegerkombination über. Er folgteDover über den Korridor, voller Verwunderung, wie einMann von der Größe dieses Lieutenants sich auf dem Schiffbewegen konnte, ohne sich nicht wenigstens zehnmal amTag den Kopf an den niedrigen Schotts einzustoßen.

Sie hatten eben das Frühstück beendet, das nach PittsSchätzung in jedem besseren Hotel wenigstens fünf Dollargekostet hätte, als ein Matrose heraufkam und ausrichtete,Commander Koski bitte sie in den Kontrollraum auf derBrücke. Dover folgte ihm; Pitt, eine Tasse Kaffee in derHand, blieb einige Schritte hinter ihnen zurück. Der Com-mander und Dr. Hunnewell waren über einen Kartentischgebeugt, als sie eintraten.

Koski blickte auf. Sein vorgeschobenes Kinn sah nichtmehr ganz so aus wie der Bug eines Eisbrechers, und seineleuchtenden blauen Augen schienen ziemlich friedlich. »Gu-ten Morgen, Major. Gefällt es Ihnen an Bord?«

»Die Unterbringung ist etwas eng, aber das Essen ist aus-gezeichnet.«

Ein hartes, aber aufrichtiges Lächeln überzog Koskis Ge-sicht. »Was halten Sie von unserem kleinen elektronischenWunderland?«

Pitt machte eine 360-Grad-Umdrehung im Kontroll-raum. Dieser hätte aus einem Science-Fiction-Film stammenkönnen. Vom Boden bis zur Decke waren die vier Stahl-schotts von einer Unmenge Rechnern, Fernsehschirmen undInstrumenten bedeckt. Endlose Reihen von beschriftetenSchaltern und Knöpfen zogen sich quer über die Anlagen,

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