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M. Kraemer 1 • H. Lohse-Busch 1 • I. Verin 2 • M. Riedel 1 1 Theresienklinik, Bad Krozingen 2 Service d’Information mØdicale, Centre Hospitalier Guy Chatiliez, Tourcoing Befundänderungen der Röntgenfunktionsanalyse nach Weichteildistorsionen der HWS Zusammenfassung Aufgrund der anhaltenden Diskussion um die medizinische und gesellschaftliche Pro- blematik von HWS-Distorsionen und deren Folgen für die Patienten schien es von In- teresse, die Daten der Röntgenfunktions- analysen vor und nach indirektem HWS- Trauma zu vergleichen. Untersucht wurden daher Patienten, bei welchen wir aus frühe- ren Untersuchungen im Besitz einer Rönt- genfunktionsanalyse nach Arlen waren und die innerhalb von 30 Monaten Opfer eines indirekten HWS-Traumas wurden. Es wur- den spontane (nicht gehaltene) Röntgen- funktionsaufnahmen in sagittaler Richtung (Bild in Neutralhaltung des Kopfes, in maxi- maler willkürlicher Extension sowie maxi- maler Flexion) durchgeführt und die Bewe- gungsamplituden der einzelnen Wirbelkör- per statistisch ausgewertet. Dabei zeigte sich ein statistisch signifikanter Unterschied für die Gesamtamplitude sowie die Extensi- onsamplitude in den Segmenten C2, C4 und C6. Parallel wurde eine Serie von 10 Rönt- genfunktionsanalysen von freiwilligen Kol- legen ausgewertet. Das Ziel dieser Untersu- chung war der Vergleich der Röntgenfunk- tionsanalyse unter Berücksichtigung der Ar- len’schen Kriterien mit einer weiteren Analyse, bei der eine HWS-Dysfunktion nach einem zufällig ausgewählten Szenario si- muliert werden sollte. Die Ergebnisse zei- gen, daß es weitaus schwieriger ist, eine Pathologie vorzutäuschen, als von Experten angenommen wird. Beispielhaft werden bei einem Patienten die Röntgenfunktionsana- lyse von Sponatanaufnahmen im Vergleich zu gehaltenen Aufnahmen vorgestellt und diskutiert. Dabei konnte eine Verschlechte- rung der Werte der Segmente aufgezeigt werden, die bereits nach den spontanen Aufnahmen als pathologisch aufgefallen waren. Schlüsselwörter Röntgenfunktionsanalyse nach Arlen • HWS- Distorsion • Simulanten Die posttraumatischen zerviko-ze- phalen Syndrome stellen die Experten auf Grund des Mißverhältnisses zwi- schen Intensität und Dauer der Sympto- me und dem offensichtlichen Fehlen bzw. der Geringfügigkeit der radiologi- schen Läsionen vor große Probleme. Dennoch wird von verschiedenen Auto- ren unterstrichen [7, 13, 14], daß einige unfalltypische Beschwerden bei diesen Patienten konstant gefunden werden können. Das läßt auf eine klinische Ho- mogenität dieser Gruppe schließen. Die Patienten durchlaufen häufig eine wah- re Odyssee durch die verschiedenen me- dizinischen Disziplinen (Traumatolo- gie, Orthopädie, Radiologie, Neurologie etc). Schließlich wird die Symptomatik aufgrund des Fehlens sichtbarer Läsio- nen mit einem neurotischen Verhalten erklärt, wobei diese psychopathologi- schen Veränderungen manchmal in Zu- sammenhang mit dem Trauma gebracht werden In anderen Fällen sollen diese infolge des Traumas demaskiert worden sein. Oft wird auch von vornherein das Bestreben nach einem sekundären Krankheitsgewinn unterstellt. Es stellen sich mehrere Fragen: • Kann ein HWS-Trauma auch bei Ab- wesenheit von radiologisch sichtba- ren Läsionen ein sog. posttraumati- sches HWS-Syndrom bewirken? Die Antwort muß im Bereich der speziel- len Anatomie und Pathophysiologie dieser Region [13, 14] und hier insbe- sondere der Ligamente gesucht wer- den. • Haben die funktionellen HWS-Be- schwerden, die durch diesen Unfall- mechanismus hervorgerufen wurden, bei der radiologischen Untersuchung entweder auf konventionellen Auf- nahmen oder in weiter vertiefenden bildlichen Darstellungen ein Sub- strat? Gezielte Fahndung und verän- derte Sehgewohnheiten könnten zum Ziel führen. • Gibt es die Möglichkeit, einen Zusam- menhang zwischen klinischen Zei- chen und funktionellen Beschwerden aufzuzeigen? Der erste Schritt würde darin bestehen, den Patienten ledig- lich anhand der Klinik gezielt einer gründlicheren Untersuchung zuzu- führen. Diese Einstellung hätte zum Ziel, teure, unnötige und ungezielte radiologische Untersuchungen zu vermeiden. Allgemeines Bei Patienten, die an einem zerviko-ze- phalen Syndrom leiden, bringt die kör- 252 Manuelle Medizin 5·98 Manuelle Medizin 1998 · 36:252–258 Springer-Verlag 1998 Originalien Dr. M. Krämer Theresienklinik, Herbert Hellmann-Allee 11, D-78 188 Bad Krozingen

Befundänderungen der Röntgenfunktionsanalyse nach Weichteildistorsionen der HWS

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M. Kraemer1 · H. Lohse-Busch1 · I. Verin2 · M. Riedel1

1 Theresienklinik, Bad Krozingen2 Service d'Information mØdicale, Centre Hospitalier Guy Chatiliez, Tourcoing

Befundänderungen derRöntgenfunktionsanalyse nachWeichteildistorsionen der HWS

Zusammenfassung

Aufgrund der anhaltenden Diskussion umdie medizinische und gesellschaftliche Pro-blematik von HWS-Distorsionen und derenFolgen für die Patienten schien es von In-teresse, die Daten der Röntgenfunktions-analysen vor und nach indirektem HWS-Trauma zu vergleichen. Untersucht wurdendaher Patienten, bei welchen wir aus frühe-ren Untersuchungen im Besitz einer Rönt-genfunktionsanalyse nach Arlen waren unddie innerhalb von 30 Monaten Opfer einesindirekten HWS-Traumas wurden. Es wur-den spontane (nicht gehaltene) Röntgen-funktionsaufnahmen in sagittaler Richtung(Bild in Neutralhaltung des Kopfes, in maxi-maler willkürlicher Extension sowie maxi-maler Flexion) durchgeführt und die Bewe-gungsamplituden der einzelnen Wirbelkör-per statistisch ausgewertet. Dabei zeigtesich ein statistisch signifikanter Unterschiedfür die Gesamtamplitude sowie die Extensi-onsamplitude in den Segmenten C2, C4 undC6. Parallel wurde eine Serie von 10 Rönt-genfunktionsanalysen von freiwilligen Kol-legen ausgewertet. Das Ziel dieser Untersu-chung war der Vergleich der Röntgenfunk-tionsanalyse unter Berücksichtigung der Ar-len'schen Kriterien mit einer weiterenAnalyse, bei der eine HWS-Dysfunktion nacheinem zufällig ausgewählten Szenario si-muliert werden sollte. Die Ergebnisse zei-gen, daû es weitaus schwieriger ist, einePathologie vorzutäuschen, als von Expertenangenommen wird. Beispielhaft werden beieinem Patienten die Röntgenfunktionsana-lyse von Sponatanaufnahmen im Vergleichzu gehaltenen Aufnahmen vorgestellt unddiskutiert. Dabei konnte eine Verschlechte-rung der Werte der Segmente aufgezeigt

werden, die bereits nach den spontanenAufnahmen als pathologisch aufgefallenwaren.

Schlüsselwörter

Röntgenfunktionsanalyse nach Arlen · HWS-Distorsion · Simulanten

Die posttraumatischen zerviko-ze-phalen Syndrome stellen die Expertenauf Grund des Miûverhältnisses zwi-schen Intensität und Dauer der Sympto-me und dem offensichtlichen Fehlenbzw. der Geringfügigkeit der radiologi-schen Läsionen vor groûe Probleme.Dennoch wird von verschiedenen Auto-ren unterstrichen [7, 13, 14], daû einigeunfalltypische Beschwerden bei diesenPatienten konstant gefunden werdenkönnen. Das läût auf eine klinische Ho-mogenität dieser Gruppe schlieûen. DiePatienten durchlaufen häufig eine wah-re Odyssee durch die verschiedenen me-dizinischen Disziplinen (Traumatolo-gie, Orthopädie, Radiologie, Neurologieetc). Schlieûlich wird die Symptomatikaufgrund des Fehlens sichtbarer Läsio-nen mit einem neurotischen Verhaltenerklärt, wobei diese psychopathologi-schen Veränderungen manchmal in Zu-sammenhang mit dem Trauma gebrachtwerden In anderen Fällen sollen dieseinfolge des Traumas demaskiert wordensein.

Oft wird auch von vornherein dasBestreben nach einem sekundärenKrankheitsgewinn unterstellt.

Es stellen sich mehrere Fragen:

· Kann ein HWS-Trauma auch bei Ab-wesenheit von radiologisch sichtba-ren Läsionen ein sog. posttraumati-sches HWS-Syndrom bewirken? DieAntwort muû im Bereich der speziel-len Anatomie und Pathophysiologiedieser Region [13, 14] und hier insbe-sondere der Ligamente gesucht wer-den.

· Haben die funktionellen HWS-Be-schwerden, die durch diesen Unfall-mechanismus hervorgerufen wurden,bei der radiologischen Untersuchungentweder auf konventionellen Auf-nahmen oder in weiter vertiefendenbildlichen Darstellungen ein Sub-strat? Gezielte Fahndung und verän-derte Sehgewohnheiten könnten zumZiel führen.

· Gibt es die Möglichkeit, einen Zusam-menhang zwischen klinischen Zei-chen und funktionellen Beschwerdenaufzuzeigen? Der erste Schritt würdedarin bestehen, den Patienten ledig-lich anhand der Klinik gezielt einergründlicheren Untersuchung zuzu-führen. Diese Einstellung hätte zumZiel, teure, unnötige und ungezielteradiologische Untersuchungen zuvermeiden.

Allgemeines

Bei Patienten, die an einem zerviko-ze-phalen Syndrom leiden, bringt die kör-

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Manuelle Medizin1998 ´ 36:252±258 � Springer-Verlag 1998 Originalien

Dr. M. KrämerTheresienklinik, Herbert Hellmann-Allee 11,D-78 188 Bad Krozingen

perliche Untersuchung meist wenig. Be-schwerden treten oft nur unter be-stimmten Bedingungen (Immobilität,Streû, dauernde Aufmerksamkeit etc.)auf und sind meist subjektiver Art(Instabilität des Kopfes, Kopfschmer-zen, Nackenschmerzen etc.). Werdenbei der gründlichen Untersuchung neu-rologische Defizite gefunden, sind esmeist Koordinationsstörungen, diehäufig nur durch subtile dynamischeTests aufgedeckt werden. Bei der manu-almedizinischen Untersuchung hinge-gen findet man Zeichen der segmenta-len Dysfunktion der oberen HWS [6, 9,16]. Die Manuelle Medizin sieht in die-sen Dysfunktionen, deren Beseitigungeine Besserung der Symptome bewirkt,den somatischen Ursprung der Sympto-matologie und geht von der Existenz re-flektorischer und nicht rein mechani-scher Dysfunktionen aus.

Dieses Konzept wird jedoch vonFachdisziplinen, die nicht mit manual-medizinischen Untersuchungen ver-traut sind, nur widerwillig akzeptiert,

da die segmentale Dysfunktion nichtquantifizierbar sei [18, 19]. Eine subtilebeschreibende Untersuchung der mög-lichen Bewegungen im Bereich derHWS vermag indessen ein Inventar derintakten Strukturen im Vergleich zuden möglichen Dysfunktionen aufzu-stellen. Es verbleibt das Problem, Dys-funktionen zu identifizieren, die durch

eine Behandlung gebessert werdenund, die tatsächlich durch das Traumaentstanden sind. Eine Vielzahl von Au-toren wie Arlen, Gutmann oder Penning[1, 8, 19] hat sich mit der bildlichen Dar-stellung solcher Funktionsstörungenbeschäftigt.

Nach jetzigem Wissensstand kannman einen Zusammenhang zwischeneiner Dysfunktion und den klinischenSymptomen nur vermuten. Die neuro-physiologischen Mechanismen, die vonder funktionellen Störung zur manife-sten Symptomatik führen, sind komplex[5, 15], vielschichtig und noch zu wenigverstanden [3, 7, 14].

Methodik

Gegenstand dieser Arbeit ist eine ra-diologische Studie traumabedingterDysfunktionen mittels Röntgenfunkti-onsanalyse nach Arlen. Diese Methodewurde bereits in früheren Arbeiten be-schrieben [1, 2, 4, 10±12, 17, 20, 21] undseinerzeit zur Erstellung von Norm-werten systematisch angewandt. Seiteinigen Jahren wird sie bei definiertenIndikationen, darunter beim indirek-ten HWS-Trauma, verwendet. Mit die-ser Technik kann man ohne nennens-werten Aufwand die Mobilität derHWS in sagittaler Ebene quantifizie-ren und gegebenenfalls weitere vertie-fende Untersuchungstechniken einlei-ten.

In einer früheren Studie [10] wur-den bei fast 700 Probanden ohne HWS-Symptomatik Mittelwertdiagrammenach Altersgruppen erstellt (Abb. 1).Das Alter reduziert naturgemäû die Mo-bilität und verengt die Kurve konzen-trisch.

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a bAbb. 1 a, b~Mittelwertdiagramme der Röntgenfunktionsanalyse nach Arlen a vor undb nach Trauma

Abb. 2~ Amplituden in Flexion von C1 bis C7 voru und nach& Trauma (30 Fälle) Flexion

Tabelle 1Vergleich der HWS-Beweglichkeit bei 30 Patienten vor und nach Trauma (in Grad)

Vorher Nachher

Flexion Extension Flexion Extension

McGregor 62,3 ± 10,6 55,0 ± 13,8 57,0 ± 10,8 44,0 ± 13,2C0/C1 ±2,5 ± 5,4 15,4 ± 5,1 ±1,2 ± 4,3 14,2 ± 7,5C1/C2 6,8 ± 4,9 5,7 ± 4,3 7,0 ± 3,8 4,9 ± 4,3C2/C3 6,1 ± 3,5 5,2 ± 2,5 5,5 ± 3,8 4,1 ± 2,4C3/C4 7,8 ± 3,5 7,6 ± 4,3 8,0 ± 4,2 5,5 ± 4,3C4/C5 8,3 ± 7,8 11,5 ± 7,2 7,0 ± 4,2 8,4 ± 5,2C5/C6 8,2 ± 3,7 8,1 ± 5,9 7,0 ± 3,8 6,1 ± 4,7C6/C7 8,9 ± 4,6 4,1 ± 4,1 9,0 ± 4,5 3,0 ± 3,8

Die Kurven werden beurteilt

· unter Berücksichtigung des Alters· in Bezug auf die Ausgewogenheit der

Bewegung zwischen Flexion und Ex-tension. Diese hängt von der Aus-gangs- bzw. Ruhelage der normalenHWS-Lordose ab

· bezüglich der Existenz einer parado-xen Atlasbewegung bei Flexion

Nach Durchsicht früherer Arbeiten[10±12] schien es uns interessant, dieMessungen funktioneller HWS-Analy-sen nach Arlen vor und nach indirektemHWS-Trauma zu vergleichen.

Die Dysfunktionen sind objekti-vierbar und quantifizierbar. Die Lokali-sation ist sehr genau möglich. Man un-terscheidet

· eine starke Verminderung der uni-oder bidirektionalen Mobilität, wel-che den ¹Blockierungenª der manuel-len Medizin entspricht

· die Verminderung der Mobilität beider Flexion oder der Extension beioft erhaltener Gesamtmobilität

· die mono- oder plurisegmentalenDysfunktionen

· die Kompensation der vermindertenBewegung im benachbarten Segmentin der gleichen Bewegungsrichtungoder in Gegenrichtung (gekreuzteKompensation)

Wir haben 30 Patienten (10 Männer und20 Frauen) untersucht, bei denen wiraus früheren Untersuchungen im Besitzeiner Röntgenfunktionsanalyse derHWS waren. Diese Patienten erlitten in-nerhalb der folgenden 30 Monate ein in-direktes HWS-Trauma. Sie kamen we-gen posttraumatischer Beschwerden inunsere Behandlung zurück, es wurdeeine zweite Röntgenfunktionsanalyseerstellt.

Das Durchschnittsalter der unter-suchten Patienten war vor dem Trauma38,5 � 12 Jahre (Maximalwerte 16 bis59 Jahre), und 41,5 � 12 Jahre (Maximal-werte 20 bis 65 Jahre) nach dem Trau-ma. Der zeitliche Abstand zwischenTrauma und zweiter Analyse betrug imDurchschnitt 4 Monate (zwischen 2 Ta-gen und 14 Monaten als Maximalwerte).Für die Gesamtheit der untersuchtenGruppe, wurde eine Varianzanalyse derFaktoren ¹Zeitª und ¹Patientª für jededer untersuchten Variablen durchge-

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Originalien

Abb. 3~ Amplituden in Extension von C1 bis C7 voru und nach& Trauma (30 Fälle).Die statistischen Unterschiede sind durch Pfeile gekennzeichnet. Extension

Abb. 4~ Simulation Nr. 1: UL Blockierung von C3-C5 bei Flexion. Identische Kurven,keine Veränderung sichtbar. Die Verminderung der Flexion in C3 wird durch eine relative

Hypermobilität von C2 kompensiert

Abb. 5~ Simulation Nr. 2: TR Blockierung von C3-C5 bei Extension. Der Proband zeigttatsächlich hat eine eingeschränkte Extension. Er ist nicht in der Lage diesen Bereich, den er

kontrollieren sollte, noch weiter einzuschränken. Es kommt im Gegenteil zu einem paradoxenUmkippen der drei betroffenen Segmente (C2, C5 und C6). Bemerkenswert ist die ¾hnlichkeit

der Kurven, sowohl in Flexion als auch bei Extension

führt (Flexion und Extension auf jedemNiveau zwischen C0 und C7).

Ergebnisse

McGregor-Linie

Die McGregor-Linie zeigt im Vergleichbeider Messungen eine signifikante Re-duktion der Mobilität sowohl bei Flexi-on (p = 0.015) als auch bei Extension(p = 0.001) (Tabelle 1, Abb. 2, 3). Diesbestätigt eine frühere Studie, die je-doch lediglich eine Mobilitätsein-schränkung in Extension gezeigt hatte[12].

Zervikalbereich

Flexion

Es wurde kein signifikanter Mobili-tätsunterschied für die Flexion gefun-den.

Extension

Unter den betroffenen Etagen bemerktman eine signifikante Einschränkungder Mobilität bei Extension in C0(p < 0.001), C3 (p = 0.034), C4(p < 0.001), C5 (p = 0.012) und C6(p = 0.011).

Die Betrachtung von zwei angren-zenden Etagen zeigt in Extension einesignifikante Differenz für C3 und C4(p = 0.006), C4 und C5 (p = 0.004) undC5 und C6 (p = 0.017). Im Gegensatzdazu ist die normale HWS-Lordosein Neutralhaltung des Kopfes durchdas Trauma nicht beeinträchtigt (p =0.599).

Diskussion

Diese Studie, die sich auf vergleichenderadiologische Untersuchungen stützt,bestätigt das Auftreten von typischenfunktionellen traumaabhängigen Ver-änderungen. Ein Zusammenhang zwi-schen Dysfunktion und einem posttrau-matischem Zervikal-oder zerviko-enze-phalen Syndrom scheint zu bestehen.Ein schlüssiger Beweis kann allerdingsauch durch diese Studie nicht geführtwerden.

Man kann jedoch anhand der Er-gebnisse der Röntgenfunktionsanalysevor und nach Behandlung von einemZusammenhang zwischen der Dys-

funktion und den klinischen Sympto-men ausgehen. Auch andere Studienbestätigen die Möglichkeit, Dysfunk-tionen und deren Symptomatikdurch Manuelle Medizin [3] zu min-dern.

Vortäuschen von funktionellenZervikalbeschwerden

Viele Gutachter nehmen an, daû esleicht sei, bei einer Funktionsanalyse,wie sie in dieser Studie durchgeführt

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Abb. 6~ Simulation Nr. 3: SC Blockierung von C0/C1 in Flexion und Extension. Die Kurven sind von derForm her identisch, jedoch ist die Amplitude bei der Simulation allgemein kleiner. Absolut gesehenscheint die Amplitude von C1 nicht grundsätzlich verändert, auch wenn sie um die Hälfte kleiner ist

Abb. 7~ Simulation Nr. 4: SA Blockierung von C5-C7 bei Flexion. Kein signifikanter Unterschiedzwischen den beiden Kurven. Bemerkenswert ist die ¾hnlichkeit der Kurven in Extension

bezüglich Form und Amplitude

Abb. 8~ Simulation Nr. 5: PR Vollständige Blockierung bei Flexion. Keine Veränderung der Kurve,weder in Flexion noch in Extension

wurde, segmentale Dysfunktionen derHWS vorzutäuschen. Anläûlich einesSymposiums für Manuelle Medizin(Munster ± Frankreich, 1992) wurdebeschlossen, eine Röntgenfunktions-analyse der HWS nach Arlen in norma-ler Haltung durchzuführen und im An-schluû zu versuchen, diese Wirbelsäu-lendynamik entweder in Flexion oderin Extension zu verändern. Die Anwei-sungen zu dieser Simulation wurdenden Probanden randomisiert zugeord-net

Zehn Kollegen waren bereit in derStudie mitzuwirken. Nachfolgend sinddie Werte dargestellt, die auf her-kömmliche Art ohne Simulation ge-messen wurden (linke Kurve), sowiemit Simulation (rechte Kurve). Für je-den einzelnen Fall wird die Simulati-onsanweisung bezüglich Höhe undRichtung angegeben (Abb. 4±13). Dieumkreisten Punkte repräsentieren eineparadoxe Bewegung des Wirbelkör-

pers, d. h. für die vorgegebene Bewe-gungsrichtung (Extension/Flexion) ne-gative Werte.

Die Resultate können wie folgt zu-sammengefaût werden:

· Es ist einem Probanden, auch wenn ermit der Biomechanik der HWS in derSagittalebene vertraut ist, nicht mög-lich, eine vorgegebene segmentaleEinschränkung vorzutäuschen (Si-mulationen Nr. 1, 2, 3, 4, 5).

· Wird der Versuch gut durchgeführt,so wird die Mobilität als Ganzes imgewünschten Sinn eingeschränkt.Der Befund ist typisch für die ver-suchte Täuschung (StimulationenNr. 7, 9).

· Bei den Probanden, denen der Ver-such sehr gut gelang (SimulationenNr. 8, 10), war das Bild so auffällig,daû es unter Berücksichtigung derKlinik leicht war, einen Betrug zu ver-muten.

Analyse nach Arlenund gehaltene Aufnahmen

Noch immer gilt die Expertenein-schätzung, daû Röntgenaufnahmenmit spontan eingenommener Haltungder Qualität der Beweisführung ab-träglich seien. Gehaltene Aufnahmenseien unverzichtbar, um der ¹Ehrlich-keitª des Patienten nachzuhelfen. Wirführen bei jedem Patienten, den wirim Rahmen eines medizinischen Gut-achtens sehen, eine Röntgenfunktions-analyse mit Spontanaufnahmen undgehaltenen Aufnahmen in maximalerExtension und maximaler Flexiondurch. Jedesmal zeigte sich das gleicheErgebnis. Übt man auf die Ligamenteeinen Zug aus und zwingt die Musku-latur in Richtung der vorliegenden Pa-thologie, provoziert man unmittelbareine muskuläre Vermeidungshaltung,

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Abb. 9~ Simulation Nr. 6: ME Blockierung von C5-C7 bei Extension. Der Proband konnte nurdie höheren Segmente einschränken. Den Bereich den er kontrollieren sollte, zeigt sogar einegeringfügig gröûere Mobilität

Abb. 10~ Simulation Nr. 7: LU Blockierung von C3-C5 bei Extension. Die gesamte Mobilität bei Ex-tension ist in Bezug auf das Alter des Patienten in überzeichneter Weise eingeschränkt, aber nichtspezifisch im Bereich zwischen C3 und C5

Abb. 11~ Simulation Nr. 8: KR Globale Blockierung bei Extension und Flexion.Die funktionellen Beschwerden sind in Extension überzeichnet und stimmen nicht mit

dem klinischen Zustand des Patienten überein

welche das Diagramm in typischerWeise verschlechtert. Im Gegensatzdazu führt die Krafteinwirkung aufeine gesunde HWS in beiden Richtun-gen lediglich zu einer leicht erhöhten

Bewegungsamplitude der einzelnenSegmente.

In Abb. 14 a und b sind beispielhaftdie Bewegungsamplituden freier undgehaltener Röntgenfunktionsanalysen

eines Patienten grafisch dargestellt, derbei einem Autounfall ein HWS-Traumaerlitt. Auf der ¹freienª Kurve sieht maneinen Mobilitätsverlust bei Extensionin C1 und C2. Auf den gehaltenen Auf-nahmen entsteht aufgrund der Vermei-dungshaltung eine Paradoxbewegungvon C1 und C2. Dieses Bild ist hoch pa-thologisch und spricht für eine Band-verletzung.

Fazit für die Praxis

Die Röntgenfunktionsanalyse nach Arlen isteine einfache und rasch durchführbare Me-thode, die es ermöglicht, funktionelle Be-schwerden zu objektivieren und im Falle ei-nes indirektem HWS-Traumas die Indikatio-nen für weitere Untersuchungen zu stellen.Die Erfahrungen bestätigen, daû pathologi-sche Befunde anläûlich einer sorgfältigdurchgeführten manualmedizinischen Un-tersuchung und das gleichzeitige Vorliegeneiner pathologischen Röntgenfunktionsana-lyse an eine Weichteilläsion denken lassensollten. In ungefähr 75 % dieser Fälle konn-ten durch weitere Untersuchungen (CT undMRI) ligamentäre Läsionen entdeckt werden.

Nach unseren Erfahrungen ist es einemPatienten auch mit guten anatomischenKenntnissen nicht möglich, eine Mobilitäts-einschränkung der HWS vorzutäuschen, dienicht sofort als Betrug entlarvt werdenkönnte

Die hauptsächlichen Veränderungen beiWeichteilverletzungen der HWS betreffen diesignifikante Verminderung der Mobilitäts-amplitude in Extension von C0, C3, C4, C5 undC6. Die Betrachtung zweier benachbarterEtagen zeigte eine signifikante Differenz beiExtension für C3 und C4, C4 und C5 sowie C5und C6. Die normale HWS-Lordose in Neu-tralhaltung hingegen wird durch das Traumanicht beeinträchtigt. Im Gegensatz zur allge-meinen Meinung ändert der Verzicht von ge-haltenen Aufnahmen nichts an der Validitätder Methode. Das Durchführen von forciertengehaltenen Aufnahmen bewirkt lediglicheine Verstärkung eventuell vorhandenerfunktioneller Veränderungen, die auch beinicht gehaltenen Aufnahmen ins Auge fallen.

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Abb. 12~ Simulation Nr. 9: FR Blockierung von C5-C7 bei Extension. Der Patient war nicht inder Lage die Gesamtmobilität bei Extension und Flexion einzuschränken. Er konnte lediglichdie Mobilität von C1 begrenzen, die Mobilität von C5-C7 ist unverändert

Abb. 13~ Simulation Nr. 10: AA Globale Blockierung bei Extension. Die Extension ist insgesamteingeschränkt, ist jedoch begleitet von einer paradoxen Mobilität von C1 bis C4

Abb. 14 a, b~ Darstellung der spontanen (a) und gehaltenen (b) Bewegungsamplituden einesPatienten nach HWS-Trauma; bereits links (a) zeigt sich eine pathologische Einschränkung von C1und C2; rechts (b) wird die pathologische paradoxe Kippung von Atlas und Axis deutlich

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