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Inhalt AUFSÄTZE Öffentliches Recht Einsichtnahme in Examensarbeiten: Kopiert das Justizprüfungsamt jetzt kostenlos? Eine datenschutzrechtliche Betrachtung nach der DSGVO Von Diplom-Jurist Christian Peter, Münster 252 Der Tiefseebergbau: Eine umweltvölkerrechtliche Baustelle Eine Einführung in ein junges Rechtsgebiet Von Ref. iur. Dirk Petersen, Hamburg 257 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Zivilrecht Grundzüge der Produkthaftung – Einblicke in Theorie und Praxis Von RAin Lena Mitterhuber, Frankfurt 264 ÜBUNGSFÄLLE Zivilrecht Fortgeschrittenenklausur: Brand im Mietshaus Von Wiss. Mitarbeiter Oliver Becker, Mannheim 269 Anfängerklausur: Displayschaden Von Dr. Jonas David Brinkmann, Bielefeld 280 Öffentliches Recht Examensklausur: „Du darfst hier (erstmal) nicht weg!“ – Teil 1 Von Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff, Wiss. Mitarbeiterin Natalia Babiak, RA Dr. Robert Tietze, Bayreuth 288

AUFSÄTZE - zjs-online.com · Inhalt (Forts.) 4/2019 ÜBUNGSFÄLLE Öffentliches Recht Schwerpunktklausur Öffentliches Wettbewerbsrecht: „Kommunale Fahrgeschäfte“ Von Wiss

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Inhalt

AUFSÄTZE

Öffentliches Recht

Einsichtnahme in Examensarbeiten: Kopiert das

Justizprüfungsamt jetzt kostenlos?

Eine datenschutzrechtliche Betrachtung nach der DSGVO

Von Diplom-Jurist Christian Peter, Münster 252

Der Tiefseebergbau: Eine umweltvölkerrechtliche

Baustelle

Eine Einführung in ein junges Rechtsgebiet

Von Ref. iur. Dirk Petersen, Hamburg 257

DIDAKTISCHE BEITRÄGE

Zivilrecht

Grundzüge der Produkthaftung – Einblicke in Theorie und Praxis

Von RAin Lena Mitterhuber, Frankfurt 264

ÜBUNGSFÄLLE

Zivilrecht

Fortgeschrittenenklausur: Brand im Mietshaus

Von Wiss. Mitarbeiter Oliver Becker, Mannheim 269

Anfängerklausur: Displayschaden

Von Dr. Jonas David Brinkmann, Bielefeld 280

Öffentliches Recht

Examensklausur: „Du darfst hier (erstmal) nicht weg!“

– Teil 1

Von Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff, Wiss. Mitarbeiterin Natalia Babiak, RA Dr. Robert Tietze, Bayreuth 288

Inhalt (Forts.) 4/2019

ÜBUNGSFÄLLE

Öffentliches Recht

Schwerpunktklausur Öffentliches Wettbewerbsrecht:

„Kommunale Fahrgeschäfte“

Von Wiss. Mitarbeiter Erik Sollmann, Mainz 300

Strafrecht

Fortgeschrittenenklausur: Must-Haves – Smartphone und

Pfefferspray

Von Privatdozentin Dr. jur. habil. Christine Morgenstern,

Greifswald 311

ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN

Zivilrecht

BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17 (OLG Nürnberg,

LG Nürnberg-Fürth)

(Freie Wahl des Käufers zwischen Nachbesserung und Nachlieferung beim Neuwagenkauf)

(Dr. Tim Brockmann, Hannover) 318

Strafrecht

BGH, Urt. v. 15.11.2017 – 2 StR 128/17 (LG Wiesbaden)

(Beweisverwertungsverbot bei „legendierten Kontrollen“)

(Prof. Dr. Martin Böse, Bonn) 323

ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN

Zivilrecht

BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18 (LG Dresden, AG Dresden)

(Rechtskraftumfang bei abgewiesener Zahlungsklage/ Mietminderung und Leistungsverweigerungsrecht)

(Wiss. Mitarbeiter Julian Kanert, Chemnitz) 329

Strafrecht

BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18 (LG Münster)

(Tötungs- und Gefährdungsvorsatz)

(Prof. Dr. Michael Heghmanns, Münster) 333

REZENSIONEN

Zivilrecht

Habersack, Mathias/Verse, Dirk A., Europäisches

Gesellschaftsrecht, Einführung für Studium und Praxis, 5. Aufl. 2019

(Diplom-Jurist [Univ.] Tino Haupt, Würzburg/

Frankfurt am Main) 337

AUFSÄTZE

Strafrecht

Der zivilrechtliche Charakter der Sportwette Von Prof. Dr. Gerd Müller 1

Inhalt (Forts.) 4/2019

VARIA

Allgemeines

Ein Einstieg in Niklas Luhmanns Rechtssoziologie: Leben,

Werk, Gedankenwelt

Von Wiss. Mitarbeiter Jan-Peter Möhle, Bielefeld 339

AUFSÄTZE

Strafrecht

Der zivilrechtliche Charakter der Sportwette Von Prof. Dr. Gerd Müller 1

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 252

Einsichtnahme in Examensarbeiten: Kopiert das Justizprüfungsamt jetzt kostenlos? Eine datenschutzrechtliche Betrachtung nach der DSGVO Von Diplom-Jurist Christian Peter, Münster* Aus der atypischen Perspektive des Datenschutzrechts be-trachtet der folgende Beitrag das Einsichtnahmerecht in die schriftlichen Examensarbeiten unter Anwendung der neuen Datenschutz-Grundverordnung. Es wird geklärt werden, ob ein Anspruch auf Überlassung einer unentgeltlichen Daten-kopie besteht, der bisherige kostenverursachende Einsicht-nahmeregelungen überholt. Der Beitrag trägt dem großen Interesse der Prüflinge an der Einsichtnahme Rechnung und bietet zugleich einen Einblick in die Querschnittsmaterie des Datenschutzrechts. I. Status quo – Einsichtnahme nach Landesrecht Die Rechtsgrundlage für die Einsichtnahme in die Examens-arbeiten bilden bisher landesrechtliche Regelungen, wie § 23 Abs. 2 JAG NRW1. Nach dieser Vorschrift ist dem Prüfling die Einsicht in seine Prüfungsarbeiten einschließlich der Gut- achten der Prüferinnen oder Prüfer in den Räumen des Justiz- prüfungsamtes zu gestatten, sofern er binnen Monatsfrist nach Bekanntgabe der Prüfungsentscheidung einen Antrag bei dem Justizprüfungsamt stellt.

Die Folge ist ein kostenverursachendes Verwaltungsverfah-ren. Über Regelungen wie der § 124 JustG NRW2, § 4 Abs. 1 JVKostG in Verbindung mit Ziffer 2000 der Anlage zu § 4 Abs. 1 JVKostG werden für die ersten 50 Seiten je Seite 0,50 €, danach 0,15 € je Seite angesetzt, wenn der Prüfling seine angefertigten Arbeiten als Kopie durch das Justizprü-fungsamt zur Verfügung gestellt wissen möchte. II. Anspruch auf unentgeltliche Datenkopie nach der DS- GVO Eingedenk neuer datenschutzrechtlicher Bestimmungen könnte diese Regelungslage jedoch überholt sein. Denn aus Art. 15 Abs. 3 S. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 5 S. 1 DSGVO könnte ein Anspruch auf Überlassung einer unentgeltlichen Datenkopie folgen. Art. 15 DSGVO regelt die Auskunfts-rechte der Betroffenen im Hinblick auf ihre Daten als funda-mentales Datenschutzrecht3, das in der Literatur als „Magna Charta des Datenschutzrechts“ 4 besonders hervorgehoben

* Der Autor ist Diplom-Jurist in Münster (NRW). 1 Siehe exemplarisch in anderen Bundesländern: § 10 Abs. 1 Nr. 6 JAG BW i.V.m. § 19 Abs. 5 JAPrO BW; § 24 Abs. 1 Nr. 5 lit. a JAG Bln i.V.m. § 17 JAO Bln; § 29 Abs. 1 JAG HH; § 57 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 JAG HE i.V.m. § 9 Abs. 1 JAO HE; § 9 Abs. 1 Nr. 2 JAG RP i.V.m. § 13 Abs. 3 JAPO RP. 2 Siehe exemplarisch in anderen Bundesländern: § 1 LJKG BW; § 1 Abs. 1 JVKostG Bln; § 1 Abs. 1 LJKG HH; Art. 1 § 1 Abs. 1 JKostG HE; § 1 Abs. 1 LJVwKostG RP. 3 Dix, in: Simitis, Bundesdatenschutzgesetz, 8. Aufl. 2014, § 34 BDSG Rn. 1; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, 2017, S. 85. 4 Wedde, in: Roßnagel, Handbuch Datenschutzrecht, 2003, Kap. 4.4 Rn. 2 m.w.N.

wird. Dazu bestimmt Abs. 3 S. 1 und S. 2: „Der Verantwortli-che stellt eine Kopie der personenbezogenen Daten, die Ge-genstand der Verarbeitung sind, zur Verfügung. Für alle wei- teren Kopien, die die betroffene Person beantragt, kann der Verantwortliche ein angemessenes Entgelt auf der Grundlage der Verwaltungskosten verlangen.“ Art. 12 Abs. 5 S. 1 DSGVO stellt dann nochmals explizit heraus: „Informationen gemäß den Artikeln 13 und 14 sowie alle Mitteilungen und Maßnahmen gemäß den Artikeln 15 bis 22 und Artikel 34 werden unentgeltlich zur Verfügung gestellt.“ 1. Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereiches Voraussetzung ist zunächst die Anwendbarkeit der DSGVO auf das juristische Prüfungsverfahren. a) Keine Bereichsausnahme Nach Art. 2 Abs. 2 lit. a DSGVO fällt eine Verarbeitung per- sonenbezogener Daten im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der DSGVO.

Mit der Bereichsausnahme des Art. 2 Abs. 2 lit. a DS- GVO zeichnet der Verordnungsgeber die Regelungsbefugnis der Union nach, die aus Art. 16 Abs. 2 S. 1 AEUV als der Ermächtigungsgrundlage für die DSGVO folgt.5 Danach er- lassen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Vorschriften über den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personen-bezogener Daten durch Stellen der Union sowie der Mitglied-staaten im Rahmen der Ausübung von Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.

Zu fragen bleibt daher, ob das Prüfungsverfahren bei den Justizprüfungsämtern eine Tätigkeit darstellt, die im Rahmen des Anwendungsbereiches des Unionsrechts liegt.

Der Begriff „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ ist konturenlos. Er wird jedoch von dem Gerichtshof der Euro-päischen Union regelmäßig weit verstanden und ausgelegt.6 So soll der Anwendungsbereich des Unionsrechts bereits er- öffnet sein, wenn das Unionsrecht den Mitgliedstaaten be-stimmte Beschränkungen oder Verpflichtungen auferlegt.7

Zweifelhaft könnte dies für das juristische Prüfungswesen sein, wenn es sich dabei um eine ausschließlich dem Mitglied-staat überlassene Aufgabenerledigung handelt, die außerhalb des Unionsrechts liegt.8

5 Vgl. Bäcker, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Daten-schutzrecht, 28. Ed., Stand: 1.5.2019, Art. 2 DSGVO Rn. 7. 6 Vgl. v. Lewinski, in: Auernhammer, DSGVO/BDSG, 6. Aufl. 2018, Art. 2 DSGVO Rn. 16. 7 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.3.2014 – C-206/13 (Cruciano Siragusa/ Regione Sicilia) = NVwZ 2014, 575 (576 Rn. 26). 8 Vgl. Weichert, in: Däubler/Wedde/Weichert/Sommer, EU-Datenschutzgrundverordnung und BDSG-neu, 2018, Art. 2 DSGVO Rn. 14.

Einsichtnahme in Examensarbeiten ÖFFENTLICHES RECHT

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ZJS 4/2019 253

Aus Art. 16 Abs. 1 AEUV folgt allerdings eine primär-rechtliche Regelung, die ein unionales Grundrecht9 außerhalb der GRCh begründet. Art. 16 Abs. 1 AEUV verdeutlicht das von den Mitgliedstaaten in dem AEU-Vertrag der Union überantwortete und angestrebte hohe Schutzniveau bezüglich des Datenschutzes10, das auch die Mitgliedstaaten zu beach-ten und zu fördern haben. Deshalb erhalten auch Tätigkeiten innerhalb eines Mitgliedstaates im datenschutzrelevanten Bereich eine unionsrechtliche Relevanz. Die Konsequenz ist ein durch die DSGVO konstituierter Grundrechtsschutz, der seine primärrechtliche Anbindung in Art. 16 Abs. 1 AEUV erfährt und so gegenüber der Grundrechtecharta vorrangig ist.11 Fraglich ist, ob die Einschränkung gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh, dass die Mitgliedstaaten nur Unionsgrundrechte zu beachten haben, wenn sie Unionsrecht durchführen, ent-sprechend für Art. 16 Abs. 1 AEUV gilt. Dies ist insbesonde-re aus systematischen Gründen abzulehnen. Nur so ist die Doppelung zu Art. 8 GRCh, der das Individualrecht des Art. 16 Abs. 1 AEUV lediglich ergänzt12 bzw. näher aus-formt13, erklärbar.

Ausgeschlossen werden sollen nämlich nur solche Tätig-keiten, die nicht in die Zuständigkeiten der Union fallen. Das wiederum ergibt sich aus den Verträgen.14 Der Datenschutz ist nicht in Art. 3 oder Art. 6 AEUV genannt, weshalb es sich nach Art. 4 Abs. 1 AEUV um eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit handelt.15 Es besteht eine konkurrie-rende Zuständigkeit, bei der eine EU-Regelung insoweit vor- rangig ist und zum mitgliedsstaatlichen Kompetenzverlust führt.16 Da nur die Datenverarbeitung dem Anwendungs- bereich des Unionsrechts unterfallen muss17, liegt der Daten-schutz folglich im Rahmen des Anwendungsbereiches des Unionsrechts, das mit der DSGVO über eine sekundärrechtli-che Datenschutzordnung verfügt.

Die in Art. 16 Abs. 2 S. 1 AEUV und in Art. 2 Abs. 2 lit. a DSGVO aufgegriffene Ausnahme bezieht sich, insbe-sondere vor dem Hintergrund der grundrechtlichen Regelung des Art. 16 Abs.1 AEUV, nur auf solche Bereiche, die vom Unionsrecht ausgenommen sind. Das verdeutlicht Art. 4 Abs. 2 S. 3 EUV für den Schutz der nationalen Sicherheit, die ausdrücklich in die ausschließliche Verantwortung der ein-zelnen Mitgliedstaaten fallen soll – obwohl hier datenschutz-

9 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 16 AEUV Rn. 3; Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/ AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 16 AEUV Rn. 2. 10 Siehe auch Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 16 AEUV Rn. 4, der von einer „Aufwertung des Datenschutzes“ spricht. 11 So insbesondere auch: Klement, JZ 2017, 161 (165). 12 Lorenzmeier, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäi-sches Unionsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 16 AEUV Rn. 2. 13 Kotzur (Fn. 9), Art. 16 AEUV Rn. 2. 14 Zerdick, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverord- nung, 2. Aufl. 2018, Art. 2 DSGVO Rn. 5. 15 Schröder (Fn. 10), Art. 16 AEUV Rn. 8. 16 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 4 AEUV Rn. 1. 17 So auch: Klement, JZ 2017, 161 (165).

rechtliche Bezüge denkbar sind, die ohne den Ausschluss auch unter die DSGVO fallen würden.

Damit sind Tätigkeiten, die einen Datenbezug aufweisen, grundsätzlich von dem Anwendungsbereich erfasst, wenn Sie nicht ausnahmsweise ausgenommen sind.

Das Datenschutzrecht ist mit der DSGVO in den Mit-gliedstaaten harmonisiert worden und bildet einen „abschlie-ßenden legislativen Konsens“18 in der EU. Dieser würde je- doch infrage gestellt, wenn jedes Verwaltungsverfahren für sich beanspruchen könnte, nicht an die DSGVO gebunden zu sein. Es ließe sich sodann anzweifeln, wofür die zahlreichen Öffnungsklauseln, die den Mitgliedstaaten Konkretisierungs-befugnisse einräumen, geschaffen sind, wenn ohnehin die Tä- tigkeiten nicht von der DSGVO erfasst werden würden. So-mit ergibt sich der von Art. 2 Abs. 2 lit. a DSGVO geforderte eröffnete Anwendungsbereich des Unionsrechts.19

Für das juristische Prüfungswesen gilt demnach ebenso die datenschutzrechtliche Verantwortlichkeit des Art. 16 Abs. 1 AEUV, unabhängig von der Frage, ob die GRCh wegen Art. 51 Abs. 1 und 2 GRCh anzuwenden ist, oder nicht. Das Prüfungswesen ist kein Bereich, der aus der Zuständigkeit der Union ausgeschlossen und ausschließlich den Mitgliedstaaten überlassen ist. Denn innerhalb dieses Verwaltungsverfahrens vor den Justizprüfungsämtern gibt es keine zu berücksichti-genden staatlichen Sonderinteressen, die die Tätigkeit aus dem Anwendungsbereich des Unionsrechts in Datenschutz- sachen herausnehmen. b) Vorliegen einer nichtautomatisierten Verarbeitung perso-nenbezogener Daten und Speicherung jener in einem Datei-system Da die einzig denkbare Bereichsausnahme nicht durchgreift, kommt es nach Art. 2 Abs. 1 DSGVO darauf an, dass eine ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personen- bezogener Daten, oder eine nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespei-chert sind oder gespeichert werden sollen, vorliegt.

Mit Blick darauf, dass die Aufsichtsarbeiten handschrift-lich auf Papier angefertigt und später in die Prüfungsakte sortiert werden, kommt eine nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten in Frage.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seiner Entscheidung „Peter Nowak“20 bereits entschieden, dass die schriftlichen Antworten eines Prüflings im Rahmen eines Prü-fungsverfahrens Informationen darstellen, die mit der Person des Prüflings verknüpft, also personenbezogene Daten sind.21 Gleiches hat der Gerichtshof der Europäischen Union für die Anmerkungen des Prüfers zu den Antworten des Prüflings 18 Schantz, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Daten-schutzrecht, 28. Ed., Stand: 1.2.2019, Art. 1 DSGVO Rn. 8. 19 In diese Richtung für einen Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO gegen den Hessischen Landtag ohne weitere Thema-tisierung: VG Wiesbaden Beschl. v. 28.3.2019 – 6 K 1016/15 = BeckRS 2019, 5206. 20 EuGH, Urt. v. 20.12.2017 – C-434/16 (Peter Nowak). 21 EuGH, Urt. v. 20.12.2017 – C-434/16 (Peter Nowak), Rn. 36 ff.

AUFSÄTZE Christian Peter

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 254

angenommen22, wobei unerheblich ist, dass die Anmerkungen des Prüfers zugleich Informationen über diesen selbst enthal-ten.23

Art. 2 Abs. 1 DSGVO erfasst nach seinem Wortlaut die nichtautomatisierte, das heißt manuelle24 Verarbeitung perso-nenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder werden sollen. Das Datenschutzrecht nach der DS- GVO ist technologieneutral und erstreckt sich ebenfalls auf nicht digitale Inhalte, um einen hohen Schutz der Betroffenen zu ermöglichen und einer Umgehung der Bestimmungen der DSGVO vorzubeugen.25

Nach Art. 4 Nr. 6 DSGVO sind Dateisysteme jede struk-turierte Sammlung personenbezogener Daten, die nach be-stimmten Kriterien zugänglich sind. Unerheblich ist dabei, ob diese Sammlung zentral, dezentral oder nach funktionalen oder geografischen Gesichtspunkten geordnet geführt wird.

Voraussetzung ist lediglich, dass eine planmäßige Zusam- menstellung von einzelnen Angaben vorliegt, die zueinander in innerem Zusammenhang stehen. Jener Zusammenhang kann sich aus einem gemeinsamen Zweck oder der Gleich- artigkeit der Informationen selbst ergeben. Diese Zusammen-stellung muss allerdings strukturiert sein und nach dieser Struktur zugänglich sein.26 Maßgeblich ist die Auswertbarkeit nach bestimmten Kriterien.27

Als eine solche planmäßige Zusammenstellung im vor-stehenden Sinn sind auch individuelle Akten28 erfasst, die nach bestimmten Kriterien geordnet sind.29 Solche Kriterien können beispielsweise Aktenzeichen, Namen oder Jahres- zahlen sein. Etwa danach sortierte Akten sind Dateisysteme im oben genannten Sinn, wenn mehrere der aufgezählten Ordnungskriterien zusammentreffen.

Die einzelnen Prüfungsarbeiten sind mit der dem Prüfling zugeordneten Kennziffer versehen. Sie werden in der unter dem Aktenzeichen des Prüflings laufenden Akte, die einen Bezug zu seinem Namen aufweist, geführt. Daraus folgt be- reits eine strukturierte Datensammlung, bei der die einzelnen Daten der jeweiligen Aufsichtsarbeiten insofern zueinander in Zusammenhang stehen, als es sich um einen einheitlichen Prüfungsvorgang handelt. Es ist nicht davon auszugehen, dass die einzelnen Aufsichtsarbeiten ungeordnet, zusammen-hanglos und wahllos aufbewahrt werden, sodass eine indivi-duelle Auswertbarkeit nicht gegeben wäre. Eine strukturierte Aufbewahrung ist nämlich ebenfalls Voraussetzung für die landesrechtlichen Einsichtnahmerechte, etwa aus § 23 Abs. 2

22 EuGH, Urt. v. 20.12.2017 – C-434/16 (Peter Nowak), Rn. 42 ff. 23 EuGH, Urt. v. 20.12.2017 – C-434/16 (Peter Nowak), Rn. 44 f. 24 Plath, in: Plath, DSGVO/BDSG, 3. Aufl. 2018, Art. 2 DSGVO Rn. 12. 25 Siehe Erwägungsgrund 15 zur DSGVO. 26 Roßnagel, in: Simitis/Hornung/Spieker, Datenschutzrecht, 2019, Art. 4 Nr. 6 DSGVO Rn. 7 ff. 27 Gola, in: Gola, DSGVO, 2. Aufl. 2018, Art. 4 DSGVO, Rn. 44. 28 Roßnagel (Fn. 26), Art. 4 Nr. 6 DSGVO Rn. 7 m.w.N. 29 Vgl. Erwägungsgrund 15 zur DSGVO.

JAG NRW. Anhand des Aktenzeichens, der Kennziffer, des Klausurmonats und der Jahreszahl sowie des Namens des Prüflings lassen sich mit überschaubarem Aufwand Auswer-tungen der Daten in der Prüfungsakte, in denen die Auf-sichtsarbeiten gebündelt vorliegen, vornehmen. Das Datei- system selbst ist nicht die angefertigte Aufsichtsarbeit allein, die lediglich mit einer Kennziffer versehen ist und damit nur ein singuläres30 Zuordnungskriterium bieten würde. Vielmehr stellt die gesamte Prüfungsakte, in die auch die Aufsichts- arbeiten einsortiert sind, das Dateisystem dar.

Des Weiteren liegt in der Aufbewahrung der Klausuren, die für die Einsichtnahmerechte nach Landesrecht ebenso er- forderlich ist, eine Speicherung personenbezogener Daten vor. Es kommt nicht auf eine elektronische Speicherung an, da die DSGVO, wie ausgeführt, technologieneutral ist und auch nicht-rechnergestützte Vorgänge erfasst. Die Organisa-tion, das Ordnen und die Speicherung der Daten in Gestalt der Aufsichtsarbeiten stellt für sich genommen eine Verarbei-tung jener Daten dar, Art. 4 Nr. 2 DSGVO.

Folglich ist der sachliche Anwendungsbereich der DS- GVO eröffnet. 2. Keine Beschränkung des Anspruchs durch Gebrauch der Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 lit. e DSGVO Allerdings könnten dem Anspruch aus Art. 15 Abs. 3 S. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 5 S. 1 DSGVO Beschränkungen aus Art. 23 Abs. 1 lit. e DSGVO entgegenstehen, wenn von dieser Öffnungsklausel in zulässiger Weise Gebrauch ge-macht worden ist. Nach Art. 23 Abs. 1 lit. e DSGVO können die Pflichten und Rechte gemäß den Artikeln 12 bis 22 im Wege von Gesetzgebungsmaßnahmen durch Rechtsvorschrif-ten der Union oder der Mitgliedstaaten, denen der Verant-wortliche oder der Auftragsverarbeiter unterliegt, beschränkt werden. Das gilt aber nur, sofern eine solche Beschränkung den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten ach-tet und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellt, die den Schutz sonstiger wichtiger Ziele des allgemeinen öffentlichen Inte-resses der Union oder eines Mitgliedstaats sicherstellt. In Betracht zu ziehen sind insbesondere wichtige wirtschaftliche oder finanzielle Interessen.

Eine solche Beschränkung könnten die landesrechtlichen Einsichtnahmeregelungen, wie § 23 Abs. 2 JAG NRW, dar-stellen. a) Landesrechtliches Einsichtsrecht als Gesetzgebungs- maßnahme Eine Gesetzgebungsmaßnahme im Sinne des Art. 23 Abs. 1 DSGVO erfordert nicht zwangsläufig ein formelles Gesetz, sondern nur ein nach außen wirksames Regelungswerk, das amtlich veröffentlicht wird und den Mindeststandard an Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit gewährleistet.31 Un-

30 Erwägungsgrund 15 zur DSGVO verdeutlicht explizit, dass ein singuläres Kriterium nicht ausreicht. 31 Bäcker, in: Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, Art. 23 DSGVO Rn. 35.

Einsichtnahme in Examensarbeiten ÖFFENTLICHES RECHT

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ZJS 4/2019 255

schädlich ist dabei, dass dieses Regelungswerk gegebenen-falls schon vor der DSGVO in Kraft getreten ist, solange die Anforderungen des Art. 23 DSGVO erfüllt sind.32

Das landesrechtliche Einsichtnahmerecht, hier § 23 Abs. 2 JAG NRW, ist ein formelles Gesetz, das bereits vor der DSGVO in Kraft getreten ist. b) Wesensgehalt und Verhältnismäßigkeit des legitimen Beschränkungszwecks aus Art. 23 Abs. 1 lit. e DSGVO Weiterhin ist allerdings notwendig, dass der Wesensgehalt des Datenschutzgrundrechtes33 und der Grundsatz der Ver-hältnismäßigkeit gewahrt sind. Dabei ist insbesondere zu be- rücksichtigen, dass angesichts des Blankettcharakters34 dieser Öffnungsklausel eine restriktive Handhabung und Auslegung geboten erscheint. Die Öffnungsklauseln sollen nach ihrem Sinn und Zweck den Mitgliedstaaten trotz der bindenden Verordnung die notwendige Flexibilität verleihen, um auf besondere Situationen regelnd eingehen zu können, um dem Zwiespalt zwischen Vollharmonisierung und den nicht über-schau- und nicht regelbaren, auch nationalen, Besonderheiten gerecht zu werden. Um aber das Harmonisierungsziel nicht selbst durch die fakultative Öffnungsklausel zu konterkarie-ren35 und die DSGVO als rechtliches „Oxymoron“ erscheinen zulassen, darf die Klausel nicht als Generalermächtigung zur Änderung der DSGVO verstanden werden, sondern muss „punktuellen, wohlüberlegten und gut begründeten Eingrif-fen“ vorbehalten bleiben.36 Erforderlich ist somit das Vorlie-gen eines wichtigen Ziels des öffentlichen Interesses, das über den Maßstab eines nur einfachen öffentlichen Interesses hinausgeht.37 Kein tauglicher Beschränkungszweck ist jeden-falls, sich den mit der Erfüllung der Betroffenenrechte ver-bundenen Aufwand zu ersparen.38 Dieses muss auch insoweit gelten, als die Überlassung von Datenkopien zwangsläufig (Kopier-)Kosten verursachen wird, um dem Betroffenen ein Abbild seiner personenbezogenen Daten, so wie sie im Datei-system gespeichert sind, zu verschaffen. Die für die Kopien entstandenen Kosten sind aber gerade der Aufwand, der mit der Erfüllung der betroffenen Rechte einhergeht. Das Argu-ment, dass die anzufertigenden Kopien Kosten verursachen, ist damit kein durchschlagendes. Die Regelungen der DSGVO konkretisieren das Recht auf das eigene personenbezogene Datum und stellen mit den Betroffenenrechten einen „legisla-tiven Konsens“39 dar. Dieser darf nicht dadurch unterlaufen 32 Bäcker (Fn. 31), Art. 23 DSGVO Rn. 35 m.w.N. 33 Peuker, in: Sydow, Europäische Datenschutzgrundverord-nung, 2. Aufl. 2018, Art. 23 DSGVO, Rn. 38. 34 Dix, in: Simitis/Hornung/Spieker (Fn. 26), Art. 23 DSGVO Rn. 27 m.w.N. 35 Für eine enge Auslegung auch: Gola (Fn. 27), Art. 23 DSGVO Rn. 2; Peuker (Fn. 33), Art. 23 DSGVO Rn. 41 a.E. 36 Bertermann, in: Ehmann/Selmayr (Fn. 14), Art. 23 DS- GVO Rn. 3. 37 Herbst, in: Auernhammer (Fn. 6), Art. 23 DSGVO Rn. 15; Däubler, in: Däubler/Wedde/Weichert/Sommer (Fn. 8), Art. 23 DSGVO Rn. 18. 38 Bäcker (Fn. 31), Art. 23 DSGVO Rn. 11. 39 Schantz (Fn. 18), Art. 1 DSGVO Rn. 8.

werden, dass der Aufwand, die DSGVO zu erfüllen, als zu hoch angesehen wird. Die Abwägungsfrage zwischen dem Schutz natürlicher Personen mit ihren informationellen Selbst- bestimmungsrechten als Ausprägung des Allgemeinen Per-sönlichkeitsrechts und den finanziellen Interessen des Landes muss also zugunsten des Schutzes der natürlichen Person aus- gehen, die lediglich von ihrem Betroffenenrecht40, der „Magna Charta des Datenschutzrechts“41, Gebrauch macht. Die Aus-führungen in der Aufsichtsarbeit stehen im Zusammenhang mit Elementen des Höchstpersönlichen in der Rechtsüberzeu- gung, als auch mit Elementen des eigenen Leistungsstandes als Teilbereich eigener Fähigkeiten, die Bestandteil des eige-nen Wesens sind und deshalb den Persönlichkeitsrechten unterfallen.

Indem aber die landesrechtliche Regelung, wie § 23 Abs. 2 JAG NRW, eine kostenlose und unkomplizierte Mög-lichkeit, einen Überblick über die bei dem Justizprüfungsamt vorliegenden personenbezogenen Daten zu erhalten, nicht vorsieht, ist dies bereits eine Erschwernis, die davon abhalten könnte, von den Datenschutzrechten Gebrauch zu machen.

Das Recht zur Einsichtnahme nach Landesrecht ist außer-dem fristgebunden, was mit dem Schutz informationeller Selbstbestimmung und dem Schutz des Rechts am eigenen personenbezogenen Datum nicht kompatibel ist, weil letzte-res ein „Recht von und auf Dauer“ ist.

Unverhältnismäßig ist die Erfüllung der ausgeübten Be-troffenenrechte in Gestalt einer Datenkopie auch insofern nicht, als der Ablauf des Prüfungsverfahrens unbeeinflusst bleibt, sofern der Antrag nach Beendigung des Prüfungs- verfahrens gestellt wird. Da das Prüfungsverfahren abge-schlossen ist, kann das Verfahren selbst nicht beeinträchtigt werden.

Vergleichend sei der Blick auf angefertigte Abitur-Klau- suren gerichtet, die unentgeltlich als Datenkopie beantragt werden können. Die Funktionsfähigkeit des Schulbetriebes und die finanziellen Interessen des Landes sind hier nicht gefährdet.42 Für eine viel kleinere Absolventenzahl in der juristischen Staatsprüfung, als im Abiturbereich, kann nichts anderes gelten.

Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, dass die bisherigen Regelungen, wie das JAG NRW, den Mindestanforderungen aus Art. 23 Abs. 2 DSGVO gerecht werden. So ist nicht er-

40 Das ein besonderes Anliegen der DSGVO ist: vgl. Erwä-gungsgrund 63 zur DSGVO. 41 Wedde (Fn. 4), Kap. 4.4 Rn. 2 m.w.N. 42 Vgl. die Mitteilung des Ministeriums für Schule und Bil-dung des Landes NRW, das einen Anspruch auf Datenkopie bei Abiturarbeiten ohne Weiteres annimmt: https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulrecht/FAQ-Schulrecht/FAQ-Schulrecht-Unterricht/Notengebung-Zeugnisse-Versetzung/FAQ11/index.html (27.7.2019); siehe auch die Erklärung des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein: https://www.datenschutzzentrum.de/artikel/321-Haben-ehemalige-Schuelerinnen-und-Schueler-ein-Recht-auf-Einsicht-in-ihre-Abschlussarbeiten-und-ab-wann-steht-ihnen-dieses-Recht-zu.html (27.7.2019).

AUFSÄTZE Christian Peter

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kennbar, dass der Landesgesetzgeber Datenschutzrecht mit den Betroffenenrechten gegen das öffentliche Interesse abge- wogen hat und sich etwa mit Verarbeitungskategorien (lit. a), Datenkategorien (lit. b) und dem Umfang der Beschränkun-gen (lit. c) auseinander gesetzt hat. Vielmehr treten die landes-rechtlichen Regeln zur Einsichtnahme nicht als datenschutz-rechtliche Normen auf, sondern nur als einfache Verfahrens-regelung im Prüfungswesen.

Insoweit fehlt es an einem Vorliegen verhältnismäßiger Beschränkungszwecke. III. Ergebnis Nach der neuen DSGVO besteht ein Anspruch auf eine un-entgeltliche Datenkopie in Bezug auf die angefertigten Auf-sichtsarbeiten des Prüflings im Examen samt Anmerkungen des Prüfers. Die DSGVO ist in ihrem Anwendungsbereich eröffnet, da eine Bereichsausnahme nicht eingreift und auch das Verwaltungsverfahren bei dem Justizprüfungsamt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, weil die Tätigkeit unter Beachtung des Grundrechts aus Art. 16 Abs. 1 AEUV unionsrechtlich präformiert ist. Die Prüfungsakte des Prüf-lings, in der die Aufsichtsarbeiten einsortiert sind, erfüllt die Anforderungen eines nach mehreren Kriterien geordneten Dateisystems. Die Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 lit. e DSGVO greift nicht, da das Abwägungsergebnis zugunsten des Schutzes informationeller Selbstbestimmung und des Rechts am eigenen personenbezogenen Datum ausfällt und kein geeigneter Beschränkungszweck vorliegt.

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Der Tiefseebergbau: Eine umweltvölkerrechtliche Baustelle Eine Einführung in ein junges Rechtsgebiet Von Ref. iur. Dirk Petersen, Hamburg* I. Einstieg Seit vielen Jahrzehnten zieht der Tiefseebergbau viel Auf-merksamkeit auf sich. Angesichts der steigenden Nachfrage nach wertvollen Hochtechnologierohstoffen1 wächst das Inte- resse der Staaten an den marinen mineralischen Rohstoffen der Tiefsee.2 Der kommerzielle Abbau in der Tiefsee hat allerdings noch nicht begonnen. Bisher werden lediglich Erkundigungen durchgeführt.3 In der rechtswissenschaftlichen Literatur kursiert das Bonmot, dass die wirtschaftliche Förde-rung von Tiefseeressourcen „seit nunmehr 30 Jahren etwa zehn Jahre“ entfernt sei.4

Der Beitrag gibt einen Überblick über das Rechtsgebiet Tiefseebergbau, wobei der Schwerpunkt bei umweltvölker-rechtlichen Regelungen liegt. Es geht im Wesentlichen um die Frage, ob und wie die Völkergemeinschaft hier die Flora und Fauna der Tiefsee schützt. Fraglich ist vor allem, ob und inwieweit das geplante Haftungsregime eine tatsächlich schützende Wirkung entfalten kann.

Die Lektüre ermöglicht einen Einblick, mit welchen In-strumenten, Institutionen und Regeln die Staatengemein-schaft die Umwelt der Tiefsee schützen will, wie also dieses Rechtsgebiet konfiguriert ist. Vorgestellt wird ein junges, äußerst komplexes Rechtsgebiet, das gerade entsteht. Es wird deutlich, dass der umweltvölkerrechtliche Schutz der Tiefsee eine große Herausforderung ist und zahlreiche Risiken beste-hen.

Zunächst wird der Raum, in dem spezielle Reglungen zum Schutze der Umwelt der Tiefsee gelten, von den Einfluss- zonen der Nationalstaaten abgegrenzt. Zum besseren Ver-ständnis der spezifischen Herausforderungen des Umwelt-schutzes werden dann die mit dem Tiefseebergbau verbunde-nen umweltbezogenen Probleme und Risiken erläutert. Im Anschluss wird dargestellt, mit welchem völkerrechtlichen Regelwerk, dem Regime von Seerechtsübereinkommen (SRÜ)5 und Durchführungsübereinkommen (DÜ)6, eine gro-ße Gruppe von Staaten, den Tiefseebergbau regulieren will und auch die Flora und Fauna der Tiefsee zu schützen ver-

* Der Autor ist Referendar in Hamburg sowie Studienrat mit den Fächern Latein und Geographie. Er hat in Hamburg bei Prof. Dr. Ivo Appel (Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Um-weltrecht und Rechtsphilosophie) studiert. 1 Starre, Der Meeresboden – Haftungsregime des Tiefsee- bergbaus, 2016, S. 336. 2 Jenisch, NordÖR 2018, 45 (45). 3 Jenisch, NordÖR 2018, 45 (45). 4 Vgl. Proelß, NuR 2007, 650 (650); Trümpler, Grenzen und Abgrenzungen des Küstenmeeres, 2007, S. 17, Fn. 9. Zuletzt Jenisch, NordÖR 2018, 45 (45): „Mit dem Beginn eines in- dustriellen Tiefseebergbaus ist in den nächsten 10 Jahren zu rechnen.“. 5 United Nations Convention on the Law of the Sea (UNCLOS), BGBl. II 1994, S. 1798 ff. 6 Implementing Agreement, BGBl. II 1994, S. 2565 ff.

sucht. Wegen des Umstandes, dass sich zahlreiche Staaten dem Regelwerk noch nicht angeschlossen haben, wird im Rahmen eines Exkurses auf den völkerrechtlichen Sonder- status des Gebiets hingewiesen und knapp gezeigt, inwieweit der Boden der Tiefsee als Gemeinsames Erbe der Menschheit völkergewohnheitsrechtlich geschützt ist.

Der Beitrag konzentriert sich sodann auf das Regime von SRÜ und DÜ. Die beiden wichtigen Institutionen des Ver-tragsregimes, gewissermaßen die Judikative auf der einen Seite und die Exekutive und Legislative auf der anderen Seite, werden beschrieben: der in Hamburg ansässige Interna-tionale Seegerichtshof (ISGH)7, der nach Beginn des kom-merziellen Abbaus häufiger Konflikte zu beurteilen haben wird, und die mit der Entwicklung des Sekundärrechts sowie der Verwaltung des Tiefseebergbaus betraute Internationale Meeresbodenbehörde (IMB)8. Es wird gezeigt, welche recht-lichen Vorgaben und welche vertraglichen Regelungen zum Umweltschutz zur Anwendung kommen bzw. kommen sol-len, dabei wird zwischen den Pflichten der abbauenden Un-ternehmen und denjenigen der befürwortenden Staaten diffe-renziert. Schließlich geht es um die Verantwortung für Schä-den; das Haftungsregime wird erläutert und problematisiert. Am Ende des Beitrags steht eine kritische Bewertung des rechtlichen Instrumentariums zum Schutz der Tiefsee und des Haftungsregimes. II. Tiefseebergbau unter dem Rechtsregime von SRÜ und DÜ 1. Das Gebiet Zur Abgrenzung des Raumes: Die Regelungen des Teils XI des SRÜ zum Tiefseebergbau beziehen sich nur auf das Ge-biet. Gemäß Art. 1 Abs. 1 Ziff. 1 SRÜ ist das Gebiet der Meeresboden und der Meeresuntergrund jenseits der Grenzen des Bereichs nationaler Hoheitsbefugnisse.

Diese Grenzen sind entweder die Außengrenzen der aus-schließlichen Wirtschaftszone (AWZ) der Nationalstaaten oder Linien, die sich aufgrund der Ausbreitung des Festland-sockels ergeben, wenn dieser Sockel über die Grenzen der AWZ hinausgeht.9 Die AWZ erstreckt sich über das Gebiet bis zu 200 Seemeilen (sm) seewärts der Basislinie des Küsten-staates. Zur AWZ gehören die Wassersäule und der gesamte Meeresboden. Allein der Küstenstaat ist hier zur Ausbeute der Bodenschätze berechtigt.10 Wenn der Festlandsockel über die Grenzen der AWZ hinausgeht, können sich die nationale Jurisdiktion und die Ausbeutungsrechte des Nationalstaats bis zur äußeren Kante des Festlandsockelrandes erstrecken, ma-ximal jedoch entweder bis zu einer Linie 350 sm seewärts der Basislinie oder bis zu einer Linie 100 sm seewärts der 2500 7 International Tribunal for the Law of the Sea (ITLOS). 8 International Seabed Authority (ISBA). 9 Wolfrum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des See-rechts, 2006, S. 287 (334 Rn. 139). 10 Jenisch, NordÖR 2010, 373 (376).

AUFSÄTZE Dirk Petersen

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m Tiefenlinie, wobei für unterseeische Bergrücken eine Aus-nahme gilt.11

Für die Grenzfindung ist gemäß Art. 76 SRÜ die Fest-landsockelgrenzkommission (FSGK)12 zuständig. Die 21 Mit- glieder der in New York ansässigen Kommission geben auf der Grundlage wissenschaftlich fundierter Angaben der National-staaten zur Außengrenze ihrer Festlandsockel verbindliche Empfehlungen zur Grenzziehung ab.13 Daraus folgt, dass die Fläche des Gebiets keine exakte Größe ist. Die Fläche des Meeresbodens außerhalb der AWZ umfasst zwar 200 Mio. km2, mutmaßlich verbleibt allerdings nach der absehbaren Ausweitung der AWZ eine Fläche von 160–170 Mio. km2 für das Gebiet.14 2. Umweltbezogene Probleme und Risiken des Tiefseebergbaus In Hinblick auf die Probleme des Tiefseebergbaus wird hier aus Gründen der Fokussierung ausschließlich auf den poten-ziellen Abbau polymetallischer Knollen15 abgestellt, welche aufgrund ihres hohen Mangangehaltes auch Manganknollen16 genannt werden.

Der Abbau birgt verschiedene Gefahren für den Meeres-boden. Aufgrund des Abtrags oder der Durchpflügung kommt es stets zu einer Beschädigung oder Zerstörung des Lebens-raums im und am Meeresboden.17 Bei jedem Abbau werden Sedimente aufgewirbelt, die die Wassersäule trüben können bzw. andere Gebiete gefährden könnten, wenn sie sich dort niederschlagen.18 Ferner können Reststoffe, Müll oder beim Abbau oder aufgrund von Unfällen freigesetzte Schadstoffe zu Umweltbeeinträchtigungen führen.19 Jedes künstliche Ab- räumsystem hat im Übrigen seine systemspezifische Störcha-rakteristik.20

Der Lebensraum der auf und in den Knollen lebenden Tiere wird zerstört.21 Wegen des Fehlens der Knollen ist eine 11 Vgl. Jenisch, NordÖR 2010, 373 (376). 12 Commission on the limits of the Continental Shelf (CLCS). 13 Jenisch, NordÖR 2010, 373 (376 f.). 14 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (423). 15 Vgl. zu den Knollen, den Eisen-Mangankrusten, den Mas-sivsulfiden und den übrigen Rohstoffen der Tiefsee die um-fassenden Beschreibungen auf den S. 23–188 Kuhn/Halbach/ Cherkashov/Kudrass, in: Sharma (Hrsg.), Deep-Sea Mining – Resource, Potential, Technical and Environmental Considera-tions, 2017 sowie Fn. 16. 16 Deutsche Rohstoffagentur in der Bundesanstalt für Geo-wissenschaften und Rohstoffe (BGR): Marine mineralische Rohstoffe der Tiefsee – Chance und Herausforderung, Com-modity Top News, Nr. 40. 2012/6, S. 1. 17 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU): Welt im Wandel – Mensch- heitserbe Meer, Hauptgutachten, 2013, S. 381. 18 Thiel u.a., Schiff & Hafen 6/2012, 86 (86). 19 Deutsche Rohstoffagentur in der Bundesanstalt für Geo-wissenschaften und Rohstoffe (BGR): Marine mineralische Rohstoffe der Tiefsee – Chance und Herausforderung, Com-modity Top News, Nr. 40. 2012/6, S. 7. 20 Thiel u.a., Schiff & Hafen 6/2012, 86 (86). 21 Boetius, Universitas 10/2014, 19 (30).

„Rekolonisierung“ der „Hartbodenfauna nicht möglich“22. Versuche haben gezeigt, dass sich fünf bis zehn Jahre nach Abbau auf der gestörten Fläche wieder funktionstüchtige, je- doch nun knollenfreie und insofern anders zusammengesetzte Faunengemeinschaften entwickelt haben.23 Der Abbau der Rohstoffe führt zu einem erhöhten Schiffsverkehr, damit gehen stoffliche Emissionen und Havarierisiken einher.24

Als Risiken des Tiefseebergbaus sind hier solche Zusam-menhänge gemeint, die schwerer als die bisher dargestellten Probleme vorhersehbar und quantifizierbar sind. Der Tiefsee-bergbau findet in einem ökologisch äußerst wertvollen Um-feld statt, dessen Artenreichtum immens ist. Teils wird ge-schätzt, dass 90 % aller Arten der Erde in der Tiefsee leben25; die meisten von diesen sind mangels Entdeckung weder be-schrieben noch benannt.26 Nicht exakt bestimmbar ist, wie groß eine Abbaufläche sein darf, um die Risiken in einem überschaubaren Rahmen zu halten.27 Zum gegenwärtigen Zeit-punkt besteht mithin das hohe Risiko, dass zumindest einige Arten infolge des künftigen Tiefseebergbaus aussterben.

Der Abbau der Knollen folgt der Logik des Abbaus der endlichen fossilen Rohstoffe wie Öl und Erdgas. Eine Knolle benötigt eine Million Jahre, um die Größe eines Blumenkohl- kopfes zu erreichen.28 Aus der Perspektive der Menschheit ist der Abbau dieser Rohstoffe daher nicht nachhaltig. Der kurz-fristige Nutzen steht beim Tiefseebergbau im Fokus.29

Es besteht ferner das Risiko, dass aufgrund des Abbaus nicht einheimische Arten in die Tiefsee eingebracht werden bzw. aus der Tiefsee in andere Regionen verschleppt wer-den.30 Dieser Vorgang kann die jeweilige natürliche Flora und Fauna erheblich schädigen.

Auch bezüglich der Tiefsee als Teilsystem des Öko- systems Erde stehen schwer kalkulierbare Risiken im Raum. Die systemischen Wechselwirkungen sind größtenteils un- erforscht oder höchst komplex.31 Eingriffe in das Ökosystem der Tiefsee haben Auswirkungen an anderen Stellen. Es gibt die Befürchtung, dass das Weltklima infolge des Zusammen-bruchs wichtiger Teilökosysteme in der Tiefsee zusammen-brechen könnte.32

Im Zusammenhang mit dem Tiefseebergbau stehen be-trächtliche Probleme und Risiken im Raum.

22 Thiel u.a., Schiff & Hafen 6/2012, 86 (86). 23 Deutsche Rohstoffagentur in der Bundesanstalt für Geo-wissenschaften und Rohstoffe (BGR): Marine mineralische Rohstoffe der Tiefsee – Chance und Herausforderung, Com-modity Top News, Nr. 40. 2012/6, S. 7. 24 WBGU: Welt im Wandel – Menschheitserbe Meer, Haupt-gutachten, 2013, S. 56. 25 Boetius, Universitas 10/2014, 19 (30). 26 Thiel u.a., Schiff & Hafen 6/2012, 86 (86). 27 Boetius, Universitas 10/2014, 19 (29). 28 Boetius, Universitas 10/2014, 19 (30). 29 Vgl. Boetius, Universitas 10/2014, 19 (29 f.). 30 WBGU: Welt im Wandel – Menschheitserbe Meer, Haupt-gutachten, 2013, S. 235. 31 Vgl. Boetius, Universitas 10/2014, 19 (31 f.). 32 Scholz, Schiff & Hafen 5/2011, 72 (76).

Der Tiefseebergbau: Eine umweltvölkerrechtliche Baustelle ÖFFENTLICHES RECHT

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3. Der völkerrechtliche Rechtsrahmen Den völkerrechtlichen Rahmen für den Bergbau in der Tief-see setzen das 1982 ausgehandelte SRÜ sowie das DÜ33. Das SRÜ trat am 16.11.1994 in Kraft34, nachdem 60 Ratifikati-ons- oder Beitrittsurkunden hinterlegt worden waren35; das DÜ am 28.7.199636. Die Rechtsordnung der beiden Überein-kommen wird teils als „Verfassung der Meere“ bezeichnet.37 Diese Benennung erscheint angesichts der begrenzten Wirk-samkeit verfrüht und wenig ergiebig.38

Die beiden Abkommen gelten nur für Staaten, die diese ratifiziert haben.39 Dem SRÜ sind 165 Staaten und die EU beigetreten, dem DÜ 145. Ca. 60 Staaten haben sich den Ab- kommen noch nicht angeschlossen, darunter die USA.40 Die-ser Umstand alleine lässt an der Effektivität des Regelwerks zweifeln.

Das DÜ änderte das von Teil XI, Anlagen III und IV SRÜ vorgesehene Regime des Tiefseebergbaus erheblich. Die ur- sprüngliche Fassung des SRÜ galt als zu planwirtschaftlich, eine faire Teilhabe der Entwicklungsländer war essentiell. Gemäß dem DÜ findet nun Bergbau zu kommerziellen Be-dingungen statt; die Vorschriften – wie Art. 5 Anl. III SRÜ – über den Technologietransfer zu Gunsten interessierter Ent-wicklungsstaaten wurden vollständig außer Kraft gesetzt.41 Erst nach dieser Änderung des Regimes fanden sich die nöti-gen 60 Staaten, um das Inkrafttreten des SRÜ zu ermögli- chen.42 Gemäß Art. 2 Abs. 1 DÜ sind SRÜ und DÜ als eine Übereinkunft auszulegen und anzuwenden; im Falle von Widersprüchen ist das DÜ maßgebend.

Weil 21 Vertragsparteien des SRÜ dem DÜ noch nicht beigetreten sind, existieren theoretisch zwei Vertragsregime nebeneinander – SRÜ und SRÜ i.V.m. DÜ. Die Praxis der Vertragsparteien und der IMB offenbart jedoch, dass sich der Rechtsrahmen des Tiefseebergbau allein durch das SRÜ i.V.m. dem DÜ bestimmt.43 a) Exkurs Vor dem Hintergrund, dass private Unternehmen exklusiv Bergbau in der Tiefsee betreiben wollen und Eigentümer der abgebauten Mineralien werden wollen, stellt sich die Frage, welchen rechtlichen Status das Gebiet unabhängig vom Ver-tragsregime vom SRÜ i.V.m. DÜ hat.

33 Wolfrum (Fn. 9), S. 334 Rn. 137. 34 Matz-Lück, AL 2013, 237 (240). 35 Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht: ein Studien-buch, 2014, § 39 Rn. 17. 36 Hinrichs, AL 2013, 244 (244) Fn. 6. 37 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (423); Schlacke, AL 2013, 257 (261). 38 Heintschel v. Heinegg (Fn. 35), § 39 Rn. 19. 39 Matz-Lück, AL 2013, 237 (240). 40 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (423). 41 Heintschel v. Heinegg (Fn. 35), § 46 Rn. 31. 42 Matz-Lück, AL 2013, 237 (239). 43 Heintschel v. Heinegg (Fn. 35), § 46 Rn. 32.

aa) Der rechtliche Status des Gebiets Von großer Relevanz ist die Frage des rechtlichen Status des Gebietes. Seit 1967 hat sich nach überwiegender Ansicht als Völkergewohnheitsrecht durchgesetzt, dass der Tiefseeboden einen rechtlichen Sonderstatus hat.44 Der Boden ist nicht als res nullius45, also nicht als national aneignungsfähig und auch nicht als res communis46, als eine allen zugängliche und von jedem nutzbare Sache anzusehen. Der Boden unterfällt auch nicht dem Prinzip der Freiheit der Hohen See, welches für die Wassersäule oberhalb des Gebietes gilt. Nach diesem Prinzip wären ausschließliche Nutzungsrechte, die das Tiefseeberg-bauregime ja ermöglichen will, ausgeschlossen. Für das Ge-biet und seine Ressourcen gilt gemäß Art. 136 SRÜ der Grundsatz des Gemeinsamen Erbes der Menschheit (GEdM, common heritage of mankind).47

In Hinblick auf den Tiefesseboden dürfen Nationalstaaten gemäß diesem Grundsatz keine Teile des Tiefseebodens okkupieren und auch keine Souveränitätsrechte über einen Teil des Meeresbodens oder seine Ressourcen ausüben, Art. 137 Abs. 1 S. 1 SRÜ. An im Rahmen des Tiefseeberg-baus gelösten Mineralien kann jedoch gemäß Art. 137, Art. 1 Anl. III SRÜ Eigentum erworben werden.48 Nach Art. 145 SRÜ muss sichergestellt werden, dass von Tiefseeboden- aktivitäten keine Gefährdungen für die marine Umwelt aus-gehen.49 Die Regelungen zum Umweltschutz gelten; das DÜ lässt sie unberührt.50 bb) Der völkergewohnheitsrechtliche Schutz des Meeresbodens SRÜ und DÜ gelten nur für die jeweiligen Vertragsparteien. Für diese sind die 1958 in Genf ausgehandelten vier Überein-kommen zum Seevölkerrecht nach dem Grundsatz lex poste-rior derogat legi priori irrelevant geworden. Für die anderen Staaten haben sie als Vertragsrecht ihre Gültigkeit behalten.51 Spezifische Regelungen zum Schutz des Tiefseebodens und zu seiner Nutzung finden sich in den Genfer Übereinkommen nicht.

Das wirft die Frage auf, inwieweit Nichtvertragsparteien durch Völkergewohnheitsrecht an das Prinzip des GEdM gebunden sind. Diese Frage ist höchst umstritten.52 Weitge-

44 Hinrichs, AL 2013, 244 (246). 45 Wolfrum (Fn. 9), S. 336 Rn. 144. 46 Wolfrum (Fn. 9), S. 336 Rn. 144. 47 Zur Historie: Der Malteser Pardo regte 1967 gewisser- maßen als Initiator an, den Tiefseeboden zum GEdM zu er-klären (Heintschel v. Heinegg [Fn. 35], § 39 Rn. 14 m.w.N.). Dieser Anregung folgte die Generalversammlung der VN 1970, Resolution 2749 (XXV), vgl. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 2014, S. 462. 48 Heintschel v. Heinegg (Fn. 35), § 46 Rn. 29. 49 Wolfrum (Fn. 9), S. 337 f. Rn. 150–154. 50 Jenisch, NuR 2013, 841 (844). 51 Heintschel v. Heinegg (Fn. 35), § 39 Rn. 12. 52 Vgl. Durner, Common Goods, Statusprinzipien von Um-weltgütern im Völkerrecht, 2001, S. 181 ff.; Kiss u.a., Guide to International Environmental Law, 2007, S. 15; Hinrichs (Fn. 36), S. 246; Wolfrum (Fn. 9), S. 343 Rn. 174.

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hend anerkannt ist, dass Völkergewohnheitsrecht über zwei Entstehungskomponenten definiert wird, vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. b ISGH-Statut: eine allgemeine Übung (consuetudo) und eine dieser Übung entsprechende Rechtsüberzeugung (opinio iuris).53

Zumeist werden folgende vier wesentlichen Elemente des GEdM genannt54: Erstens ist der jeweilige Raum nicht aneig-nungsfähig. Zweitens müssen Aktivitäten im Gebiet zum Wohle der Menschheit durchgeführt und Gewinne geteilt werden. Drittens soll eine internationale Verwaltung unab-hängig die Nutzung des Gebietes organisieren und überwa-chen. Viertens sind nur friedliche Aktivitäten im Gebiet zu-lässig.

Es gibt einen verbreiteten Konsens darüber, dass der Tief-seebergbau außerhalb des Tiefseebodenregimes nicht generell verboten ist.55 Dennoch wird über Art. 137, 138 SRÜ der Versuch unternommen, das Tiefseebodenregime auch gegen-über Nichtvertragsstaaten zur Anwendung zu bringen.56 Art. 153 Abs. 2 SRÜ schließt vom Wortlaut her Nicht- vertragsparteien vom Tiefseebergbau aus.57 Teils wird ange-nommen, dass diese Normen von SRÜ und DÜ eine erga omnes-Wirkung – Verpflichtungen gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft58 – entfalten. Dabei wird allerdings übersehen, dass die immer noch auf einzelstaatlicher Souve-ränität aufbauende Struktur der internationalen Beziehungen eine Gesetzgebungskompetenz einzelner Staaten mit Wir-kung für die Gesamtheit nicht zulässt.59 Einigkeit besteht darüber, dass es durch Völkergewohnheitsrecht verboten ist, die natürliche Umwelt herrschaftsfreier Räume – hier den Tiefseeboden – erheblich zu schädigen.60

Überzeugend ist es, die Entwicklung des Prinzips des GEdM als einen kontinuierlichen Prozess anzusehen. Ein allumfassender konstitutiver Charakter kommt dem Prinzip noch nicht zu.61 b) Der Internationale Seegerichtshof Für Streitigkeiten, die Tätigkeiten im Gebiet betreffen, ist ausschließlich die eigens eingerichtete Meeresbodenkammer (MBK) beim ISGH zuständig, siehe Art. 87 ff. SRÜ. Sie besteht aus elf Richtern, die von den 21 Richtern des ISGH gewählt werden; es gilt das Gebot der gerechten geographi-schen Verteilung. Ferner wird rotiert.62 Ein novum ist, dass der MBK die zwingende Zuständigkeit für Streitfälle in Be- 53 Herdegen, Völkerrecht, 13. Aufl. 2014, § 16 Rn. 1. 54 Brunée/Bodansky/Hey, The Oxford Handbook of Internati-onal Environmental Law, 2007, S. 562; Macdonald, in: Bey-erlin (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung, Festschrift für Rudolf Bernhardt, 1995, S. 154 f. 55 Wolfrum (Fn. 9), S. 343 Rn. 174; Herdegen (Fn. 53), § 16 Rn. 12. 56 Wolfrum (Fn. 9), S. 343 Rn. 175. 57 Wolfrum (Fn. 9), S. 341 Rn. 167. 58 Herdegen (Fn. 53), § 16 Rn. 15. 59 Wolfrum (Fn. 9), S. 344 Rn. 178. 60 Wolfrum (Fn. 9), S. 345 Rn. 182. 61 Vgl. Macdonald (Fn. 54), S. 171. 62 Wolfrum (Fn. 9), S. 461 (468 Rn. 82).

zug auf Tiefseebodenstreitigkeiten übertragen worden ist. Sie kann allein aufgrund der Ratifikation des SRÜ angerufen werden.63 Insofern ist der Tiefseebergbau einer der wenigen Bereiche, die weitgehend der internationalen Streitregelung unterliegen.64

Die MBK könnte folgende Konflikte entscheiden65: § Ein Staat verabschiedet nicht die erforderlichen Gesetze

zur Regelung des Tiefseebergbaus; die IMB klagt. § Die nationalen Tiefseebergbaugesetze sind mit dem SRÜ

nicht vereinbar. § Die IMB lehnt einen Vertrag trotz ordnungsgemäßer Auf-

stellung ab. Die MBK kann auf Verlangen des Rates oder der Versamm-lung auch Gutachten zu Rechtsfragen, die sich aus dem Tä-tigkeitsbereich der IMB ergeben, erstellen, Art. 191, 159 Abs. 10 SRÜ.66 In ihrem ersten und bisher einzigen, am 1.2.2011 veröffentlichten Gutachten67 beschäftigt sich die MBK mit der Verantwortlichkeit und den Pflichten von Staa-ten, die Personen und andere Rechtsträger, die im Gebiet tätig sind, sponsern.68 c) Die Internationale Meeresbodenbehörde Die IMB ist ein durch ein Vertragsregime (SRÜ i.V.m. DÜ) geschaffenes Organ, siehe Art 156 Abs. 1 SRÜ. Im Verhält-nis zu den Vereinten Nationen stellt die IMB eine autonome internationale Organisation dar.69 Gemäß Art. 156 Abs. 2 SRÜ sind die Vertragsparteien des SRÜ ipso facto Mitglieder der IMB. Sie hat u.a. folgende Organe: die Versammlung der Mitgliedstaaten (Art. 159 f. SRÜ), den Rat als Exekutivorgan (Art. 161 ff. SRÜ) und das für alle Verwaltungsaufgaben zuständige Sekretariat (Art.166 f. SRÜ).70

Die IMB hat einerseits die Aufgabe, die Aktivitäten im Gebiet zu organisieren und zu überwachen, insbesondere in Hinblick auf die Verwaltung der Ressourcen, Art. 157 Abs. 1 SRÜ. Der Zugang zum Gebiet ist gemäß Art. 153 SRÜ nur über die IMB möglich. Nach Art. 140 Abs. 2 SRÜ sorgt sie im Sinne des Leitprinzips des GEdM für eine gerechte Ver-teilung der finanziellen und wirtschaftlichen Vorteile aus dem Tiefseebergbau. Völlig offen ist aber, welche Bedeutung die- sem Gewinnverteilungsverfahren in der Praxis zukommen wird.71

63 Hinrichs, AL 2013, 244 (248). 64 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (423). 65 Siehe Hinrichs, AL 2013, 244 (249) m.w.Bsp. 66 Wolfrum (Fn. 9), S. 461 (470 Rn. 89). 67 Advisory opinion of Feb. 1st, 2011: Responsibilities and obligations of States sponsoring persons and entities with respect to activities in the Area, siehe www.itlos.org (24.7.2019) 68 Hinrichs, AL 2013, 244 (249); Jessen, ZUR 2012, 71 (71). 69 Vgl. Art. 2 Abs. 2 des Beziehungsabkommens zu den VN, Anl. zu GA Res. 52/27. 70 Heintschel v. Heinegg (Fn. 35), § 46 Rn. 33. 71 Wolfrum (Fn. 9), S. 339 Rn. 159.

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Andererseits schafft die IMB als rechtsetzendes Organ spezifisches verbindliches Sekundärrecht. Sie ist dazu ver-pflichtet, Regeln, Vorschriften und Verfahren zum Schutz der Meeresumwelt, des ökologischen Gleichgewichts sowie aller natürlichen Ressourcen und sonstige Regelungswerke für den Tiefseebergbau zu entwickeln und zu erlassen.72 Die Gesamt- heit dieser Regeln wird als mining code bezeichnet.73 d) Zu beachtende Sicherheits- und Umweltstandards Die Unternehmen, die Tiefseebergbau betreiben, und die die- se Unternehmen diesbezüglich befürwortenden Staaten müs-sen bestimmte Sicherheits- und Umweltstandards beachten. Der Tiefseebergbau wird wie der traditionelle Bergbau in drei Phasen vollzogen: Prospektion, Erforschung (exploration) und Abbau (exploitation). Für jede Phase sind unterschiedli-che Verfahren vorgesehen bzw. in Planung.74

Normative Wirkung geht auch von den Verträgen aus, die der abbauwillige Antragsteller mit der IMB abschließt.75 Zur Erkundung der Knollen hat die IMB ein eigenes Regelwerk erlassen: die „regulations on prospecting and exploration of polymetallic nodules in the area“76 (RPEN) aus dem Jahre 2000 im Umfang von 40 Bestimmungen (Best.).

Sekundärrechtlich sind lediglich Vorerkundung und Er-forschung geregelt. Ein Entwurf eines umfassenden Abbau-codes für den Tiefseebergbau wurde 2017 vorgelegt, 2020 soll er verabschiedet werden.77 Die folgenden umweltspezifi-schen Eckpunkten sind vorgesehen78: Zu Beginn der Abbau-phase steht ein mining test, der dem weiteren Erkenntnis- gewinn dient, mit maximal 50 % des geplanten kommerziel-len Volumens. Dem Antragsteller sollen ein umfangreiches Umwelt-Monitoring Programm und Umweltverträglichkeits-prüfungen vorgeschrieben werden. Er soll zudem diverse detaillierte Informationen liefern, unter anderem zur geplan-ten Abbautechnik, zur Eindringtiefe ins Sediment und zur Reinigung und Zerkleinerung von Knollen vor Ort.

Erforschung ist „die gezielte Aufsuchung und Analyse von Rohstoffen mit einem auf 15 Jahre befristeten exklusiven Vertrag mit der Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung um 5 Jahre. Diese Rechtsposition gewährt ein Vorrecht auf späteren Abbau gegenüber allen Konkurrenten“79 und ge-währt einen Anspruch auf einen anschließenden Abbau- vertrag. Die IMB hält hierfür Standardverträge vor. Raum für bilaterale Sonderreglungen soll nicht bestehen.80 Antrags- berechtigt sind Vertragsstaaten, staatliche und private Unter-

72 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (426). 73 Beyerlin, International Environmental Law, 2011, S. 131 Fn. 82. 74 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (427). 75 Jenisch, NuR 2013, 841 (848). 76 ISBA/18/C/29; dt. Umsetzung: VO über Bestimmungen über die Prospektion und Erforschung (VOBPE) polymetalli-scher Knollen im Gebiet, BGBl. II 2003, S. 1674. 77 Jenisch, NordÖR 2018, 45 (45). 78 Siehe Jenisch, NordÖR 2014, 421 (430 f.). m.w. Details. 79 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (427). 80 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (427).

nehmen aus Vertragsstaaten.81 Mit drei Lizenzen zur Explo-ration ist China der am stärksten im Tiefseebergbau engagier-te Staat.82 aa) Pflichten des Antragstellers Konkret müssen die Antragsteller im Wesentlichen folgende Standards beachten. Erhebliche Schäden der Meeresumwelt sind zu vermeiden, Best. 1 RPEN.83 Öffentliche oder private Unternehmen müssen von ihrem Heimatstaat, der Vertrags-partner des SRÜ sein muss, befürwortet werden.84 Es muss ein Gesamtfeld beantragt werden, das zwei wirtschaftlich gleichwertige Teilflächen enthält; für die eine kann die IMB den Arbeitsplan bestätigen, die andere Fläche behält die IMB für sich; diese kann ungenutzt bleiben oder auch zur Explora-tion an einen Antragsteller aus einem Entwicklungsland ge-geben werden.85 Der Vertragsnehmer ist zu einer Umwelt-Referenzstudie zur Messung der möglichen Auswirkungen der Explorationstätigkeit sowie zu einem das gesamte Vor- haben begleitenden Monitoring-Programm verpflichtet.86 Er muss, wenn der Rat es fordert oder sobald er Abbaurechte beantragt, Beeinflussungs-Referenzzonen mit vergleichbaren Umweltcharakteristika vorschlagen, an denen das Vorhaben gemessen werden kann und in denen kein Bergbau stattfin-det.87 bb) Pflichten der befürwortenden Staaten Hinsichtlich des Unternehmens, das sie unterstützen, haben die befürwortenden Staaten besondere Pflichten. Gemäß Art. 139, 153 Abs. 4 SRÜ sorgen sie für die Einhaltung der Eignungsanforderungen sowie der finanziellen und techni-schen Leistungsfähigkeit des Unternehmens und haften für die Tätigkeit des befürworteten Unternehmens.88 Für eine Präzisierung der Pflichten der befürwortenden Staaten sorgte das Gutachten der MBK (im Folg.: Gut.).89 Danach haftet der Staat für Sorgfaltsverletzungen bei der Auswahl und Über-wachung von Unternehmen. Er ist verpflichtet bei seiner Auf- sicht, den Vorsorgeansatz, die bewährten Umweltverfahren, die vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfungen, die Verwendung bester verfügbarer Techniken90, die Notfall- vorsorge und seine Schadensersatzpflicht zu beachten.91 Der

81 Jenisch, NuR 2013, 841 (845). 82 Starre (Fn. 1), S. 336. 83 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (427). 84 Art. 153, Anl. III Art. 4. SRÜ. 85 Jenisch, NuR 2013, 841 (845). 86 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (427 f.). 87 Jenisch, NuR 2013, 841 (849). 88 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (426). 89 Siehe Fn. 67. 90 Gemäß Gut. Abs. 136 f. ist das Konzept der besten verfüg-baren Techniken der anwendbare Maßstab. Der Plural mache deutlich, dass es nicht um eine Technik gehe, sondern um ei- ne optimale Kombination von Einsatzmitteln. Gemeint seien auch umweltbezogene Kontrollmaßnahmen und weitergehen- de Strategieentwicklungen (Jessen, ZUR 2012, 71 (77 f.). 91 Siehe insgesamt Gut. Abs. 122.

AUFSÄTZE Dirk Petersen

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Staat ist zur aktiven Überwachung verpflichtet und muss sicherstellen, dass die befürwortete juristische oder natürliche Person alle anwendbaren seevölkerrechtlichen Regeln ein-hält.92

Entsprechend muss er seine Gesetzgebung erweitern. Hierbei agiert er innerhalb seines Rechtssystems, darf aller-dings die internationalen Sicherheitsstandards des Seerechts oder der IMB nicht unterschreiten.93 Jeder befürwortende Staat muss über eine effiziente meeresbergbaurechtliche Ge- setzgebung94 und über hinreichend administrative Einsatz- mittel zur Durchsetzung verfügen. Es genüge nicht, sich auf Verträge zu verlassen.95

Ausschließlich für die im Pazifik gelegene Clarion-Clipperton-Zone wurde 2012 erstmalig ein Umweltmanage-ment-Plan96 beschlossen.97 Dieser verpflichtet aktuelle und künftige Vertragsnehmer v.a. zum Ausweisen von geeigneten Referenzzonen und zum Ergreifen von Maßnahmen zur bio-logischen Wiederbesiedlung und weist neun Schutzgebiete aus, für die ein Eingriffsverbot gilt.98 e) Haftung für durch den Tiefseebergbau hervorgerufene Schäden Mit dem Beginn der Ausbeutungsphase wird es zu den ersten intensiven Eingriffen in die Meeresumwelt kommen.99 Bis zu den ersten Streitigkeiten über die Haftung dürfte es dann nur eine Frage der Zeit sein.100 Für die Haftung für durch Tätig-keiten im Gebiet hervorgerufene Schäden kommen der Ver-tragsnehmer und der befürwortende Staat in Betracht. Das SRÜ sieht ausdrücklich eine Haftung privater Akteure vor.101 Gemäß Art. 22 Anl. III SRÜ ist der Vertragsnehmer für jeden Schaden verantwortlich oder haftbar, der durch rechtswidrige Handlungen im Verlauf seiner Arbeiten verursacht worden ist; dabei wird die Verantwortlichkeit oder Haftung, die der IMB zuzurechnen ist, berücksichtigt. Best. 30 S. 2 RPEN schreibt vor, dass der Vertragsnehmer auch nach Beendigung der Erforschungsarbeiten für Schäden aufgrund von unrecht-mäßigen Handlungen im Rahmen der Durchführung seiner Arbeiten, insbesondere für Schäden an der Meeresumwelt, verantwortlich ist. Die Standardbestimmungen für den Erfor-schungsvertrag gemäß Anl. 4 Abschnitt 16 RPEN sehen eine umfassende, unbegrenzte Haftung vor.

Zur Haftung des befürwortenden Staates: Gemäß Art. 139 Abs. 2 S. 1 SRÜ i.V.m. Art. 4 Abs. 4 Anl. III haftet der be- 92 Gut. Abs. 99 ff. 93 Jenisch, NordÖR 2014, 421 (426). 94 In Deutschland gelten das Meeresbodenbergbaugesetz und das Seevollstreckungsgerichtsgesetz. Für die Aufsicht über die Unternehmen ist das Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie des Landes Niedersachsen zuständig (Starre [Fn. 1], S. 332 f.). 95 Gut. Abs. 240 f. 96 ISBA/18/C/22. 97 Jenisch, NuR 2013, 841 (852). 98 Siehe insgesamt Jenisch, NuR 2013, 841 (852). 99 Starre (Fn. 1), S. 337. 100 Starre (Fn. 1), S. 339. 101 Hobe (Fn. 47), S. 517.

fürwortende Staat für Fehler – Verletzungen seiner Sorgfalts-pflichten102 – bei der Auswahl und Überwachung des Unter-nehmens. Der Verweis auf die Regeln des Völkerrechts zur Staatenhaftung in Art. 139 Abs. 2 SRÜ macht deutlich, dass diese durch die Regelungen des SRÜ nicht abgeschwächt, sondern verstärkt werden sollen. Das Haftungsregime des SRÜ bedient sich hier im Prinzip des Mechanismus der Flag-genzugehörigkeit der Schifffahrt: Mittels eines Staates soll die Geltung des Völkerrechts gegenüber einem Unternehmen sichergestellt werden.103 Anders als bei den sogenannten, zumeist von Entwicklungsländern vergebenen Billigflaggen, unter denen fast alle großen Schiffe über die Meere fahren, hat der Staat im Haftungsregime des SRÜ allerdings eine internationale Verantwortlichkeit für das befürwortete Unter-nehmen. Es soll dadurch erreicht werden, dass die Staaten tatsächlich die Unternehmen kontrollieren.104

Die Haftung ist nicht verschuldensunabhängig. Gemäß Art. 139 Abs. 2 S. 2 SRÜ haftet der Vertragsstaat nicht, wenn er alle notwendigen und angemessenen Maßnahmen zur Auf- sicht und Kontrolle des befürworteten Unternehmens ergrif-fen hat.

In ihrem Gutachten beschäftigte sich die MBK auch mit der Frage, ob in Hinblick auf die Sorgfaltspflichten für Ent-wicklungsländer105 andere Maßstäbe als für Industrieländer gelten. Die MBK findet dafür keine Anhaltspunkte und ver-neint eine Privilegierung einzelner Staatengruppen. Im Meeres- bergbau müsse das Übergreifen sogenannter „sponsoring states of convenience“ unbedingt verhindern werden; eine derartige Entwicklung könne alle umweltpolitischen Ziele des SRÜ gefährden.106 Bezugspunkt sind die „flags of conve-nience“, also Flaggenstaaten, die die unter ihrer Flagge fah-renden Schiffe negativ administrieren und auch häufig hin-sichtlich des Umweltschutzes negativ auffallen.107

Die MBK setzte sich auch mit der insbesondere von Nauru vorgebrachten Besorgnis über eine mögliche aus-ufernde Haftung im Falle von Umweltschäden auseinan-der.108 Im Raum stehen drei Haftungslücken109: § Der Staat trifft gemäß Art. 139 Abs. 2 S. 2 SRÜ alle not-

wendigen Maßnahmen; das befürwortete Unternehmen verursacht ohne eigenes Verschulden Schäden an der Umwelt.

§ Das Unternehmen geht in die Insolvenz; sein Vermögen befindet sich außerhalb eines möglichen Vollstreckungs-zugriffs des Staates.

§ Der Staat hat nicht alle Maßnahmen im Sinne von Art. 139 Abs. 2 S. 2 SRÜ ergriffen; es lässt sich jedoch keine Kau-

102 Jessen, ZUR 2012, 71 (77). 103 Siehe insgesamt Wolfrum (Fn. 9), S. 341 Rn. 169. 104 Wolfrum (Fn. 9), S. 342, Rn. 170. 105 Auslöser dafür waren Anträge von Nauru und Tonga (Jessen, ZUR 2012, 71 [72]). 106 Gut. Abs. 159. 107 Jessen, ZUR 2012, 71 (78). 108 Jessen, ZUR 2012, 71 (79). 109 Jessen, ZUR 2012, 71 (79).

Der Tiefseebergbau: Eine umweltvölkerrechtliche Baustelle ÖFFENTLICHES RECHT

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salität zwischen dem Versäumnis des Staates und dem eingetretenen Umweltschaden nachweisen.

Das Gutachten sieht für keine dieser Situationen eine Auf-fanghaftung vor.110 Die in Entwürfen der International Law Commission vorgesehene faktische Auffanghaftung über-nimmt die MBK nicht.111

Deutlich wurde, dass das Haftungsregime bezüglich des Schutzes des Meeresbodens unzureichend ist. Es sind mehre-re Konstellationen denkbar, bei denen niemand für entstan-dene Umweltschäden einsteht. III. Wirksamkeit des völkerrechtlichen Instrumentariums zum Schutz des Meeresbodens Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) fordert vor dem Hintergrund des eben Gesagten die Etablierung eines verschärften Haf-tungsregimes. Dieses soll laut dem WBGU sektorenübergrei-fend sämtliche Tätigkeiten mit einem Gefährdungspotenzial für die Meere umfassen. Für Zweifelsfälle „soll eine staatli-che Residualhaftung greifen“112. Dadurch werde die Wahr-scheinlichkeit erhöht, dass die Vertragsstaaten im eigenen Interesse anspruchsvolle Umweltschutzvorschriften um- und durchsetzen.113

Eine striktere Haftung könne laut MBK über den mining code der IMB rechtlich geregelt werden. Das Gericht regte unter Verweis auf Art. 235 Abs. 3 SRÜ die Errichtung eines Haftungsfonds für den Tiefseebergbau an.114

Der vorliegende Entwurf eines Abkommens zur Abbau-regulierung ist der Kritik ausgesetzt: Er enthalte keine Regeln für einen effektiven Schutz der Meeresumwelt; vielmehr sei die Formulierung von allgemeinen verbindlichen Umwelt-schutzzielen erforderlich; die nur für einzelne Vorhaben vor- gesehenen Umweltschutzmaßnahmen seien unzureichend.115

Die nationalen Gesetzgeber könnten strengere gesetzliche Vorgaben zum Umweltschutz beschließen. Das deutsche Meeresbodenbergbaugesetz enthält beispielsweise keine Vor- schriften bezüglich der Wiederherstellung der natürlichen Flora und Fauna nach der Beendigung des Abbaus der Roh-stoffe.116 Hinsichtlich des Meeresumweltschutzes und der Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen bestehe im deutschen Recht noch ein erheblicher Konkretisierungs- und Regelungsbedarf.117

In Hinblick auf die zahlreichen Regeln und Vorschriften für den Tiefseebergbau stellt sich die Frage, wie wirksam die Kontrollmechanismen sind und ob die IMB mit knapp 40 ständigen Mitarbeitern und einem Budget von 15,7 Mio. $118 110 Gut. Abs. 204. 111 Jessen, ZUR 2012, 71 (79). 112 WBGU (Fn. 17), S. 275. 113 WBGU (Fn. 17), S. 15, 88, 275; vgl. auch Schlacke, AL 2013, 257 (263). 114 Gut. Abs. 205. 115 Jaeckel, Vereinte Nationen, 4/2018, 154. 116 Starre (Fn. 1), S. 334. 117 Starre (Fn. 1), S. 333. 118 ISBA/20/C/21.

ihren Aufgaben immer sachgerecht nachgehen kann.119 Die IMB hat umfangreiche Kompetenzen; im Tiefseebergbau gibt es allerdings kein „mit dem schifffahrtsrechtlichen Instrumen-tarium der weltweit durchgeführten Hafenstaatkontrollen“ vergleichbares Korrektiv.120 Es erscheint sehr zweifelhaft, ob kleine Staaten tatsächlich internationale Bergbauunternehmen kontrollieren können.

Problematisch ist, dass viele Staaten bemüht sind, die Be-reiche ihrer hoheitlichen Befugnisse zu Lasten des Gebietes auszudehnen. Es besteht die Gefahr, dass das Gebiet mit seinen besonderen Umweltschutzvorschriften nach Geltend-machung aller Ansprüche der Nationalstaaten relativ klein wird.121 Innerhalb der Bereiche der hoheitlichen Befugnisse der Nationalstaaten dürfte das Schutzniveau häufig niedriger sein. Teils wird bedauert, dass die IMB, um deren Gebiets- bestand es ja geht, in keiner Weise an den Verfahren der FSGK beteiligt wird.122

Da sich zahlreiche Staaten noch nicht dem SRÜ i.V.m. dem DÜ angeschlossen, kommen Zweifel auf, wie wirksam die geltenden Regelungen überhaupt sein können. Konflikte sind vorprogrammiert, wenn Nichtvertragsstaaten im Gebiet Tiefseebergbau betreiben wollen oder wenn Haftungsfälle außerhalb des Regimes von SRÜ i.V.m. DÜ auftreten.

In Anbetracht der fehlenden Erkenntnisse über die Tiefsee warnen Umweltschützer vor einem verfrühten Beginn des Bergbaus in der Tiefsee. Die ökologischen Risiken sind be-trächtlich und nicht überschaubar. Im Interesse des Schutzes des Meeresbodens werden die Einrichtung von Schutzzonen in allen Meereszonen sowie neue Rechtsinstrumente zum Schutz der Biodiversität gefordert.123

Der Grundsatz des GEdM hat sich im Seevölkerrecht als Leitlinie etabliert. Teils schützen völkergewohnheitsrechtli-che Rechtssätze jenseits des SRÜ den Meeresboden. Die Zukunft wird erweisen, ob weitere Elemente des Grundsatzes zu Völkergewohnheitsrecht erstarken.

Das völkerrechtliche Instrumentarium zum Schutz des Meeresbodens ist umfänglich und ausdifferenziert; perfekt und lückenlos ist es jedoch keinesfalls. Allerdings wird es fortlaufend weiterentwickelt. Problematisch sind die darge-stellten Haftungslücken und das Fehlen übergreifender Re-geln zum Schutz der Umwelt der Tiefsee. Die zukünftige Entwicklung wird zeigen, ob das völkerrechtliche Instrumen-tarium die Tiefsee hinreichend schützen kann.

119 Vgl. Jenisch, NordÖR 2014, 421 (424); Thiel u.a., Schiff & Hafen 6/2012, 86 (88). 120 Jessen, ZUR 2012, 71 (78). 121 Jenisch, Schiff & Hafen 11/2014, 36 (39). 122 Jenisch, NordÖR 2010, 373 (377). 123 Jenisch, NuR 2013, 841 (854).

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Grundzüge der Produkthaftung – Einblicke in Theorie und Praxis Von RAin Lena Mitterhuber, Frankfurt Die Waschmaschine gerät in Brand1, der Sattel des Mountain-bikes bricht während der Fahrt ab2 oder die Enthaarungs-creme aus dem Drogerie-Markt führt zu dauerhaften Haut-schäden3 – Fragen der Produkthaftung begegnen einem re-gelmäßig in der anwaltlichen Beratungspraxis und im All- tag. Der Beitrag stellt nach einer Einleitung (I.) die Voraus-setzungen der Produkthaftung nach dem Produkthaftungsge-setz dar (II.). Sodann wird die Beweislastverteilung unter-sucht (III.) und ein Ausblick auf aktuelle Diskussionen in diesem Rechtsbereich gegeben (IV.). I. Einleitung Produkthaftung betrifft die Frage, ob und inwieweit der Her-steller eines Produkts für Personen- und Sachschäden einzu-stehen hat, die eine Person durch die Benutzung des Produkts infolge eines Fehlers des Produkts erleidet.4 Im Fokus steht dabei die Haftung für solche Sach- und Personenschäden, die der Person unabhängig von der Fehlerhaftigkeit des Produkts selbst entstehen.5

Für Ansprüche gegen den Hersteller eines fehlerhaften Produktes – der nicht zugleich auch Vertragspartner des An-spruchstellers ist – kommen in Deutschland grundsätzlich zwei Haftungsgrundlagen in Betracht.6 Zum einen können sich Ansprüche aus den Grundsätzen der sogenannten delikti-schen Produzentenhaftung ergeben, die auf § 823 Abs. 1 BGB (Verletzung von Verkehrssicherungspflichten), § 823 Abs. 2 BGB (Verletzung eines Schutzgesetzes) oder § 831 BGB basiert.7 Zum anderen besteht in Deutschland seit 1990 ein eigenes Gesetz für die Haftung für fehlerhafte Produkte: das Produkthaftungsgesetz (im Folgenden: ProdHaftG8). Hin- tergrund ist die Richtlinie 85/374/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte9, die mit dem Prod- HaftG in das nationale deutsche Recht umgesetzt worden ist. Mit der Richtlinie 85/374/EWG sollten in den Mitgliedstaaten

1 Vgl. LG Düsseldorf, Urt. v. 14.4.2016 – 15 O 244/15. 2 Vgl. LG Ravensburg, Urt. v. 29.8.2016 – 2 O 309/15. 3 Vgl. LG Heidelberg, Urt. v. 25.11.2016 – 3 O 5/16. 4 Vgl. Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 78. Aufl. 2019, Einf. ProdHaftG Rn. 1. 5 Vgl. Sprau (Fn. 4), Einf. ProdHaftG Rn. 1; sowie § 1 Abs. 1 S. 2 ProdHaftG. 6 Vgl. für einen Überblick zu beiden auch Fuchs/Baum- gärtner, Jus 2011, 1057 ff. 7 Vgl. den Überblick bei Sprau (Fn. 4), § 823 BGB Rn. 170 m.w.N. 8 Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 15.12.1989, BGBl. I 1989, S. 2189, in Kraft seit 1.1.1990, zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.7.2017, BGBl. I 2017, S. 2421. 9 RL 85/374/EWG des Rates vom 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. EWG 1985 Nr. L 210, S. 29.

Wettbewerbsverzerrungen durch unterschiedliche Haftungs-regelungen verhindert, Behinderungen für den freien Waren-verkehr innerhalb des gemeinsamen Marktes abgebaut und der Verbraucher vor Schädigungen seiner Gesundheit und seines Eigentums durch fehlerhafte Produkte geschützt wer-den.10 Die zentrale Anspruchsgrundlage für die Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz in Deutschland ist § 1 Prod- HaftG.

Ansprüche gegen den Hersteller nach §§ 823 ff. BGB und nach dem ProdHaftG bestehen nebeneinander (vgl. auch § 15 Abs. 2 ProdHaftG).11 Die Haftungsvoraussetzungen ähneln sich teilweise, aber es gibt auch deutliche Unterschiede12: Die zentrale Besonderheit des ProdHaftG besteht darin, dass § 1 ProdHaftG eine verschuldensunabhängige Gefährdungs-haftung des Herstellers für Schäden infolge eines Fehlers eines Produkts vorsieht.13 Der Hersteller haftet mithin auch dann nach dem ProdHaftG, wenn er den Fehler des Produkts nicht verschuldet hat. Zudem enthält § 4 ProdHaftG einen weiten Herstellerbegriff.14 Der Hintergrund ist, dass eine etwaige arbeitsteilige Herstellung des Produkts nicht zulasten des Geschädigten gehen soll.15 Hersteller eines Produkts ist nach § 4 Abs. 1 S. 1 ProdHaftG derjenige, der das End- produkt, einen Grundstoff oder ein Teilprodukt hergestellt hat. Wer sich durch das Anbringen seines Namens, seiner Marke oder eines anderen Kennzeichens als Hersteller aus-gibt (sogenannter Quasihersteller), gilt nach § 4 Abs. 1 S. 2 ProdHaftG ebenfalls als Hersteller im Sinne des ProdHaftG.16 Über § 4 Abs. 2 und 3 ProdHaftG kommt zudem eine Haf-tung des Importeurs und Lieferanten in Betracht; deliktsrecht-lich haften diese Personen grundsätzlich nicht.17

Während die obigen zwei Besonderheiten des ProdHaftG den Geschädigten begünstigen, wird die Haftung im Gegen-satz zum Deliktsrecht zugleich in mehrfacher Hinsicht be-grenzt. Es gilt ein Haftungshöchstbetrag von 85 Millionen Euro bei Tod oder Körperverletzung (§ 10 ProdHaftG). Im Falle einer Sachbeschädigung muss der Geschädigte eine Selbstbeteiligung in Höhe von EUR 500 tragen (§ 11 Prod- HaftG). Ferner enthält das ProdHaftG eine eigene Verjäh-rungsregelung (§ 12 ProdHaftG). Schließlich erlöschen Pro-dukthaftungsansprüche nach dem ProdHaftG grundsätzlich zehn Jahre nach dem Inverkehrbringen des Produktes (§ 13 ProdHaftG). 10 Vgl. Präambel der RL 85/374/EWG; näher Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, Einl. Prod- HaftG Rn. 2. 11 Siehe auch Sprau (Fn. 4), Einf. ProdHaftG Rn. 1. 12 Umfassend zu den Unterschieden siehe Sprau (Fn. 4), § 823 BGB Rn. 172 ff., zudem Einf. ProdHaftG Rn. 5. 13 Vgl. Sprau (Fn. 4), Einf. ProdHaftG Rn. 5 sowie § 1 Prod- HaftG Rn. 1; näher und kritisch zur Einordnung als Gefähr-dungshaftung Wagner (Fn. 10), Einl. ProdHaftG Rn. 17 ff. 14 Vgl. Sprau (Fn. 4), Einf. ProdHaftG Rn. 5. 15 Vgl. Fuchs/Baumgärtner, JuS 2011, 1057 (1063). 16 Im Einzelnen Sprau (Fn. 4), § 4 ProdHaftG Rn. 6. 17 Vgl. näher Sprau (Fn. 4), § 823 BGB Rn. 181.

Grundzüge der Produkthaftung – Einblicke in Theorie und Praxis ZIVILRECHT

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Für bestimmte Produkte gibt es spezielle Regelungen, die denen des ProdHaftG vorgehen. Dies gilt insbesondere für Arzneimittel, vgl. § 15 Abs. 1 ProdHaftG. Für diese sieht das Arzneimittelgesetz (AMG) in den §§ 84 ff. AMG spezielle Haftungsregelungen vor. Weitere Spezialgesetze bestehen für gentechnisch veränderte Organismen und Schäden infolge eines nuklearen Zwischenfalls.18 II. Voraussetzungen der Produkthaftung nach dem Prod- HaftG Der Hersteller eines Produkts ist nach § 1 Abs. 1 S. 1 Prod- HaftG zum Schadensersatz verpflichtet, wenn durch den Fehler eines Produkts jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt wird. Die Haftung nach dem ProdHaftG setzt demnach eine Rechts-gutsverletzung (1.), einen Fehler eines Produkts (2.) und Kau- salität (3.) voraus. Der Hersteller haftet nicht, wenn zu seinen Gunsten ein Haftungssauschluss nach § 1 Abs. 2 oder Abs. 3 ProdHaftG eingreift (4.). 1. Rechtsgutsverletzung Es muss eines der in § 1 Abs. 1 S. 1 ProdHaftG aufgeführten Rechtsgüter verletzt worden sein, d.h. jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine Sache be-schädigt worden sein. Die Begriffe Körper- und Gesundheits- verletzung sind wie bei § 823 Abs. 1 BGB zu verstehen.19 Vermögensschäden werden nicht erfasst.20

Im Falle der Sachbeschädigung sind allerdings Beschrän-kungen zu beachten.21 Der Anspruch nach dem ProdHaftG greift nur dann, wenn eine andere Sache als das fehlerhafte Produkt beschädigt wird, die ihrer Art nach gewöhnlich für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt ist und hierzu hauptsächlich verwendet wurde (§ 1 Abs. 1 S. 2 ProdHaftG). Das führt im Einzelfall zu Abgrenzungsschwierigkeiten.22 Dementsprechend ging es in dem eingangs genannten Fall der in Brand geratenen Waschmaschine nicht um den Sach-schaden an der Waschmaschine selbst, sondern um die durch die Löschung des Brandes hervorgerufenen Feuchtigkeits-schäden in der Wohnung.23 Hintergrund der Einschränkung ist, dass es im Produkthaftungsrecht nicht darum geht, die vertraglichen Gewährleistungsrechte zu ersetzen.24 Das Pro-dukthaftungsrecht schützt das Integritätsinteresse des Benut-zers, und nicht das Äquivalenzinteresse des Vertragspart-ners.25 Im Falle der Fehlerhaftigkeit des Produkts selbst kön-nen jedoch parallel zur Produkthaftung vertragliche Mängel-

18 Näher Sprau (Fn. 4), § 15 ProdHaftG Rn. 1 m.w.N. 19 Näher Sprau (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 3, § 823 BGB Rn. 4. 20 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 8. 21 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 5 ff. 22 Dazu näher Sprau (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 6 f. 23 Vgl. LG Düsseldorf, Urt. v. 14.4.2016 – 15 O 244/15, Rn. 18. 24 Vgl. Wagner (Fn. 10), § 1 ProdHaftG Rn. 8. 25 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 1.

haftungsansprüche geltend gemacht werden.26 Als weitere Einschränkung ist im Falle einer Sachbeschädigung zu beach-ten, dass der Geschädigte nach § 11 ProdHaftG einen Scha-den bis zu einer Höhe von EUR 500 selbst zu tragen hat. 2. Fehler eines Produkts Die entscheidende Frage ist in der anwaltlichen Praxis regel-mäßig, ob ein Produktfehler vorliegt. Diese Frage nimmt in Haftungsprozessen in der Regel den größten Raum in An-spruch. Der Begriff des „Produkts“ wird in § 2 ProdHaftG legaldefiniert als „jede bewegliche Sache, auch wenn sie einen Teil einer anderen beweglichen Sache oder einer un-beweglichen Sache bildet“. Es ist für die Haftung nach dem ProdHaftG mithin unerheblich, ob die bewegliche Sache etwa durch Einbau ein wesentlicher Bestandteil einer unbewegli-chen Sache geworden ist.27 Elektrizität wird durch § 2 Prod- HaftG ebenfalls ausdrücklich als Produkt erfasst, obwohl sie an sich keine Sache darstellt.28 Während das ProdHaftG auf Arzneimittel nicht anwendbar ist (vgl. § 15 Abs. 1 Prod- HaftG), gelten für Medizinprodukte ebenfalls die Regelungen des ProdHaftG.29

Nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG hat ein Produkt einen „Feh-ler“, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berück-sichtigung aller Umstände berechtigterweise erwartet werden kann. Zu diesen Umständen gehören nach § 3 Abs. 1 Prod- HaftG insbesondere die Darbietung des Produkts, der Ge-brauch des Produkts, mit dem billigerweise gerechnet werden kann, und der Zeitpunkt, in dem das Produkt in den Verkehr gebracht wurde. Als weitere Umstände können etwa die Na-tur der Sache und die Preisgestaltung relevant sein.30 Es be-steht zudem eine Vielzahl von öffentlich rechtlichen techni-schen Normen und gesetzlichen Sicherheitsbestimmungen wie etwa die DIN-Vorschriften und das Produktsicherheits-gesetz, deren Einhaltung erwartet wird.31 Bereits die Legal- definition des „Fehlers“ offenbart unbestimmte Rechtsbegrif-fe, die in der Praxis ausgelegt, mithin „mit Leben“ gefüllt werden müssen: a) Berechtigte Sicherheitserwartungen Ob ein „Fehler“ anzunehmen ist, hängt entscheidend davon ab, welche Sicherheit berechtigterweise erwartet werden kann. Hierfür kommt es nicht auf die subjektiven Sicherheits-erwartungen des konkret Geschädigten an.32 Stattdessen gel-ten grundsätzlich objektive Maßstäbe wie bei den Verkehrs-

26 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 823 BGB Rn. 171, 178. Nach Art. 13 RL 85/374/EWG bleibt die vertragliche Haftung unberührt. Näher zur Abgrenzung zur Mängelhaftung auch Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 1. 27 Vgl. auch Sprau (Fn. 4), § 2 ProdHaftG Rn. 1. 28 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 2 ProdHaftG Rn. 1. 29 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 15 ProdHaftG Rn. 1. 30 Näher im Einzelnen Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 4 m.w.N. 31 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 4 m.w.N. 32 Vgl. BGH NJW 2009, 1669 (1670); Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 3.

DIDAKTISCHE BEITRÄGE Lena Mitterhuber

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pflichten eines Herstellers im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB.33 Maßgeblich sind die Sicherheitserwartungen des Personenkreises, an den sich der Hersteller mit seinem Pro-dukt wendet, sowie die Erwartungen von unbeteiligten Drit-ten, die mit dem Produkt in Berührung kommen.34 Dabei gelten erhöhte Sicherheitsanforderungen, wenn die Ware für einen Endverbraucher bestimmt ist: Der Hersteller muss auf das Wissen und das Gefahrsteuerungspotential des durch-schnittlichen Konsumenten Rücksicht nehmen.35

Der Hersteller hat diejenigen Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, die nach den Gegebenheiten des konkreten Falls zur Vermeidung bzw. Beseitigung einer Gefahr objektiv erforder-lich und zumutbar sind.36 Die Anforderungen an die Sicher-heitsmaßnahmen sind umso höher, je größer die vom Produkt ausgehenden Gefahren sind.37 Beispielsweise wird ein Ver-braucher, der eine Gesichtsenthaarungscreme gemäß der Ge- brauchsanweisung an einer kleinen Stelle vorab ohne Auf- fälligkeiten getestet hat, nicht damit rechnen müssen, dass die Enthaarungscreme bei großflächiger Anwendung zu dauer-haft verbleibenden Hautschäden führt.38

Eine vollkommene Gefahrlosigkeit von Produkten kann ein Verbraucher jedoch nicht erwarten.39 Zudem ist bei der Zumutbarkeit einer konkreten Sicherheitsmaßnahme auch die wirtschaftliche Belastung des Herstellers zu beachten.40 Bei einem als „Kirschtaler“ angebotenen Gebäck soll ein Ver-braucher beispielsweise nicht erwarten dürfen, dass das Ge-bäck keinerlei Kirschkerne enthält, zumal bei einem Biss auf einen Kirschstein keine schwerwiegende Gesundheitsgefahr drohe und es dem Hersteller nicht zumutbar sei, jede einzelne Kirsche auf eventuell noch vorhandene Kirschsteine zu unter-suchen.41 b) Fehlerkategorien In der Praxis wird bei dem Fehlerbegriff des § 3 ProdHaftG üblicherweise zwischen drei Arten von Fehlern unterschie-den: (1) Konstruktionsfehlern, (2) Fabrikationsfehlern und (3) Instruktionsfehlern.42 Diese Kategorien bestehen gleicher- maßen bei den Verkehrspflichten im Rahmen der deliktischen Haftung.43

Ein Konstruktionsfehler liegt vor, wenn das Produkt schon seiner Konzeption nach unter dem gebotenen Sicher- 33 Vgl. BGH NJW 2009, 1669 (1670 m.w.N.). 34 Vgl. BGH NJW 2009, 1669 (1670); Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 3. 35 Vgl. BGH NJW 2009, 1669 (1670 m.w.N.); Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 3. 36 Vgl. BGH NJW 2009, 1669 (1670 m.w.N.); Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 3. 37 Vgl. etwa BGH NJW 2009, 2952 (2954 m.w.N.). 38 Vgl. LG Heidelberg, Urt. v. 25.11.2016 – 3 O 5/16, Rn. 28 ff. 39 Vgl. BGH NJW 2009, 1669 (1670) – „Kirschtaler“. 40 So BGH NJW 2009, 2952 (2954 m.w.N.) – „Airbag“. 41 Vgl. BGH NJW 2009, 1669 (1670 f.) – „Kirschtaler“. 42 Vgl. Wagner (Fn. 10), § 3 ProdHaftG Rn. 36, 37 ff.; Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 2, 8 ff. 43 Vgl. BGH NJW 2009, 2952 (2953).

heitsstandard bleibt.44 Der Hersteller muss schon bei der Konzeption und Planung des Produkts diejenigen Maßnah-men treffen, die zur Vermeidung einer Gefahr objektiv erfor-derlich und zumutbar sind.45 Dabei ist der neueste Stand der Wissenschaft und Technik zum Zeitpunkt des Inverkehr- bringens des Produkts zu beachten.46 Ein Konstruktionsfehler wird der ganzen Serie eines Produkts anhaften.47 Dagegen handelt es sich bei einem Fabrikationsfehler um ein einzelnes Produkt aus einer Serie, das vom allgemeinen Standard ab-weicht.48

Für einen Instruktionsfehler kommt es auf die Darbietung des Produkts an. Ein Instruktionsfehler kann vorliegen, wenn der Hersteller in der Gebrauchsanweisung nicht ausreichend vor gefahrbringenden Eigenschaften des Produkts warnt und auf die korrekte Handhabung des Produkts hinweist.49 Dabei muss der Hersteller nicht nur den bestimmungsgemäßen Ge- brauch des Produkts beachten, sondern auch vor den Gefah-ren warnen, die bei einem naheliegenden Gebrauch des Pro-dukts drohen können und nicht als allgemeines Gefahren- wissen anzusehen sind.50 Ein Hersteller eines Mountainbikes verletzt etwa seine Instruktionspflicht nach § 3 Abs. 1 lit. a ProdHaftG, wenn er in der Bedienungsanleitung nicht ord-nungsgemäß darüber informiert, dass die Sattelschrauben nur auf eine bestimmte Art angezogen werden dürfen.51 Im kon-kreten Fall brachen bei dem Mountainbike während der Fahrt die Sattelschrauben, da der Fahrradbenutzer sie unwissend zu fest angezogen hatte.52 Der Geschädigte stürzte infolgedessen und erlitt Verletzungen der Wirbelsäule, weshalb der Her- steller für die Krankenhauskosten, den Verdienstausfall und Schmerzensgeld haftete.53 3. Kausalität Der entstandene Schaden muss durch den Produktfehler ver-ursacht worden sein. Zwischen dem Produktfehler und der Rechtsgutsverletzung muss ein Zurechnungszusammenhang bestehen.54 Hierzu wird üblicherweise auf die Äquivalenz- theorie und die Lehre vom Schutzzweck der Norm abge-stellt.55 44 Vgl. BGH NJW 2009, 2952 (2593 m.w.N.) – „Airbag“; vgl. auch Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 8. 45 Vgl. BGH NJW 2009, 2952 (2593 m.w.N.) 46 Näher BGH NJW 2009, 2952 (2593 m.w.N.). 47 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 8 f. 48 Näher zum Fabrikationsfehler Sprau (Fn. 4), § 3 Prod- HaftG Rn. 8 f. 49 Näher Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 10 ff. m.w.N. 50 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 11; auch LG Ravens- burg, Urt. v. 29.8.2016 – 2 O 309/15, Rn. 25. 51 Vgl. LG Ravensburg, Urt. v. 29.8.2016 – 2 O 309/15, Rn. 24 ff. 52 Vgl. LG Ravensburg, Urt. v. 29.8.2016 – 2 O 309/15. 53 Vgl. LG Ravensburg, Urt. v. 29.8.2016 – 2 O 309/15. 54 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 9. 55 Im Einzelnen Wagner (Fn. 10), § 1 ProdHaftG Rn. 19 ff.

Grundzüge der Produkthaftung – Einblicke in Theorie und Praxis ZIVILRECHT

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4. Kein Haftungsausschluss Die Ersatzpflicht des Herstellers ist ausgeschlossen, wenn ei- ner der in § 1 Abs. 2 ProdHaftG enthaltenen Tatbestände ein- greift. Demnach haftet der Hersteller nicht, wenn er (1) das Produkt nicht in den Verkehr gebracht hat, (2) nach den Um-ständen davon auszugehen ist, dass das Produkt den Fehler, der den Schaden verursacht hat, noch nicht hatte, als der Her- steller es in den Verkehr brachte, oder (3) der Hersteller das Produkt weder für den Verkauf oder eine andere Form des Vertriebs mit wirtschaftlichem Zweck hergestellt noch im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit hergestellt oder vertrie-ben hat. § 1 Abs. 2 Nr. 4 ProdHaftG sieht zudem vor, dass der Hersteller nicht haftet, wenn der Fehler darauf beruht, dass das Produkt in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller es in den Verkehr brachte, zwingenden Rechtsvorschriften ent-sprach, damit sich der Hersteller nicht zwischen Ungehorsam und Haftung entscheiden muss.56

Wichtig ist zudem der Ausschluss der Haftung für soge-nannte Entwicklungsfehler nach § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG, der bei Konstruktions- und Instruktionsfehlern relevant wer-den kann57. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG haftet der Her-steller nicht, wenn der Fehler nach dem Stand der Wissen-schaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte. Der Hersteller soll nicht für Entwicklungsrisiken des Produkts haften, wenn die potenzielle Gefährlichkeit des Pro- dukts im Zeitpunkt seines Inverkehrbringens nach dem dama-ligen Stand von Wissenschaft und Technik nicht erkannt wer- den konnte, weil die Erkenntnismöglichkeiten (noch) nicht weit genug fortgeschritten waren.58 Um dies beurteilen zu können, kommt es in der gerichtlichen Praxis regelmäßig auf die Expertise eines Sachverständigen an. Der Hersteller hat die Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technik zudem jedenfalls im Rahmen seiner Produktbeobachtungspflichten nach Deliktsrecht zu verfolgen.59 III. Beweislastverteilung Besonders relevant ist in der Praxis die Frage, wer in einem gerichtlichen Verfahren was zu beweisen hat. Mit dieser Frage kann in der Praxis über Erfolg oder Nichterfolg einer Produkthaftungsklage entschieden werden. Nach § 1 Abs. 4 S. 1 ProdHaftG trägt der Geschädigte die Beweislast für den Fehler des Produkts, den Schaden und den ursächlichen Zu-sammenhang zwischen Fehler und Schaden. Der Hersteller dagegen muss beweisen, dass seine Ersatzpflicht nach § 1 Abs. 2 ProdHaftG ausgeschlossen ist (vgl. § 1 Abs. 4 S. 2 ProdHaftG).

Diese Beweislastverteilung geht auf Art. 4 der Produkt-haftungsrichtlinie zurück. Ob die Beweislastverteilung rechts- politisch überzeugt, wird unterschiedlich bewertet. Einerseits wird die Beweislastverteilung von Verbraucherorganisatio-nen mitunter kritisiert, da es für den Geschädigten aufgrund

56 Näher Sprau (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 20. 57 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 21. 58 Vgl. BGH NJW 2009, 2952 (2955 m.w.N). 59 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 21.

fehlender Informationen über das Produkt und der Verteilung der Kosten schwierig sein könne, die Kausalität zwischen Produktfehler und Schaden zu beweisen.60 Tatsächlich wird die Beweislastverteilung auch von der Europäischen Kom-mission als der „größte[…] Stolperstein für die Verbraucher auf dem Weg zu einer Entschädigung“ angesehen.61

Zugleich ist jedoch zu beachten, dass Änderungen an der Beweislastverteilung die Hersteller vor unabsehbare Haf-tungsrisiken stellen und die Entwicklung von neuen Produk-ten hemmen könnten.62 Die Beweislastverteilung nach Art. 4 der Produkthaftungsrichtlinie ist ein wichtiger Bestandteil, um die Interessen der Verbraucher und Hersteller bei der nach dem ProdHaftG verschuldensunabhängigen Haftung der Hersteller auszutarieren.63 Die Europäische Kommission kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Beweislast- regelung nicht aufgehoben werden könne und die Richtlinie insgesamt grundsätzlich zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Verbraucherschutz und der Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs führe.64

Im Einzelnen können dem Geschädigten zudem Beweis- erleichterungen bis hin zu einer Umkehr der Beweislast hel-fen.65 Beispielsweise muss der Geschädigte bei einem In-struktionsfehler zwar grundsätzlich beweisen, dass der ein- getretene Schaden durch eine ausreichende Warnung vor dem Risiko vermieden worden wäre.66 Zugunsten des Geschädig-ten kann aber die tatsächliche Vermutung gelten, dass ein deutlicher und plausibler Hinweis des Herstellers von dem Adressaten beachtet worden wäre.67 Auch lässt es die Recht-sprechung mitunter ausreichen, wenn eine eindeutige Scha-densursache zwar nicht ermittelt werden kann, aber die von einem Sachverständigen benannten möglichen Schadensursa-chen alle in den Verantwortungsbereich des Herstellers fal-len.68

Für Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren zudem ein Urteil des EuGH zu implantierbaren Herzschrittmachern und

60 Vgl. Bericht der Kommission an das Europäische Parla-ment, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozial-ausschuss über die Anwendung der Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechts-und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (85/374/EWG) v. 7.5.2018, COM(2018) 246 final, S. 6. 61 Bericht der Kommission (Fn. 60), S. 6. 62 Vgl. Schweiger/Hierl, PharmR 2018, 329 (333). 63 Krit. zu Modifizierungen Schweiger/Hierl, PharmR 2018, 329 (333). 64 Näher dazu Bericht der Kommission (Fn. 60), S. 6 f. Zu-gleich könne die Wirksamkeit der Richtlinie durch Klarstel-lungen zur Beweislast erhöht werden. Dies werde untersucht. 65 Vgl. Sprau (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 25 m.w.N.; Wagner (Fn. 10), § 1 ProdHaftG Rn. 76. 66 Vgl. BGH NJW 2009, 2952 (2956). 67 Vgl. BGH NJW 2009, 2952 (2956 m.w.N.). 68 So jedenfalls LG Düsseldorf, Urt. v. 14.4.2016 – 15 O 244/15, Rn. 22 f., bei mehreren möglichen Brandursachen einer Waschmaschine.

DIDAKTISCHE BEITRÄGE Lena Mitterhuber

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Defibrillatoren gesorgt.69 Der Hersteller der Geräte stellte einen potenziellen Fehler dieser Produktgruppen fest, der das Ausfallrisiko der Geräte stark erhöhte. Ob der Fehler aller-dings bei den konkret verwendeten Geräten der Geschädigten vorlag, konnte nicht mehr festgestellt werden. Der EuGH entschied, dass ein Produkt, das zu einer Gruppe oder Pro-duktionsserie von Produkten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Defibrillatoren gehört, bei denen ein potenzi-eller Fehler festgestellt wurde, als fehlerhaft eingestuft wer-den kann, ohne dass der Fehler bei dem konkreten Produkt nachgewiesen werden muss.70 Der EuGH betonte dabei, dass die berechtigten Sicherheitserwartungen bei derartigen Gerä-ten in Anbetracht ihrer Funktion, der besonderen Verletzlich-keit ihrer Benutzer und der „anormalen Potenzialität eines Personenschadens“ besonders hoch seien.71 Gleichwohl kann das Urteil aufgrund der Besonderheiten der implantierbaren Medizinprodukte nicht dahingehend verstanden werden, dass es zukünftig generell nur noch auf die Fehlerhaftigkeit einer Produktgruppe oder einen Fehlerverdacht ankommt.72 IV. Fazit und Ausblick Die Produkthaftung ist in der juristischen Beratungspraxis ein spannendes und vielseitiges Rechtsgebiet, das oftmals ein näheres (technisches) Verständnis des Produktes erfordert. In der anwaltlichen Praxis ist daher die Zusammenarbeit mit Sachverständigen meist unerlässlich. Zwar sieht das Prod- HaftG Legaldefinitionen für die Tatbestandsvoraussetzungen eines produkthaftungsrechtlichen Anspruchs vor. Allerdings müssen diese erst durch die Rechtsprechung „mit Leben gefüllt“ werden und es hat sich eine umfangreiche Kasuistik entwickelt. In der Praxis entscheidet über Erfolg oder Nicht-erfolg einer Klage nicht zuletzt die Beweislastverteilung des ProdHaftG.

Zu neuen Herausforderungen für das Rechtsgebiet wird zukünftig die Einführung von intelligenten Produkten führen. Diskussionen um die Ausgestaltung und gegebenenfalls Er-weiterung der Haftung für Produkte der künstlichen Intelli-genz werden derzeit auf nationaler und europäischer73 Ebene geführt, sei es für intelligente Medizinprodukte74 oder die Haftung beim autonomen Fahren75. Der deutsche Gesetz- geber hat bislang nur das automatisierte und nicht das auto-

69 Vgl. EuGH NJW 2015, 1163 ff. (Boston Scientific Medizin-technik GmbH/AOK Sachsen-Anhalt u.a.), m. Anm. Moelle/ Dockhorn. 70 Vgl. EuGH NJW 2015, 1163 (1164). 71 Vgl. EuGH NJW 2015, 1163 (1164). 72 Vgl. Moelle/Dockhorn, NJW 2015, 1163 (1165); Reich, EuZW 2015, 318 (320 f.). Für die Übertragbarkeit der Grund- sätze auf Hüftprothesen jedoch KG MedR 2016, 349 ff. 73 Vgl. den Überblick bei Borges, NJW 2018, 977 f. m.w.N.; neue Herausforderungen sieht auch die Kommission, Bericht der Kommission (Fn. 60), S. 1 ff. 74 Vgl. im Überblick Droste, MPR 2018, 109 ff. 75 Für einen Überblick über die haftungsrechtlichen Fragen beim autonomen Fahren vgl. Kütük-Markendorf/Essers, MMR 2016, 22 ff.; Borges, NJW 2018, 977 ff.

nome Fahren zugelassen und näher geregelt.76 Interessant wird die Frage sein, welche Sicherheit von Produkten der künstlichen Intelligenz zukünftig erwartet werden kann.77 Es könnten langfristig neue Haftungsregelungen erforderlich werden, um den Besonderheiten von autonomen Systemen gerecht zu werden.78 Die Einführung von autonom fahrenden Fahrzeugen dürfte zudem insgesamt zu einer Verschiebung der Haftung von dem Fahrzeugführer hin zum Hersteller führen.79 Zugleich könnte sich jedoch die Anzahl an Unfällen reduzieren, was den Herstellern zugutekäme.80 Es bleibt spannend, wie sich Gesetzgebung und Rechtsprechung ent-wickeln werden.

76 Vgl. Achtes Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrs- gesetzes v. 16.6.2017, BGBl. I 2017, S. 1648; näher dazu Freise, VersR 2019, 65 ff.; Hilgendorf, JA 2018, 801 (801 f.). 77 Vgl. etwa Überlegungen für das autonome Fahren bei Freise, VersR 2019, 65 (69 f. m.w.N.). 78 Vgl. Borges, NJW 2018, 977 (982); ähnlich Droste, MPR 2018, 109 (114) zu intelligenten Medizinprodukten. 79 Vgl. Kütük-Markendorf/Essers, MMR 2016, 22 (25 f.); Freise, VersR 2019, 65 (73); Hilgendorf, JA 2018, 801 (803). 80 Vgl. Hilgendorf, JA 2018, 801 (803).

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Fortgeschrittenenklausur: Brand im Mietshaus* Von Wiss. Mitarbeiter Oliver Becker, Mannheim** Sachverhalt V ist Eigentümer eines Hauses in der Mannheimer Innen-stadt. Das Haus besteht aus sieben Wohnungen und einem Ladenlokal. Da V weder die Wohnungen noch das Laden- lokal selbst benötigt, vermietet er das Gebäude seit über zehn Jahren. Nachdem Ende November 2015 die Mieter eines Appartements und des im Erdgeschoss gelegenen Laden- lokals ausgezogen sind, sucht V neue Mieter. M interessiert sich für beide Mietobjekte. In die Wohnung möchte er selbst einziehen, in dem Ladenlokal möchte er eine Bäckerei eröff-nen. Nach Besichtigung der Mietobjekte durch M einigen sich V und M am 20.12.2015 über den Abschluss zweier Mietverträge. Hierzu sendet V dem M per E-Mail zwei von-einander getrennte Formularmietverträge, die er aus dem Internet von der Seite des Vermieterschutzbundes herunter-geladen und vorausgefüllt hat, zu. Der Wohnungsmietvertrag enthält unter anderem folgende Klausel: § 11 – Haftung Der Vermieter haftet auf Schadensersatz wegen Mängeln an der Mietsache nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. M antwortet dem V per E-Mail, dass er sowohl mit dem Mietvertrag über das Ladenlokal als auch mit dem Miet- vertrag über die Wohnung einverstanden sei. Am 2.1.2016 bezieht M die Wohnung. Zwei Wochen später eröffnet er – nun Existenzgründer – seine Bäckerei. Kurz darauf veräußert V das gesamte Grundstück mitsamt Gebäude wirksam an K.

Am 28.2.2019 schließlich überlässt M die Wohnung un-entgeltlich für sechs Monate seinem 20-jährigen Sohn S, da dieser und seine 2-jährige Tochter zu diesem Zeitpunkt über keine feste Bleibe verfügen. M mietet sich für diese sechs Monate eine Ersatzwohnung. K hatte zuvor seine Erlaubnis zu der Überlassung der Wohnung an S erteilt.

Am 6.3.2019 – kaum nachdem S die Wohnung bezogen hat – entsteht ein Brand innerhalb des Gebäudes, der sich an einer defekten Stromleitung im gemeinsam genutzten Treppen- haus entzündet hat und der auf die Bäckerei übergreift. Die brandauslösende Stromleitung wurde bei kleineren Renovie-rungsarbeiten im Sommer 2015 beschädigt. Seitdem handelte es sich lediglich um eine Frage der Zeit, bis ein Kurzschluss mit eventuellen Brandfolgen eintreten würde. Der Schaden an der Leitung war für V, K oder S nicht erkennbar. Lediglich dem M, der über eine Elektrikerausbildung verfügt, oder

* Der vorliegende Fall wurde in leicht abgewandelter Form im Rahmen der Übung im Zivilrecht für Fortgeschrittene im FSS 2019 an der Universität Mannheim als Klausur gestellt. Für die Bearbeitung standen drei Stunden zur Verfügung. Durchschnittlich wurden 5,96 Punkte erreicht, die Durchfall-quote betrug etwa 23 %. ** Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerli-ches Recht, Privatversicherungsrecht, Wirtschaftsrecht und Rechtsvergleichung von Prof. Dr. Oliver Brand, LL.M. (Cam- bridge) an der Universität Mannheim.

einem anderen Fachmann hätte der oberflächliche aber brandgefährliche Leitungsschaden auffallen können. M be-merkte jedoch aus leichter Unachtsamkeit nichts.

Durch den Brand wird das Ladenlokal erheblich beschä-digt, sodass Renovierungsarbeiten zwingend notwendig sind. Weiterhin verbrennt brandneues Bäckerei-Inventar des M, das für den Originalkaufpreis von 10.000 € unproblematisch wiederbeschafft werden kann, vollständig. An der Wohnung, die zur Brandzeit S bewohnt, entstehen keine Sachschäden. Allerdings wird aus dem Schlafzimmer des Appartements während des allgemeinen Chaos im Rahmen der notwendigen Löscharbeiten der Feuerwehr das iPhone des S entwendet, das ursprünglich 4.500 € gekostet hat und eine Sonderanferti-gung ist. Das Gerät, das mit Blattgold überzogen und mit der Originalunterschrift des mittlerweile verstorbenen Künstlers Avicii versehen ist, kann am Markt nicht wiederbeschafft werden. Zum Diebstahlszeitpunkt wies es einen Marktwert von 2.500 € auf. Wer für den Diebstahl verantwortlich ist, lässt sich nicht ermitteln. Der Feuerwehr, welche die Woh-nungstür öffnete, um eventuell nötige Evakuierungen vorzu-nehmen, ist jedoch kein Sorgfaltsverstoß im Hinblick auf die Öffnung oder Überwachung des Eingangs vorzuwerfen.

Vor diesem Hintergrund verlangt M von K Schadens- ersatz i.H.v. 10.000 € für sein Inventar. S möchte den Scha-den ersetzt bekommen, der ihm durch die Entwendung des iPhones entstanden ist. K wiederum will die geltend gemach-ten Forderungen nicht erfüllen. Er erwidert den Vorträgen von M und S, er sei für den Brand nicht verantwortlich. Wei-terhin habe M (was zutrifft) den Schaden an seinem Inventar bereits durch eine Versicherung ersetzt bekommen. Den Schaden des S habe er ohnehin nicht zu ersetzen, mit S habe er schließlich nicht einmal einen Mietvertrag geschlossen. Fallfragen 1. Kann M von K Schadensersatz für sein zerstörtes Inventar verlangen?

2. Kann S von M und/oder K Schadensersatz wegen der Entwendung seines iPhones verlangen?

Zusatzfrage (mit der Bitte um eine kurze Antwort) Würde sich an den Ansprüchen des S aus Fallfrage 2 etwas ändern, wenn das Haus nicht in Mannheim, sondern in Karls-ruhe und damit in einem Gebiet, das nach einer ordnungs- gemäß erlassenen Rechtsverordnung der Landesregierung als Gebiet mit besonders angespanntem Wohnungsmarkt bestimmt wurde, liegen würde und wenn die zwischen V und M ver-einbarte Wohnungsmiete die ortsübliche Vergleichsmiete und die Miete des Vormieters um 15 % übersteigt? Bearbeitungsvermerk Ansprüche von K gegen M sind nicht zu prüfen. Bitte gehen Sie im Übrigen auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Rechtsfragen gutachterlich ein. § 86 VVG hat dabei außer Betracht zu bleiben.

ÜBUNGSFÄLLE Oliver Becker

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Lösungsvorschlag zu Fallfrage 1 I. Anspruch M gegen K auf Zahlung von 10.000 € aus §§ 536a Abs. 1 Var. 1, 536, 566 Abs. 1 BGB 1. Wirksamer Mietvertrag zwischen M und K, § 535 BGB Der ursprünglich am 1.1.2016 zwischen M und V über das Ladenlokal geschlossene Mietvertrag ist gem. § 566 Abs. 1 BGB1, der nach § 578 Abs. 2, Abs. 1 BGB auch bei der Ver-mietung von Gewerberäumen gilt, auf K übergegangen, so-dass zwischen M und K ein wirksamer Mietvertrag besteht. 2. Sachmangel bei Vertragsschluss a) Erheblicher Sachmangel im Sinne des § 536 BGB Nach allgemeiner Ansicht gilt auch im Mietrecht der subjek-tive Mangelbegriff.2 Ein Sachmangel liegt folglich vor, wenn die tatsächliche Beschaffenheit der Mietsache von der ver-traglich geschuldeten Beschaffenheit abweicht. Die Soll-Beschaffenheit bestimmt sich dabei primär anhand der Partei- vereinbarung. Fehlt es – wie hier – an einer solchen Verein-barung, erfordert ein Mangel die Aufhebung oder Minderung der Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch. Nach der Rechtsprechung kann auch die konkrete Gefahr der Beein-trächtigung der Tauglichkeit oder der Rechtsgüter des Mie-ters einen Mangel begründen.3 Vorliegend hatte die Beschä-digung des Kabels selbst zwar keinerlei Auswirkungen auf die vertragsgemäße Nutzungsmöglichkeit der Bäckerei, es lagen bspw. keine Stromausfälle oder Ähnliches vor. Aller-dings konnte die defekte Stromleitung, obwohl sie außerhalb des Ladenlokals lag, jederzeit einen Kurzschluss und dadurch einen Brand verursachen, der zu Schäden an der Mietsache selbst oder an Rechtsgütern des Mieters führen konnte. Dem-nach lag eine konkrete Gefahr für die Tauglichkeit der Miet-sache zum vertragsgemäßen Gebrauch vor, sodass auch ein Mangel im Sinne des § 536 BGB gegeben ist. Weiterhin wurde durch den infolge des Kabeldefekts entstanden Brand und die dadurch notwendig gewordenen Löscharbeiten das Ladenlokal erheblich beschädigt, sodass Renovierungen zwin-gend notwendig geworden sind. Auch diese erheblichen Be-schädigungen beeinträchtigen die Tauglichkeit des Laden- lokals zur vertragsgemäßen Nutzung als Bäckerei und stellen folglich einen Mangel dar.

Zudem dürfte kein nur unerheblicher Mangel, also eine nur unerhebliche Minderung der Tauglichkeit zur vertrags-gemäßen Nutzung, vorliegen, vgl. § 536 Abs. 1 S. 3 BGB. Vorliegend führen die erheblichen Beschädigungen am Laden-lokal dazu, dass Renovierungen zwingend notwendig sind. Ohne diese kann die Bäckerei nicht oder zumindest nicht in angemessenem Ambiente weiterbetrieben werden. Man könnte folglich sogar von einer vollständigen Aufhebung der Taug-lichkeit der Mietsache zum vertragsgemäßen Gebrauch spre-chen. Gleiches gilt für die Beschädigung des Kabels als Grundmangel: Muss mit einem jederzeitigen Kurzschluss und 1 Vgl. zu § 566 BGB Looschelders, Schuldrecht, Besonderer Teil, 13. Aufl. 2018, Rn. 487–494. 2 Vgl. Looschelders (Fn. 1), Rn. 410 m.w.N. 3 BGH NJW 1972, 944 (945); BGH NJW 2011, 514 (515 Rn. 13); BGH ZMR 2008, 274 (274).

einem daran anschließenden Brand gerechnet werden, so können die Mieträume nicht adäquat bzw. gar nicht zum Betrieb eines Ladenlokals genutzt werden. b) Vorhandensein des Sachmangels bei Vertragsschluss Weiterhin müsste die Mietsache für die Anwendbarkeit des verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruchs gem. § 536a Abs. 1 Var. 1 BGB bereits bei Vertragsschluss einen Sachmangel aufgewiesen haben. Entsteht der Sachmangel erst später, so haftet der Vermieter nur auf Schadensersatz, wenn der Mangel wegen eines Umstands eingetreten ist, den er zu vertreten hat (§ 536 Abs. 1 Var. 2 BGB) oder wenn er sich in Bezug auf die Mangelbeseitigung in Verzug befindet (§ 536 Abs. 1 Var. 3 BGB).

In Bezug auf das defekte Kabel ist das Vorliegen eines anfänglichen Mangels ohne weiteres zu bejahen. Der Kabel-defekt lag seit Sommer 2015, folglich bereits bei Vertrags-schluss am 20.12.2015 vor. In Bezug auf die Brandfolgen als Mangel, die erst am 6.3.2019 eintraten, könnten sich jedoch Bedenken ergeben. Nach der Rechtsprechung genügt es je-doch für das Vorliegen eines anfänglichen Mangels, wenn bei Vertragsschluss die Ursache für eine spätere Schädigung des Mieters gesetzt war.4 Dieser Rechtsprechung ist zuzustim-men. Andernfalls hinge die Garantiehaftung des Vermieters von dem zufälligen Zeitpunkt ab, indem sich ein Schaden manifestiert. Mithin liegt auch in Bezug auf die Brandfolgen ein anfänglicher Sachmangel der Mietsache vor. 3. Kein Ausschluss der Gewährleistung Die Gewährleistung dürfte nicht durch Gesetz oder vertragli-che Vereinbarung ausgeschlossen sein. a) Gesetzlicher Gewährleistungsausschluss aa) § 536b BGB M hatte weder gem. § 536 S. 1 BGB positive Kenntnis, noch gem. § 536 S. 2 BGB grob fahrlässige Unkenntnis vom De-fekt des Stromkabels. Er hatte den Defekt nur aus leichter Unachtsamkeit übersehen. Der Anspruch ist folglich nicht gem. § 536b BGB ausgeschlossen. bb) § 536c Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BGB Allerdings könnte § 536c Abs. 2 S. 2 Nr. 2 i.V.m Abs. 1 S. 1 BGB zu einem Ausschluss des Schadenersatzanspruchs des M führen. Nach dieser Norm ist ein Anspruch des Mieters nach § 536a BGB ausgeschlossen, wenn er einen sich wäh-rend der Mietzeit zeigenden Mangel entgegen § 536c Abs. 1 S. 1 BGB nicht angezeigt hat und der Vermieter infolge der Nichtanzeige keine Abhilfe schaffen konnte.

Hierzu müsste sich zunächst ein Mangel der Mietsache im Laufe der Mietzeit gezeigt haben. Gezeigt hat sich ein Man-gel jedenfalls, wenn der Mieter ihn erkannt hat. Darüber hi- naus genügt es nach Rechtsprechung und Literatur auch, wenn der Mieter die anzeigerelevanten tatsächlichen Um-stände infolge grober Fahrlässigkeit nicht zur Kenntnis ge- 4 OLG München ZMR 1996, 322 (322); OLG München NJW-RR 1990, 1099 (1099).

Fortgeschrittenenklausur: Brand im Mietshaus ZIVILRECHT

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nommen hat.5 So sollen Fälle erfasst werden, in denen sich ein Mangel dem Mieter praktisch aufdrängen muss. Das Nichterkennen des Mangels infolge einfacher Fahrlässigkeit genügt nicht. Vorliegend hat M den Mangel nicht erkannt. Bezüglich des Nichterkennens ist ihm nur leichte Fahrlässig-keit zur Last zu legen. Mithin liegen die Voraussetzungen des Gewährleistungsausschlusses aus § 536c Abs. 2 S. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 1 S. 1 BGB nicht vor. cc) Zwischenergebnis Gesetzliche Ausschlussgründe liegen nicht vor. b) Vertraglicher Gewährleistungsausschluss Die Gewährleistung ist vorliegend auch nicht aufgrund ver-traglicher Vereinbarung ausgeschlossen. Die Vertragsabrede zwischen M und V, dass der Vermieter für Mängel an der Mietsache nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit auf Schadensersatz haftet, ist nur Teil des Wohnmietvertrages und bezieht sich damit nicht auf den Mietvertrag über das Ladenlokal. Ein vertraglicher Gewährleistungsausschluss liegt demnach nicht vor, ohne dass es darauf ankommt, ob die angesprochene Vertragsklausel wirksam vereinbart wurde. 4. Rechtsfolge: Schadensersatz Somit besteht dem Grunde nach ein Anspruch auf Schadens-ersatz des M gegen K aus §§ 536a Abs. 1 Var. 1, 536, 566 Abs. 1 BGB. Fraglich ist jedoch, ob auch ein ersatzfähiger Schaden entstanden und wie und in welchem Umfang dieser zu ersetzen ist. a) Schaden sowie Art und Umfang des Ersatzes Nach allgemeiner Meinung ist der Begriff des Schadensersat-zes im Rahmen des § 536a BGB weit und im Sinne der §§ 249 ff. BGB zu verstehen.6 Zu ersetzen sind demnach nicht nur der eigentliche Nichterfüllungsschaden, darunter der entgangene Gewinn (§§ 249 Abs. 1, 252 BGB), sondern auch Mangelfolgeschäden und sonstige Begleitschäden, folg-lich insbesondere Schäden am Körper und an Gegenständen des Mieters, die infolge des Mangels aufgetreten sind.7

5 BGH NJW 1977, 1236 (1237 Rn. 3); OLG Düsseldorf ZMR 2008, 952 (953); Wiederhold, in: Beck’scher Online-Kom- mentar zum BGB, 50. Ed., Stand: 1.5.2019, § 536c Rn. 7. 6 Insbesondere früher wurde teilweise angenommen, die Er- satzpflicht im Rahmen des § 536a Abs. 1 Var. 1 BGB sei auf den eigentlichen Erfüllungsschaden beschränkt und Mangel-folgeschäden seien folglich nicht erfasst. Begründet wurde dies damit, dass eine verschuldensunabhängige Garantiehaf-tung, wie sie die Norm statuiert, in Bezug auf Mangelfolge-schäden eine für den Vermieter zu starke Belastung bedeuten würde, vgl. zu § 538 BGB a.F. beispielsweise Todt, BB 1971, 680 (681); Weimar, MDR 1960, 555 (556). Dieser Minder-heitsmeinung ist insbesondere im Hinblick auf den Wortlaut des § 536a BGB, der allgemein von Schadensersatz spricht, nicht zu folgen. 7 Weidenkaff, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 78. Aufl. 2019, § 536a Rn. 14; Wiederhold (Fn. 5), § 536a Rn. 25; zu

Ob ein ersatzfähiger (Vermögens-)Schaden vorliegt, ist anhand der Differenzhypothese8 zu bestimmen. Durch den Vergleich der Vermögenslage des M nach dem schädigenden Ereignis mit seiner hypothetischen Vermögenslage zum glei-chen Zeitpunkt jedoch ohne das schädigende Ereignis ergibt sich im vorliegenden Fall eine Vermögenseinbuße des M. Diese in der Zerstörung seines Inventars liegende Einbuße basiert zurechenbar auf dem Mangel der Mietsache.

Der entstandene Schaden ist nach den Grundsätzen der Naturalrestitution und der Totalreparation grundsätzlich in Natur und in Gänze zu ersetzen, vgl. § 249 Abs. 1 BGB.9 Dies umfasst nach h.M. im Falle der Zerstörung einer vertret-baren Sache (§ 91 BGB) auch den Anspruch auf Beschaffung einer Ersatzsache durch den Schädiger.10 Bei dem vorliegend zerstörten Inventar handelt es sich um bewegliche Sachen, die sich jedenfalls aufgrund ihres ungebrauchten Zustands von anderen gleichartigen Sachen nicht durch individuelle Merkmale unterscheiden lassen und die daher mit anderen gleichartigen Sachen austauschbar sind. Folglich liegt die Zerstörung einer vertretbaren Sache vor. M kann mithin grundsätzlich Ersatzbeschaffung des Inventars im Rahmen des § 249 Abs. 1 BGB oder – ausnahmsweise, da ein Sach-schaden vorliegt – auch nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB Zahlung des für die Wiederherstellung (Ersatzbeschaffung) erforderli-chen Geldbetrags verlangen.

Problematisch erscheint allerdings, dass M den Schaden an seinem Inventar bereits durch seine Versicherung ersetzt bekommen hat. Bezieht man diesen Ersatz in die Betrachtung mit ein, so muss man feststellen, dass dem M kein Schaden entstanden ist oder dass jedenfalls das Bereicherungsverbot11 einen Schadensersatzanspruch ausschließen könnte. Die h.M. erkennt jedoch vollkommen zu Recht an, dass es wertungs-mäßig nicht überzeugend ist, dem Geschädigten sämtliche mit dem schädigenden Ereignis verbundene Vorteile auf sei- nen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger anzurech-nen. Es dürfen vielmehr nur solche Vorteile berücksichtigt werden, deren Anrechnung dem Zweck der Schadensersatz-pflicht entspricht. Der Vorteil, den der Schädiger infolge der Schädigung erlangt hat, muss also bei der Bestimmung (des Umfangs) der Ersatzpflicht außer Betracht bleiben, wenn sich

dem § 536a BGB entsprechenden § 538 BGB a.F. RGZ 81, 200 (203); BGH NJW 1971, 424 (424); BGH NJW 1972, 944 (945); Peters, NJW 1978, 665 (670 f.). 8 Vgl. Looschelders, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 16. Aufl. 2018, S. 352. 9 Dazu Brand, Schadensersatzrecht, 2. Aufl. 2015, § 2 Rn. 38 und 32. 10 Vgl. Magnus, in: AnwaltKommentar zum BGB, 2005, § 249 Rn. 31; Grüneberg, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 78. Aufl. 2019, § 249 Rn. 15; Ebert, in: Erman, Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2017, § 249 Rn. 17; Schiemann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2017, § 249 Rn. 184: analoge Anwendung; Harke, Allgemeines Schuldrecht, 2010, Rn. 297; Medicus/Lorenz, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 21. Aufl. 2015, Rn. 707; Picker, Die Naturalrestitution durch den Geschädigten, 2003, S. 186 ff. 11 Vgl. dazu Brand (Fn. 9), § 2 Rn. 37.

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den Wertungen der Rechtsordnung entnehmen lässt, dass der Schädiger durch den Vorteil nicht begünstigt werden soll. Bei Versicherungsleistungen, die infolge eines Schadens erbracht werden, ist zu fragen, ob die Versicherung den Schädiger ent- lasten sollte.12 Dies ist bei Versicherungen, die der Geschä-digte selbst abgeschlossen hat, zu verneinen. Der Geschädigte hat die Versicherungsprämien nicht entrichtet, weil er einen möglichen Schädiger von einer Ersatzpflicht befreien wollte. Vielmehr sollte die Versicherung lediglich Sicherheit für die Fälle bieten, in denen kein Schädiger haften muss, ein solcher nicht zu ermitteln oder nicht solvent ist. Mithin ist dem M der Vorteil des Ersatzes durch seine Versicherung nicht als Vorteil anzurechnen. Die Versicherungsleistung bleibt bei der Bestimmung des Schadens außer Betracht.

Folglich kann M entweder die Beschaffung von gleich-wertigem Inventar nach § 249 Abs. 1 BGB oder die Zahlung des Wiederbeschaffungswertes von 10.000 € nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB verlangen. b) Mitverschulden Der Anspruch des M auf Schadensersatz könnte jedoch gem. § 254 Abs. 1 BGB aufgrund eines Mitverschuldens gekürzt werden.13 Die Norm versteht unter dem Begriff des Mit- verschuldens nicht die Verletzung einer Rechtspflicht, die ei- ner dritten Person gegenüber besteht, sondern das Außeracht- lassen derjenigen Sorgfalt, die ein ordentlicher und verstän-diger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwen-den pflegt.14 Ein Mitverschulden des M an der Schadens- entstehung könnte vorliegen, da M aus leichter Unachtsam-keit den Kabelschaden und damit den Grundmangel und den Auslöser für das den Schaden anrichtende Feuer übersehen hat. Für das Vorliegen eines Mitverschuldens des M spricht, dass M den Mangel an dem Kabel hätte erkennen und den Brand durch Anzeige des Mangels höchstwahrscheinlich hät- te verhindern können, dies jedoch aus leichter Unachtsamkeit nicht tat und somit seine eigenen Rechtsgüter gefährdete. Da- gegen spricht allerdings, dass den Mieter gerade keine Prüf-pflicht in Bezug auf das Gebäude trifft15 und dass die Kür-zung seines Schadensersatzanspruchs aus § 536a Abs. 1 Var. 1 BGB nach § 254 Abs. 1 BGB bei einem leicht fahrlässigen Nichterkennen oder einer leicht fahrlässigen Nichtanzeige eines Mangels die Wertungen des § 536c BGB, der lediglich bei grob fahrlässiger und vorsätzlicher Mängelnichtanzeige 12 Oetker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 258. 13 § 254 BGB ist, wie die übrigen Vorschriften der §§ 249 ff. BGB, auf den Schadensersatzanspruch nach § 536a Abs. 1 Var. 1 BGB anwendbar, vgl. BGH VersR 2006, 286 (286); BGHZ 68, 281 (287); Teichmann, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 17. Aufl. 2018, § 536a Rn. 9; Häublein, in: Mün-chener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 536a Rn. 19; Lorenz, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, 50. Ed., Stand: 1.5.2019, § 254 Rn. 4. 14 Lorenz (Fn. 13), § 254 Rn. 9; BGHZ 74, 25 (28); BGH NJW 1998, 1137 (1137); BGH NJW 2001, 149 (150). 15 BGH NJW 1977, 1236 (1237); BGH NZM 2006, 626 (627); Häublein (Fn. 13), § 536c Rn. 7.

negative Konsequenzen für den Mieter vorsieht, torpediert. Aus diesem Grund liegt kein Mitverschulden des M vor, das zu einer Kürzung seines Schadensersatzanspruchs führen wür-de. 5. Ergebnis M hat gegen K einen Anspruch auf Schadensersatz für sein Inventar in Höhe von 10.000 € gem. §§ 536a Abs. 1 Var. 1, 536 Abs. 1, 566 Abs. 1 BGB. II. Anspruch M gegen K auf Zahlung von 10.000 € aus § 823 Abs. 1 BGB 1. Rechtsgutsverletzung Eine Rechtsgutsverletzung des M liegt in der Zerstörung seines Eigentums und seines berechtigten Besitzes (sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB) an seinem Inventar.16 2. Verletzungshandlung Eine Verletzungshandlung des K könnte in einem aktiven Tun oder einem Unterlassen liegen. Dadurch, dass K den De- fekt an der Stromleitung nicht behoben hat, liegt seinerseits ein Unterlassen vor. Dieses Unterlassen ist nur dann dem positiven Tun gleichzustellen und stellt folglich nur dann eine deliktische Handlung dar, wenn für K eine Handlungspflicht bezüglich der Reparatur der Leitung bestand. Bei der Herr-schaft über einen räumlichen Bereich oder gefährliche Sa-chen treffen den Verantwortlichen als Handlungspflichten sog. Verkehrssicherungspflichten. Inhalt dieser Pflichten ist es, den eigenen räumlichen Bereich im Rahmen des Notwen-digen und Zumutbaren so auszugestalten, dass jedenfalls berechtigt mit diesem in Kontakt Kommende17 vor Schäden geschützt werden. Dementsprechend trifft den Eigentümer eines Gebäudes – hier K – als Ausübenden der Bestimmungs-gewalt und als denjenigen, der die Möglichkeit hat, Vorteile aus der Gebäudenutzung zu ziehen,18 die Pflicht alle Maß-nahmen zu ergreifen, „die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig hält, um andere vor Schäden zu bewahren“19. Diese Pflicht umfasst grundsätzlich auch die Überprüfung der Mietsache daraufhin, ob sie in ordnungsgemäßem Zustand ist.20 Sie geht jedoch nicht soweit, dass der Eigentümer das Gebäude regel- mäßig und anlasslos auf Schäden, auch an Stromleitungen untersuchen lassen muss. Eine solche Pflicht würde in Rela-tion zu den damit regelmäßig verbundenen Erkenntnissen un- verhältnismäßige Kosten mit sich bringen, die letztendlich

16 Die auch vorliegende Verletzung seines berechtigten Besit-zes am Ladenlokal spielt vorliegend keine Rolle, da M keinen Schadensposten ersetzt verlangt, der auf dieser Rechtsguts-verletzung beruht. 17 Vgl. hierzu Looschelders (Fn. 1), Rn. 1183. 18 Vgl. zu diesen Kriterien für die Sachzuständigkeit in Bezug auf Verkehrspflichten Hager, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2009, § 823 Rn. E 16. 19 BGH NJW-RR 2003, 1459 (1460). 20 Emmerich, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2018, § 535 Rn. 28 und 32 m.w.N.

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auch die Mieten und Nebenkosten erheblich erhöhen würden. Der Eigentümer hat die Mietsache vielmehr nur dann einer umfassenden Prüfung im Hinblick auf eine Gefahrenquelle zu unterziehen, wenn ihm Mängel angezeigt werden, er solche selbst erkennt oder sonstige Unregelmäßigkeiten darauf hin-deuten, dass Mängel vorliegen oder drohen.21 Da im vorlie-genden Fall keine Anhaltspunkte für einen Mangel erkennbar waren, war K demnach nicht verpflichtet, die Stromleitungen auf Schäden zu überprüfen. Folglich besteht insoweit keine Verkehrssicherungspflicht, die K verletzt haben könnte.

Mithin liegt keine Verletzungshandlung des K vor.

Hinweis: A.A., insbesondere da die Stromleitung bereits seit mehreren Jahren beschädigt war, gut vertretbar.

3. Ergebnis Ein Anspruch des M gegen K aus § 823 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz für die Zerstörung seines Inventars scheidet folglich aus. Lösungsvorschlag zu Fallfrage 2 I. Ansprüche S gegen M 1. Anspruch S gegen M auf Zahlung von 2.500 € aus § 600 BGB a) Leihvertrag zwischen S und M Zwischen S und M müsste ein Leihvertrag im Sinne des § 598 BGB bestehen.

Damit ein solcher vorliegt, müssten die Parteien zwei kor-respondierende kongruente Willenserklärungen mit entspre-chendem Inhalt abgegeben haben. M überlies S den Gebrauch der Wohnung unentgeltlich, inhaltlich liegt folglich eine Leihabrede vor. Fraglich ist jedoch, ob die Parteien auch mit Rechtsbindungswillen gehandelt haben, sodass ein Leihver-trag anzunehmen ist, oder ob es sich bei der Gebrauchsüber-lassung um eine reine Gefälligkeit im außerrechtlichen Be-reich handelt. Dabei kommt es nach h.M. auf den Willen der Äußernden an, wie er sich bei Würdigung aller Umstände nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte einem objektiven Beobachter darstellt.22 Der Wille, sich recht-lich zu binden, ist demnach anhand objektiver Kriterien auf-grund der Erklärungen und des Verhaltens der Parteien zu ermitteln. Entgeltlichkeit indiziert regelmäßig Rechtsbindungs- willen. Vorliegend ist diese jedoch gerade nicht gegeben, so- dass auf andere Kriterien zurückgegriffen werden muss.

Die Rechtsprechung zieht zur Bestimmung des Rechts-bindungswillens bei fehlender Entgeltlichkeit verschiedene Indizien heran. Von Relevanz sind dabei namentlich die Art der Gefälligkeit, Grund und Zweck der Gefälligkeit, ihre wirtschaftliche und rechtliche Bedeutung – insbesondere für 21 Vgl. BGH NJW 2009, 143 (144 Rn. 18 f.); BGH WuM 2011, 465 (465 Rn. 3); OLG Celle ZMR 2009, 683 (684 f.); Emmerich (Fn. 20), § 535 Rn. 32 m.w.N. 22 BGH NJW 2015, 2880 (2880 Rn. 8); Grüneberg (Fn. 10), Einl. § 241 Rn. 7; Bachmann, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 241 Rn. 165 und 167; Willoweit, JuS 1984, 909 (914).

den Empfänger –, die Umstände unter denen sie erwiesen wird und die dabei bestehende Interessenlage der Parteien.23 Gegen das Vorliegen eines Rechtsbindungswillen der Partei-en spricht im vorliegenden Fall die enge verwandtschaftliche Verbundenheit zwischen M und S. Es scheint naheliegend, dass die Zusage zur Überlassung der Wohnung in dieser Bin- dung – und damit im außerrechtlichen und rein persönlichen Bereich – ihren Grund findet. Entscheidend für das Vorliegen eines Rechtsbindungswillen bei beiden Parteien spricht je-doch das erkennbare erhebliche Interesse des S an der Über-lassung des Gebrauchs der Wohnung. Hätte M seine Zusage nicht eingehalten, wären S und sein 2-jähriges Kind obdach-los gewesen. Weiterhin hat M Dispositionen getroffen und sich für sechs Monate – die Dauer der vereinbarten Überlas-sung – eine Ersatzbleibe angemietet. Auch dies spricht aus der Sicht des objektiven Betrachters und auch des S erheblich dafür, dass S darauf vertrauen durfte, die Wohnung tatsäch-lich für diese sechs Monate zur Verfügung zu haben. Mithin ist im Ergebnis anzunehmen, dass sowohl M als auch S mit Rechtsbindungswillen handelten, sodass eine vertragliche Einigung der Parteien gegeben ist. Es liegt folglich ein Leih-vertrag im Sinne des § 598 BGB zwischen M und S vor. b) Arglistiges Verschweigen eines Mangels Weiterhin müsste der Verleiher M dem S das Bestehen eines Mangels bei Vertragsschluss24 arglistig verschwiegen haben. Vorliegend ist zwar bei Vertragsschluss ein Mangel gegeben, M hat diesen dem S jedoch nicht arglistig verschwiegen. Arglist setzt mindestens bedingten Täuschungsvorsatz vo-raus,25 M hätte folglich zumindest ernsthaft damit rechnen müssen, dass ein Kabelschaden vorliegt oder allgemein, dass die Wohnung mangelhaft ist. Dies ist nicht der Fall. Folglich liegen die Voraussetzungen des § 600 BGB nicht vor.

Weiterhin würde die Norm des § 600 BGB auch bei Vor-liegen der Tatbestandsvoraussetzungen keine Pflicht des M zum Ersatz des Schadens des S, der durch die Entwendung des iPhones entstanden ist, bedeuten. Die Norm verpflichtet den Verleiher lediglich, dem Entleiher seinen unmittelbaren Mangelschaden zu ersetzen. Mangelfolgeschäden sind nicht erfasst.26 c) Ergebnis S hat gegen M keinen Anspruch auf Zahlung von 2.500 € aus § 600 BGB.

23 BGH NJW 1956, 1313 ff.; Bachmann (Fn. 22), § 241 Rn. 168 ff. 24 Häublein (Fn. 13), § 600 Rn. 2. 25 Zur Leihe Häublein (Fn. 13), § 600 Rn. 2; zum Kauf bei-spielsweise BGH NJW 2001, 2326 ff.; zur Miete vgl. Kandel- hard, in: Herrlein/Kandelhard, Mietrecht, Praxis-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 536d Rn. 2. 26 Häublein (Fn. 13), § 600 Rn. 3; Mansel, in: Jauernig, Kom- mentar zum BGB, 17. Aufl. 2018, § 600 Rn. 1.

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2. Anspruch S gegen M auf Zahlung von 2.500 € aus § 280 Abs. 1 BGB a) Schuldverhältnis Vorliegend besteht zwischen S und M ein Leihvertrag im Sinne des § 598 BGB. Dieser ist ein Schuldverhältnis nach § 280 Abs. 1 BGB.

Hinweis: Wird oben das Vorliegen eines Vertrages ab- gelehnt, so muss gefragt werden, ob ein Gefälligkeits- verhältnis mit rechtsgeschäftlichem Einschlag, das zwar keine Leistungs-, aber Rücksichtnahmepflichten im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB begründet, vorliegt. Soweit man ein solches anerkennt, richtet sich die Abgrenzung zwi-schen einem solchen und einer reinen Gefälligkeit im Wesentlichen nach den oben genannten Kriterien zur ob-jektiv nach außen erkennbaren Relevanz der Abrede für die Parteien. Die Rechtsprechung stellt wiederum insbe-sondere auf den nach außen erkennbaren Rechtsbindungs- willen der Parteien ab: Zu fragen ist, ob S und M sich (zwar nicht zu primären Vertragsleistungen aber) zu be-sonderer Rücksichtnahme auf die Güter des jeweils ande-ren verpflichten wollten. Lehnt man oben das Vorliegen eines Vertrages ab, so ist fast schon zwangsläufig auch dies zu verneinen und dementsprechend von dem Vorlie-gen eines reinen Gefälligkeitsverhältnisses auszugehen. In diesem Fall bestünde kein Schuldverhältnis im Sinne des § 280 Abs. 1 BGB zwischen den Parteien, sodass ein ent-sprechender Schadensersatzanspruch ausscheiden würde.

b) Pflichtverletzung Weiterhin müsste eine Pflichtverletzung des M vorliegen. Eine solche könnte zum ersten in der Mangelhaftigkeit der Leihsache und zum zweiten in der fehlenden Mangelerken-nung und der dadurch fehlenden Mangelmitteilung an K und S sowie der damit verbundenen Nichtbehebung des Mangels liegen.

Was die Mangelhaftigkeit der Leihsache betrifft, so ließe sich vertreten, dass ein Mangel einer Leihsache gar keine Pflichtverletzung im Sinne des § 280 BGB begründen könne, da § 600 BGB die Haftung bei Mängeln der Leihsache ab-schließend regele und demnach eine Pflichtverletzung nie-mals im Vorliegen eines Mangels, sondern lediglich im arg-listigen Verschweigen eines Mangels liegen könne.27 Dies ist im Ergebnis jedoch nicht zutreffend: § 600 BGB ist in Bezug auf die Mangelhaftung des Verleihers nur insoweit lex spe-cialis, wie die Norm reicht. Für Mängelschäden haftet der Verleiher folglich nicht nach § 280 BGB. Da § 600 BGB – wie gesehen – jedoch keine Mangelfolgeschäden erfasst, können diese im Rahmen des § 280 BGB ersetzt werden.28 Demzufolge kann die Mangelhaftigkeit einer Leihsache eine Pflichtverletzung des Verleihers begründen. Dies gilt jedoch nur für anfängliche Mängel, da der Verleiher grundsätzlich nicht dazu verpflichtet ist, die Leihsache in ihrem Zustand zu

27 Vgl. Gerhardt, JuS 1979, 597 (600). 28 So auch Häublein (Fn. 13), § 599 Rn. 5.

erhalten,29 sodass ein nachträglicher Mangel nie eine Pflicht-verletzung darstellen kann. Ein solcher anfänglicher Mangel ist vorliegend gegeben, vgl. die Ausführungen oben. Folglich liegt in Bezug auf die Mangelhaftigkeit der Wohnung eine Pflichtverletzung des M vor.

Was die fehlende Mangelerkennung und die dadurch feh-lende Mangelmitteilung an K und S sowie die damit verbun-dene Nichtbehebung des Mangels angeht, so liegt keine Pflichtverletzung des M vor. Zwar treffen den Verleiher ver- tragliche Schutzpflichten aus § 241 Abs. 2 BGB, die ihn dazu anhalten, Mängel und davon ausgehende Gefahren dem Ent-leiher und ggf. dem für die Leihsache Sachzuständigen mit-zuteilen. Diese reichen jedoch nur soweit, wie er Mängel er- kannt hat oder erkennen musste. Eine umfassende Prüfpflicht der Verleihsache auf Mängel gehört nicht zum Pflichtenkreis des Verleihers. Das ergibt sich bereits daraus, dass den un-entgeltlich Überlassenden keine weitergehenden Pflichten als den Vermieter – der bereits nicht zu einer umfassenden Un-tersuchung der Sache verpflichtet ist – treffen können, siehe oben. Vorliegend hat M das Vorliegen des Mangels nicht erkannt. Weiterhin musste er dies auch nicht erkennen. Folg-lich ist insoweit keine Pflichtverletzung des M anzunehmen. c) Vertretenmüssen Da durch die anfängliche Mangelhaftigkeit der Verleihsache eine Pflichtverletzung gegeben ist, ist zu fragen, ob M diese auch zu vertreten hat, wobei sein Vertretenmüssen vermutet wird, vgl. § 280 Abs. 1 S. 2 BGB.

Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertre-ten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt ist noch sich aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnis-ses ergibt, § 276 Abs. 1 S. 1 BGB. Hier könnte durch § 599 BGB eine mildere Haftung angeordnet sein. Nach dieser Norm hat der Verleiher lediglich Vorsatz und grobe Fahrläs-sigkeit zu vertreten. Fraglich ist jedoch, ob § 599 BGB im gegebenen Fall überhaupt anwendbar ist. Die Privilegierung greift jedenfalls in den Fällen, in denen das Erfüllungsinteres-se des Entleihers (also das an der vereinbarten Gebrauchs-überlassung) nicht oder nicht wie zugesagt befriedigt wird.30 Vorliegend ist jedoch nicht das Erfüllungsinteresse des S, sondern sein Integritätsinteresse (Schaden am iPhone) betrof-fen. Für diesen Fall ist die Geltung des § 599 BGB umstrit-ten. Eine Ansicht31 will stets § 599 BGB anwenden, eine an- dere32 verneint die Anwendbarkeit des § 599 BGB in diesem

29 Häublein (Fn. 13), § 598 Rn. 20. 30 Häublein (Fn. 13), § 599 Rn. 2. 31 Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 599 Rn. 2; v. Westphalen, in: Graf von Westphalen/ Thüsing, Kommentar zum Vertragsrecht und AGB-Klausel- werken, 42. Aufl. 2019, § 599 Rn. 1; wohl auch OLG Köln NJW-RR 1988, 157 (157). 32 AG Grevenbroich NJW-RR 1990, 795 (796); Grundmann, AcP 198 (1998), 457 (466 ff.); Mansel (Fn. 26), § 599 Rn. 2; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, 13. Aufl. 1986, § 50; Weidenkaff (Fn. 7), § 599 Rn. 2; Schlechtriem, Vertrags- ordnung und außervertragliche Haftung, 1972, S. 346 ff.; ders.,

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Fall ausnahmslos. Nach einer dritten, vermittelnden Meinung33 ist grundsätzlich § 599 BGB anzuwenden, es sei denn, die verletzte Pflicht steht in keinem Zusammenhang mit dem Vertragsgegenstand. Der Haftungsmaßstab des § 276 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB greift danach immer dann ein, wenn der Entleiher lediglich bei Gelegenheit der Vertragsanbahnung oder Vertragsdurchführung geschädigt wird.34 Dieser vermit-telnden Ansicht ist zuzustimmen: Die ausschließliche Anwen-dung des allgemeinen Maßstabes des § 276 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB setzt den Verleiher unangemessenen Risiken aus. Sie ist weder mit dem Wortlaut noch mit dem Zweck der Norm vereinbar, weil sie den Gefälligen der vollen Härte des Ver-tragsrechts aussetzt (Erfüllungsgehilfenhaftung, Beweislast- umkehr, Ersatz primärer Vermögensschäden). Andererseits ist die unentgeltliche Erbringung einer vertraglichen Leistung kein hinreichender Grund, den Verleiher nach Maßgabe des § 599 BGB von der allgemeinen Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter des anderen Teils gänzlich zu befreien. Mithin ist § 599 BGB anzuwenden, es sei denn die verletzte Pflicht steht in keinem Zusammenhang mit dem Vertrags- gegenstand.35 Vorliegend liegt die Pflichtverletzung des M in der Mangelhaftigkeit der Leihsache (Wohnung) und steht demzufolge in engem Zusammenhang mit dem Vertrags- gegenstand. § 599 BGB ist demnach anzuwenden, M hat nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Da dem M allenfalls leichte Unachtsamkeit, mithin einfache Fahrlässig-keit vorzuwerfen ist, hat er die Pflichtverletzung jedenfalls nicht zu vertreten, sodass die Vermutung des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB entkräftet werden kann. Die Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 BGB liegen folglich nicht vor.

d) Ergebnis S hat keinen Anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB gegen M auf Ersatz des Schadens, der ihm aus der Entwendung seines iPhones entstanden ist. 3. Anspruch S gegen M auf Zahlung von 2.500 € aus § 823 Abs. 1 BGB a) Rechtsgutsverletzung Das Eigentum und der berechtigte Besitz des S wurde durch eine Sachentziehung verletzt.

Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuld-rechts, Bd. 2, 1981, S. 1620 f. 33 OLG Stuttgart VersR 1993, 192 (193); Gerhardt, JuS 1970, 597 (600); Medicus, in: Festschrift für Walter Odersky zum 65. Geburtstag am 17. Juli 1996, 1996, S. 592 ff.; Heintz- mann, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2007, § 599 Rn. 3; Reuter, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2013, § 599 Rn. 2; Thiele, JZ 1967, 649 (654); zu § 521 BGB vgl. BGHZ 93, 23 (27 ff.). 34 Reuter (Fn. 33), § 599 Rn. 2. 35 Vgl. für eine Übersicht zu diesem Streitstand Häublein (Fn. 13), § 599 Rn. 3.

b) Verletzungshandlung Eine Verletzungshandlung des M könnte in einem aktiven Tun oder einem Unterlassen liegen. Dadurch, dass M den De- fekt an der Stromleitung nicht erkannt, nicht angezeigt und nicht behoben hat, liegt seinerseits ein Unterlassen vor. Die-ses Unterlassen ist dem positiven Tun nur dann gleichzustel-len, wenn für K eine Handlungs- bzw. Verkehrspflicht bezüg-lich der Reparatur der Leitung besteht. Im Ergebnis besteht eine solche vorliegend nicht. Insoweit kann auf die Ausfüh-rungen aus der Prüfung des § 823 Abs. 1 BGB M gegen K verwiesen werden. Für den Verleiher M können keine stren-geren Maßstäbe als für den Vermieter und Eigentümer des Hauses K gelten. Mithin liegt keine Verletzungshandlung des M vor. c) Ergebnis Ein Anspruch des S gegen M aus § 823 Abs. 1 BGB auf Scha-densersatz für den Verlust des iPhones scheidet folglich aus.

Hinweis: Wird ein Verstoß gegen eine Verkehrspflicht und damit das Vorliegen einer deliktischen Handlung be-jaht, so müssen die weiteren Prüfungspunkte im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB thematisiert werden. Im Rahmen des Vertretenmüssens stellt sich hier insbesondere die Frage, ob die Privilegierung des § 599 BGB auch für de-liktsrechtliche Ansprüche gilt. Hier ist alles vertretbar. Wird auch das Verschulden bejaht, so stellt sich die Frage nach dem Vorliegen eines kausalen Schadens. Insoweit ist die Kausalität besonders zu diskutieren: Basiert der Scha-den, der aus dem Diebstahl des iPhones entstanden ist, tatsächlich zurechenbar auf der Verkehrspflichtverletzung des M? Vgl. dazu die untenstehenden Ausführungen bei der Prüfung des vertraglichen Anspruchs des S gegen K.

II. Ansprüche S gegen K 1. Anspruch S gegen K auf Zahlung von 2.500 € aus §§ 536a Abs. 1 Var. 1, 536 Abs. 1, 566 Abs. 1 BGB i.V.m. den Grund- sätzen zum Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter a) Mietvertrag Zwischen S und K müsste ein Mietvertrag vorliegen.36 aa) Eigener Mietvertrag zwischen S und K S und K haben keinen Vertrag geschlossen, unmittelbar be-steht zwischen den beiden folglich kein Mietverhältnis. bb) Mietvertrag zwischen K und M mit Schutzwirkung zugunsten S Allerdings besteht zwischen K und M ein Mietvertrag über die Wohnung. Hier gilt das in Bezug auf das Ladenlokal Ge- sagte. In diesen Mietvertrag könnte S nach den Grundsätzen zum Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter (VSD) einbezogen worden sein.

36 Vgl. dazu, dass ein Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter das im Rahmen des § 536a BGB nötige Schuldver-hältnis begründen kann, Wiederhold (Fn. 5), § 536a Rn. 26.

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(1) Herleitung und Anwendbarkeit des VSD Die Herleitung des VSD ist umstritten. Vertreten wird inso-weit entweder eine Herleitung aus den Regelungen zum Ver-trag zugunsten Dritter durch eine Analogie zu § 328 BGB, eine Begründung im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung oder die Herleitung aus § 311 Abs. 3 S. 1 BGB. Der genaue Ursprung des VSD kann jedoch offenbleiben, da sowohl die Existenz der Rechtsfigur als auch deren Voraussetzungen allgemein anerkannt sind.37 (2) Voraussetzungen der Einbeziehung (a) Leistungsnähe Erste Voraussetzung ist eine hinreichende Leistungsnähe des Dritten. Dieser muss typischerweise mit der geschuldeten Leistung in Berührung kommen. Der Dritte muss sich (regel- mäßig) im Leistungsbereich aufhalten oder sonst in gleicher Weise den Gefahren der Leistung bzw. Schlechtleistungen ausgesetzt sein. Ein nur zufälliger Leistungskontakt genügt nicht.38 S befand sich seit dem 28.2.2019 – folglich auch zur Zeit des Eintritts des Schadens – regelmäßig in der von K an M vermieteten Wohnung und somit im Einwirkungsbereich des K. Er war den gleichen Risiken für seine Rechtsgüter in Bezug auf eine vertragliche Schlechtleistung des K in Gestalt eines Mangels der Mietsache ausgesetzt wie M. Mithin be-steht eine hinreichende Leistungsnähe. (b) Gläubigernähe Als zweite Voraussetzung muss eine besondere Nähebezie-hung des Einzubeziehenden zum Gläubiger bestehen, durch die die Einbeziehung in den Schutzbereich des fremden Schuldverhältnisses gerechtfertigt wird.39 Der Vertragsgläu-biger muss an der sorgfältigen Ausführung der Leistung nicht nur ein eigenes, sondern auch ein berechtigtes Interesse zu-gunsten des Dritten haben.40 Vom Kreis der Geschützten umfasst sind jedenfalls die Personen, denen gegenüber der Vertragsgläubiger eine besondere Fürsorgepflicht innehat. Dies ist der Fall, wenn er für deren „Wohl und Wehe“ mit-verantwortlich ist.41 Im vorliegenden Fall besteht eine umfas-sende Fürsorgepflicht des M als Elternteil gegenüber S. M hat somit für das „Wohl und Wehe“ des S einzustehen. Auf-grund der familiären Beziehung hat M ein berechtigtes Inte-resse daran, dass K seinen vertraglichen Pflichten auch ge-genüber S nachkommt. Eine hinreichende Gläubigernähe besteht folglich.

37 Vgl. BGH NJW 1977, 2073 (2074); im Ergebnis so auch Looschelders (Fn. 8), S. 67. 38 Vgl. BGHZ 133, 173; Janoschek, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, 50. Ed., Stand: 1.5.2019, § 328 Rn. 53; Looschelders (Fn. 8), S. 67. 39 BGH NJW 1957, 1916 (1916); BGH NJW 1996, 2927 (2928). 40 BGH NJW 1996, 2927 (2928); Leyens, JuS 2018, 217 (220). 41 BGHZ 51, 91 (96); BGH NJW 2001, 3115 (3116).

(c) Erkennbarkeit Als dritte Voraussetzung müssen Leistungs- sowie Gläubiger-nähe und somit der Kreis der geschützten Dritten für K auch erkennbar sein.42 Das (erweiterte) Haftungsrisiko muss über-schaubar, kalkulierbar und ggf. versicherbar (und damit letzt-endlich zumutbar) sein.43 Da M die Zustimmung zur Auf-nahme des S in die Wohnung einholte und K um die familiäre Verbundenheit der beiden wusste, sind sämtliche Umstände der Leistungs- und der Gläubigernähe für K ersichtlich. (d) Schutzbedürftigkeit Zuletzt muss ein Schutzbedürfnis zu Gunsten des Dritten be- stehen. Dies ist der Fall, wenn der Dritte keine eigenen gleich-wertigen – folglich direkten vertraglichen – Ansprüche hat, die sein Interesse voll oder nahezu abdecken.44 S hat keine eigenen vertraglichen Ansprüche, die sein Interesse abde-cken, vgl. oben. Mögliche deliktische Ansprüche gegen K oder Dritte sind nicht ausreichend.

Hinweis: Dies stellt eine Besonderheit des vorliegenden Falls dar. Bei einer Untervermietung hat der Untermieter gegen seinen Vermieter regelmäßig einen eigenen (miet-) vertraglichen Schadensersatzanspruch. Ist ein solcher ge-geben, ist er nicht schutzwürdig. Vorliegend hat S jedoch keinen Schadensersatzanspruch gegen M. Dies liegt ins-besondere daran, dass M die Wohnung nicht untervermie-tet, sondern nur unterverliehen hat und ihn somit nicht die mietvertragliche (sondern nur die weniger strenge leih- vertragliche) Haftung trifft.

(3) Zwischenergebnis Zwischen M und K besteht somit ein Mietvertrag gem. § 535 BGB, in dessen Schutzbereich S einbezogen ist, sodass das nach § 536a BGB notwendige Schuldverhältnis zwischen S und K besteht. b) Sachmangel bei Vertragsschluss Ein Sachmangel in Form der defekten Leitung lag bei Ver-tragsschluss vor, siehe oben. c) Kein Ausschluss der Gewährleistung Die Gewährleistung dürfte nicht durch Gesetz oder vertragli-che Vereinbarung ausgeschlossen sein. aa) Gesetzlicher Gewährleistungsausschluss Ein gesetzlicher Haftungsausschluss nach §§ 536b oder 536c Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 1 S. 1 BGB liegt nicht vor. T selbst kannte den Mangel bei Vertragsschluss nicht, weiterhin lag bei ihm auch keine grob fahrlässige Unkenntnis vor. Gleiches

42 BGHZ 49, 350 (354); Ernst, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 328 Rn. 190. 43 BGHZ 51, 91 (96); BGHZ 138, 257 (262); Westermann, in: Erman, Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2017, § 328 Rn. 15. 44 BGH NJW 2014, 2577 (2578); BGH NJW 1996, 2927 (2929).

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gilt für M (siehe oben), sodass S dessen Kenntnis oder dessen Kennenmüssen auch nicht zu seinem Nachteil zugerechnet werden kann.

Weiterhin haben weder S noch M gegen die Obliegenheit der Mangelanzeige aus § 536c Abs. 1 S. 1 BGB verstoßen, vgl. dazu oben. bb) Vertraglicher Gewährleistungsausschluss Die Gewährleistung könnte jedoch vertraglich ausgeschlos-sen worden sein. M und V haben im Rahmen des Wohn-raummietvertrags vereinbart, dass der Vermieter für Mängel an der Mietsache nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit auf Schadensersatz haftet. Dieser Ausschluss würde nicht nur zulasten des M, sondern – aufgrund der Abhängigkeit des Drittschutzes vom Hauptvertrag45 (vgl. die Wertung für den Vertrag zugunsten Dritter, § 334 BGB) – auch zulasten des S wirken. Vorliegend ist dem Vermieter K kein Vorwurf der groben Fahrlässigkeit oder des Vorsatzes zu machen. K haftet folglich nur, wenn die Abrede nicht wirksam getroffen wurde oder K sich jedenfalls nicht auf sie berufen kann. (1) Verstoß gegen zwingende mietrechtliche Vorschriften § 536d BGB führt jedenfalls nicht dazu, dass K sich nicht auf den Ausschluss berufen kann. K hat den Mangel nicht arglis-tig verschwiegen. Gleiches gilt für die § 536 Abs. 4 und § 569 Abs. 5 BGB. Beide Vorschriften betreffen lediglich Vereinbarungen, die in Bezug auf das Minderungs- und Kün-digungsrecht des Mieters zu seinen Lasten von den gesetzli-chen Regelungen abweichen. (2) Verstoß gegen das AGB-Recht Allerdings könnte die Abrede aus AGB-rechtlichen Gründen keine Wirkung entfalten. Insbesondere könnte die Haftungs-beschränkung gegen § 309 Nr. 7 lit. a BGB und gegen § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB verstoßen und deswegen unwirk-sam sein. (a) Anwendbarkeit des AGB-Rechts Vorliegend ist keine der in § 310 Abs. 4 BGB genannten Bereichsausnahmen einschlägig, das AGB-Recht ist anwend-bar. (b) Vorliegen von AGB Zunächst muss es sich bei dem Mietvertrag (bzw. bei § 11 des Mietvertrags) um AGB im Sinne des § 305 Abs. 1 BGB handeln. Dazu müsste die Abrede eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung sein, die vom Verwender bei Vertragsabschluss gestellt wurde.

Die Klausel sollte den Inhalt eines Vertrags regeln, es handelt sich daher um eine Vertragsbedingung. Zudem wurde die Klausel auch für eine mehrfache Verwendung und damit

45 Vgl. hierzu Janoschek (Fn. 38), § 328 Rn. 58; Gottwald, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 328 Rn. 197.

für eine Vielzahl46 von Verträgen vorformuliert. Dass die Vor-formulierung nicht durch den Verwender V, sondern durch den Vermieterschutzbund erfolgte, ist unschädlich.47 Weiter-hin hat V die Einbeziehung der Klausel in den Mietvertrag veranlasst und M konnte über ihren Inhalt nicht frei entschei-den, sodass die Klausel als von V einseitig gestellt48 anzuse-hen ist. Folglich handelt es sich bei § 11 des Mietvertrags um eine AGB-Klausel. (c) Einbeziehungskontrolle Diese AGB-Klausel müsste auch wirksam in den Vertrag ein- bezogen worden sein. Die Voraussetzungen dafür ergeben sich grundsätzlich aus § 305 Abs. 2 BGB. Werden AGB gegenüber Unternehmern verwendet, richtet sich die Einbe-ziehung nach den allgemeinen Regeln der §§ 145 ff. BGB, vgl. § 310 Abs. 1 Nr. 1 BGB. M kann als Existenzgründer zwar grundsätzlich als Unternehmer qualifiziert werden,49 allerdings handelt er bei der Anmietung einer Privatwohnung gerade nicht in Ausübung seiner gewerblichen oder selbstän-digen beruflichen Tätigkeit (vgl. § 14 BGB), sodass er jeden-falls für dieses Geschäft nicht als Unternehmen anzusehen ist.

Mithin müssten die Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB vorliegen. V sendete dem M den Mietvertrag, der § 11 enthält, zur Unterschrift zu. Darin lag zum einen ein ausrei-chender Hinweis auf die AGB (§ 305 Abs. 2 Nr. 1 BGB) und zum zweiten wurde dem M damit die Möglichkeit der zu-mutbaren Kenntnisnahme (§ 305 Abs. 2 Nr. 2 BGB) ver-schafft. Drittens erklärte M durch seine Zustimmung zum Abschluss des Mietvertrages sein Einverständnis mit den im Mietvertrag niedergelegten Bedingungen. Die Klausel des § 11 wurde folglich nach § 305 Abs. 2 BGB wirksam in den Vertrag einbezogen.

Weiterhin liegt keine nach § 305b BGB vorrangige Indi-vidualabrede vor. Zudem handelt es sich bei der Abrede we-der nach dem Erscheinungsbild des Vertrags noch nach dem Inhalt der Klausel um eine überraschende Klausel, die nach § 305c BGB von vorneherein nicht Vertragsbestandteil ge-worden wäre. In Bezug auf den Inhalt der Klausel folgt dies daraus, dass in Formularverträgen – auch und vor allem im Bereich der Wohnraummiete – oft versucht wird, die Haftung des Vermieters soweit wie möglich zu reduzieren. 46 Es genügt insoweit, dass der Verwender bzw. der Ersteller der Klausel die Absicht hat, dass die Klausel mindestens drei Mal verwendet wird, vgl. Becker, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, 50. Ed., Stand: 1.2.2019, § 305 Rn. 25; Schlosser, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2013, § 305 Rn. 20. 47 Vgl. hierzu Basedow, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 305 BGB Rn. 13. 48 Zum Kriterium des Stellens von AGB vgl. Becker (Fn. 46), § 305 Rn. 26. 49 Für die Unternehmereigenschaft eines Existenzgründers beispielsweise BGH NJW 2005, 1273 (1273); zur Diskussion um die Einordnung des Existenzgründers als Verbraucher oder als Unternehmer vgl. Micklitz, in: Münchener Kommen-tar zum BGB, 8. Aufl. 2018, § 13 Rn. 62–70.

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(d) Inhaltskontrolle (aa) Eröffnung der Inhaltskontrolle Die Inhaltskontrolle müsste gemäß § 307 Abs. 3 BGB eröff-net sein. Danach unterfallen der AGB-rechtlichen Inhalts- kontrolle nur diejenigen Klauseln, die von geltenden Rechts-vorschriften abweichen oder diese ergänzen. Die Klausel des V beschränkt die Haftung für Mängel an der Mietsache auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Dies weicht jedenfalls von der gesetzlichen Regelung des § 536a Abs. 1 Var. 1 BGB ab. Somit ist die Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 3 BGB er-öffnet. (bb) Verstoß gegen § 309 Nr. 7 lit. a BGB Die Klausel könnte gegen § 309 Nr. 7 lit. a BGB verstoßen. § 309 BGB kann vorliegend Prüfungsmaßstab sein, da M – wie festgestellt – kein Unternehmer ist, sodass die Regelung des § 310 Abs. 1 S. 1 BGB nicht greift. Nach § 309 Nr. 7 lit. a BGB ist eine Begrenzung der Haftung in AGB für Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit, die auf einer fahrlässigen Pflichtverletzung des Verwenders oder einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Pflicht- verletzung eines gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehil-fen des Verwenders beruhen, unwirksam. Die vorliegende Vertragsklausel beschränkt die Schadensersatzhaftung für Mängel pauschal auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Da-von erfasst sind, wie sich durch Auslegung der Klausel unter Berücksichtigung der Regelung des § 305c Abs. 2 BGB ergibt (Auslegung geht bei Unklarheiten zulasten des Ver-wenders), auch Schadensersatzansprüche für Mangelfolge-schäden, die durchaus das Leben, den Körper und die Ge-sundheit betreffen können, erfasst sind. Folglich verstößt die Regelung gegen § 309 Nr. 7 lit. a BGB. (cc) Verstoß gegen § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB Weiterhin könnte auch ein Verstoß gegen § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB vorliegen. Während die Abbedingung der verschuldensunabhängigen Haftung für anfängliche Sachmän-gel, als eine für das gesetzliche Haftungssystem untypische Regelung, nach h.M. auch formularmäßig möglich ist,50 könnte der Ausschluss der Schadensersatzhaftung für einfa-che Fahrlässigkeit gegen § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB verstoßen. Dies ist der Fall, wenn die Klausel wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertrags-zwecks gefährdet ist. Nach h.M. ist die Pflicht des Vermie-ters, die Mietsache in einem zum vertragsmäßigen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen und zu erhalten, eine Kar-dinalpflicht und das Recht des Mieters bei einem verschulde-ten Verstoß gegen diese Pflicht Schadensersatz zu verlangen, ein wesentliches Recht desselben. Daraus folgt, dass auch § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB einer AGB-Klausel entge-gensteht, mit der der Vermieter seine Schadensersatzhaftung

50 BGH NJW 2010, 3152 (3153 Rn. 22); Wiederhold (Fn. 5), § 536a Rn. 49.

für Mängel bei einfacher Fahrlässigkeit ausschließen möchte.51 Mithin ist vorliegend auch ein Verstoß gegen § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB gegeben. (e) Rechtsfolge Die Klausel ist insgesamt unwirksam. Der übrige Vertrag bleibt nach § 306 Abs. 1 BGB wirksam, anstelle der unwirk-samen Klausel gilt das dispositive Gesetzesrecht (§ 306 Abs. 2 BGB) und damit § 536a Abs. 1 Var. 1 BGB. cc) Zwischenergebnis Folglich liegt kein wirksamer Haftungsausschluss vor. Die Voraussetzungen des Haftungsanspruchs sind somit gegeben. d) Rechtsfolge: Schadensersatz Somit besteht dem Grunde nach ein Anspruch des S gegen K auf Schadensersatz aus §§ 536a Abs. 1 Var. 1, 536, 566 Abs. 1 BGB. Fraglich ist jedoch, ob auch ein ersatzfähiger Schaden entstanden und wie und in welchem Umfang dieser zu ersetzen ist. aa) Schaden und Art und Umfang des Ersatzes Wie oben bereits festgestellt, sind auch Mangelfolgeschäden von der Ersatzpflicht nach § 536a Abs. 1 Var. 1 BGB erfasst. Die Norm verweist umfassend auf die §§ 249 ff. BGB.

Nach der Differenzhypothese liegt ein Vermögensschaden des S vor, der in der Entwendung seines iPhones besteht. Dieser Schaden muss – auch im Rahmen des § 536a BGB – zurechenbar auf dem Haftungsgrund, vorliegend demgemäß dem Mangel, beruhen. Es sind die allgemeinen Zurechnungs-grundsätze52 anzuwenden. Äquivalente Kausalität ist gegeben – der Kabeldefekt kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Schaden des S entfiele. Zu prüfen ist jedoch, ob der Schaden auch im Sinne der objektiven Zurechnung (folglich der Adäquanz und des Schutzzwecks der Norm) auf dem Mangel der Mietsache beruht. Bedenken hiergegen ergeben sich daraus, dass die Einbuße des S erst durch das vorsätzli-che Dazwischentreten eines Dritten entstanden ist.

Das Dazwischentreten eines Dritten beseitigt – unabhän-gig davon, ob es rechtswidrig oder rechtmäßig, vorsätzlich oder fahrlässig war – den Zurechnungszusammenhang dann nicht, wenn das Verhalten des Schädigers (hier also die Über-lassung einer mangelhaften Mietsache) eine besondere Ge-fahrenlage für das verletzte Rechtsgut (hier das Eigentum des S) geschaffen hat, die das Eingreifen des Dritten wenn schon nicht wahrscheinlich gemacht, so doch wenigstens tendenzi-ell begünstigt hat.53 Umgekehrt entfällt eine Zurechnung, wenn zwischen den beiden Schadensbeiträgen (Mangel und Diebstahl) nur ein äußerer Zusammenhang besteht, das schä-digende Verhalten (der Mangel) also lediglich äußerer Anlass 51 BGH NZM 2002, 116 (117); Heinrichs, NZM 2006, 6 (10); Looschelders (Fn. 8), S. 128. 52 Vgl. zur Zurechnung von Schäden Looschelders (Fn. 8), S. 355–369. 53 Vgl. zu dieser Formulierung Oetker (Fn. 12), § 249 Rn. 158.

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für das Verhalten des Dritten (den Diebstahl) war.54 Das ist insbesondere der Fall, wenn als weitere Ursache ein freies menschliches Handeln hinzutritt, mit dem der Schädiger nach der Lebenserfahrung nicht rechnen musste.55 Im vorliegenden Fall war das Dazwischentreten eines Diebes durch den Man-gel der Mietsache, den daraus resultierenden Brand und das damit verbundene Chaos begünstigt. Weiterhin liegen Dieb-stähle infolge eines Durcheinanders bei Rettungseinsätzen nicht nur im Bereich des Möglichen, sondern sind oftmals – zumindest in den Medien – beobachtbar. Folglich unterbricht das Dazwischentreten des Diebes nicht den Zurechnungs- zusammenhang zwischen Haftungsgrund und Schaden. Der dem S durch die Entwendung seines Smartphones entstande-ne Schaden ist dem K zurechenbar

Hinweis: A.A. sehr gut vertretbar. Der entstandene Schaden ist nach den Grundsätzen der Natu-ralrestitution und der Totalreparation zu ersetzen, vgl. § 249 Abs. 1 BGB. Dies umfasst nach h.M. im Falle der Zerstörung einer vertretbaren Sache auch den Anspruch auf Beschaffung einer Ersatzsache durch den Schädiger.56 Vorliegend kann ein vergleichbares iPhone jedoch am Markt nicht beschafft wer-den, es handelte sich um ein Unikat. Demgemäß ist die Natu-ralrestitution nach § 249 Abs. 1 BGB unmöglich. Damit scheidet auch ein Ersatz des Schadens im Rahmen der rech-nerischen Naturalrestitution nach § 249 Abs. 2 BGB aus.57 Mithin kann S lediglich nach § 251 Abs. 1 Var. 1 BGB eine Entschädigung in Geld verlangen. Die Höhe des Entschädi-gungsanspruchs bemisst sich nach dem Verkehrswert der zer-störten Sache und beträgt vorliegend dementsprechend 2.500 €. bb) Mitverschulden Der Anspruch des S auf Schadensersatz könnte jedoch gem. § 254 Abs. 1 BGB aufgrund eines Mitverschuldens gekürzt werden.

Ein Mitverschulden des S an der Schadensentstehung ist nicht ersichtlich. Auch ein Mitverschulden des M liegt nicht vor, siehe oben. Dementsprechend ist der Anspruch des S auf Entschädigung nicht nach § 254 Abs. 1 BGB zu kürzen. e) Ergebnis S hat gegen K einen Anspruch auf Schadensersatz für den Verlust seines Smartphones in Höhe von 2.500 € gem. §§ 536a Abs. 1 Var. 1, 536 Abs. 1, 566 Abs. 1 BGB.

54 Vgl. BGH NJW 2014, 2029 (2036 Rn. 55). 55 Vgl. zu allem Oetker (Fn. 12), § 249 Rn. 157–158 m.w.N. 56 Vgl. Magnus (Fn. 10), § 249 Rn. 31; Grüneberg (Fn. 10), § 249 Rn. 15; Ebert (Fn. 10), § 249 Rn. 17; Schiemann (Fn. 10), § 249 Rn. 184: analoge Anwendung; Medicus/ Lorenz (Fn. 10), Rn. 707. 57 Vgl. Oetker (Fn. 12), § 249 Rn. 365.

2. Anspruch S gegen K auf Zahlung von 2.500 € aus § 823 Abs. 1 BGB Ein Anspruch des S gegen K auf Ersatz des ihm entstandenen Schadens scheidet mangels deliktischer Handlung des K aus, vgl. dazu oben die Prüfung des Anspruchs des M gegen K aus § 823 Abs. 1 BGB. Lösung zur Zusatzfrage An den Ansprüchen des S ändert sich nichts. Eine Änderung könnte lediglich dann eintreten, wenn der Mietvertrag zwi-schen K und M, in dessen Schutzwirkung S einbezogen ist, unwirksam wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Werden nach § 556d BGB unwirksame Vereinbarungen über die Miethöhe getroffen, so sind lediglich diese und im Rahmen dieser auch nur die über das zulässige Maß hinausgehende Miete von der Unwirksamkeit betroffen, vgl. § 556d Abs. 1 BGB.58 Die vom Mieter zu entrichtende Miete wird auf das zulässige Maß reduziert und der Vertrag bleibt im Übrigen wirksam.

58 Schüller, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, 50. Ed., Stand: 1.5.2019, § 556g Rn. 3; Teichmann (Fn. 13), § 556g Rn. 1.

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Anfängerklausur: Displayschaden Von Dr. Jonas David Brinkmann, Bielefeld* Sachverhalt V, der den Status eines „Powersellers“ auf der Online-Ver- steigerungsplattform E hat, stellte dort „zwei gebrauchte Lap- tops Marke XY“ ein. Das Höchstgebot zum Ablauf der regu-lären Auktionszeit stammte von Rechtsanwalt K. Dieser be- absichtigte, eines der Notebooks für seine Rechtsanwalts- kanzlei zu nutzen und das andere seinem Neffen zum Ge-burtstag zu schenken. Als Lieferadresse gab K seine Kanzlei-adresse an. K und V vereinbarten die Zahlung nach Liefe-rung.

Als K die Notebooks erhielt, stellte er fest, dass bei bei-den Geräten erhebliche Schäden am Display vorhanden sind. Wie sich herausstellte, hat Spediteur S das angemessen ver-packte Paket beim Transport fallen lassen. Auf wessen Vor-schlag hin S mit dem Transport beauftragt wurde, lässt sich nicht mehr klären. Fallfrage V verlangt Zahlung der Notebooks. K verweigert die Zah-lung. Mit Recht? Bearbeitungsvermerk Um den Status des Powersellers zu bekommen, muss man in den letzten drei Monaten durchschnittlich mindestens 300 Artikel pro Monat oder vier Artikel pro Monat bei einem monatlichen Handelsvolumen von mindestens 3000 Euro verkauft haben. Lösungsvorschlag Fraglich ist, ob V von K die Zahlung des Kaufpreises der beiden Notebooks gem. § 433 Abs. 2 Var. 1 BGB verlangen kann. Das wäre der Fall, wenn der Anspruch entstanden, nicht nachträglich untergegangen und durchsetzbar ist. A. Anspruch entstanden Damit V gegen K ein Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises der beiden Notebooks aus § 433 Abs. 2 Var. 1 BGB zusteht, müsste zwischen den beiden zunächst ein Kaufvertrag zu-stande gekommen sein. Ein Kaufvertrag ist ein Vertrag – mithin zwei übereinstimmende in Bezug aufeinander abgege-bene Willenserklärungen (Angebot und Annahme) – durch die sich eine Partei (Verkäufer) verpflichtet, der anderen Partei (Käufer) eine Sache gegen Zahlung eines Kaufpreises zu übergeben und zu übereignen.

Vorliegend hat V die Notebooks bei E zur Versteigerung eingestellt und K das höchste Gebot zum Ablauf der Auktions-zeit abgegeben. Wie bei Online-Versteigerungsplattformen die Bestimmung von Angebot und Annahme zu erfolgen hat, ist umstritten.

* Der Verf. ist Habilitand am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäisches Privatrecht, Handels- und Wirtschafts-recht sowie Rechtsvergleichung von Prof. Dr. Markus Artz an der Universität Bielefeld.

Nach teilweiser Ansicht ist davon auszugehen, dass der Verkäufer mit dem Einstellen des Gegenstands bei E erklärt, dass er einen Kaufvertrag mit demjenigen schließen möchte, der zum Ablauf des Versteigerungszeitraums das höchste Ge- bot abgegeben hat, wobei der Kaufpreis dem Höchstgebot entsprechen soll.1 Nach dieser Auffassung erklärt der Käufer mit seinen Geboten jeweils die Annahme für den Fall, dass das von ihm abgegebene Gebot das Höchstgebot darstellt.2 Nach dieser Ansicht hätte V ein Angebot abgegeben, indem er das Notebook bei E zur Versteigerung eingestellt hat. K hätte mit seinem Höchstgebot die Annahme erklärt. Demnach wäre ein Kaufvertrag zwischen V und K über die Notebooks geschlossen worden.

Nach anderer Auffassung gibt der Käufer bei E mit seinen Geboten jeweils Angebote auf Abschluss eines Kaufvertrags an.3 Der Verkäufer erklärt mit dem Einstellen des Gegen-stands bei E, dass er das Angebot annehmen werde, welches zum Zeitpunkt des Auktionszeitraums das höchste Gebot dar- stellt (sogenannte antizipierte Annahmeerklärung).4 Demnach hätte K durch sein Höchstgebot ein Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrags über die Laptops zum Kaufpreis in Höhe des Höchstgebots abgegeben, welches V mit dem Einstellen der Notebooks schon im Voraus angenommen hat. Somit wäre auch nach dieser Ansicht ein Kaufvertrag zwischen V und K über die Notebooks geschlossen worden.

Da beiden Ansichten zu dem Ergebnis kommen, dass ein Kaufvertrag zwischen K und V geschlossen wurde, ist eine Entscheidung für eine der Ansichten entbehrlich.

Aufgrund des Kaufvertragsschlusses ist ein Anspruch des Verkäufers, mithin V, auf Zahlung des Kaufpreises nach § 433 Abs. 2 Var. 1 BGB entstanden. B. Anspruch untergegangen Umstände, wegen denen der Anspruch auf Kaufpreiszahlung nachträglich entfallen ist, sind nicht ersichtlich. Insbesondere § 326 Abs. 1 BGB kommt hier nicht in Betracht. Da der Sachverhalt keine entsprechenden Informationen enthält, ist bereits nicht davon auszugehen, dass hinsichtlich der Leis-tungspflicht des V Unmöglichkeit im Sinne des § 275 BGB eingetreten ist. Zudem hat K die (defekten) Notebooks erhal-ten, sodass der ursprüngliche Leistungsanspruch in einen Mangelgewährleistungsanspruch übergegangen ist – bei des- sen Unmöglichkeit ist § 326 Abs. 1 S. 1 BGB nach § 323 Abs. 1 S. 2 BGB nicht anwendbar. C. Anspruch durchsetzbar Fraglich ist, ob der Anspruch des V gegen K auf Kaufpreis-zahlung durchsetzbar ist. Möglicherweise ist K aufgrund der Einrede des nicht erfüllten Vertrags aus § 320 Abs. 1 BGB berechtigt die Kaufpreiszahlung zu verweigern. Nach dieser

1 BGH NJW 2005, 53 (54); BGH NJW 2011, 2643 ff. 2 BGH NJW 2005, 53 (54). 3 OLG Oldenburg NJW 2005, 2556 ff. 4 OLG Oldenburg NJW 2005, 2556 ff.

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Vorschrift kann, wer aus einem gegenseitigen Vertrag ver-pflichtet ist, die ihm obliegende Leistung bis zur Bewirkung der Gegenleistung verweigern, sofern er nicht vorleistungs-pflichtig ist. I. Gegenseitiger Vertrag Bei dem hier zugrundeliegenden Kaufvertrag müsste es sich zunächst um einen gegenseitigen Vertrag handeln. Ein gegen- seitiger Vertrag ist ein Vertrag, bei dem beide Parteien ihre jeweilige Leistungspflicht nur des ihnen jeweils zustehenden Leistungsanspruchs wegen eingegangen sind.5 Bei einem Kaufvertrag verpflichtet sich der Käufer nur zur Kaufpreis-zahlung, weil er die Kaufsache bekommen möchte. Der Ver-käufer hingegen ist nur zur Übergabe und Übereignung der Sache bereit, weil ein den Kaufpreis bekommen möchte. Damit handelt es sich beim hier zugrundeliegenden Kauf- vertrag um einen gegenseitigen Vertrag.6 II. Keine Vorleistungspflicht K dürfte auch nicht vorleistungspflichtig sein. K und V haben die Zahlung nach Lieferung vereinbart. Somit ist nicht K, sondern V vorleistungspflichtig. III. Gegenleistung noch nicht bewirkt Die Gegenleistung – hier also die Leistung des V – müsste zudem auch noch nicht bewirkt worden sein. K hat die beiden Notebooks zwar bekommen, diese sind indes erheblich am Display beschädigt. Fraglich ist somit, ob V seine Leistung noch hierdurch bereits bewirkt hat.

Auch Sekundäransprüche wie etwa Mangelgewährleis-tungsansprüche können im Gegenleistungsverhältnis stehen,7 sodass ihre Existenz ein Zurückbehaltungsrecht nach § 320 BGB begründen kann. Gem. § 433 Abs. 1 S. 1 und 2 BGB hat der Verkäufer dem Käufer die Kaufsache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. Hier könnte V gegen seine Pflicht zur sachmangelfreien Übergabe und Übereig-nung verstoßen haben. Nach § 434 Abs. 1 BGB ist die Sache frei von Sachmängeln, wenn zum Zeitpunkt des Gefahr- übergangs die Ist-Beschaffenheit der Sache mit der Soll-Beschaffenheit übereinstimmt.8 1. Abweichen der Ist- von der Soll-Beschaffenheit Wegen den erheblichen Schäden am Display der Notebooks weichen diese von der Beschaffenheit ab, die bei Sachen gleicher Art üblich ist (§ 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB), was eine negative Abweichung zwischen Ist- und Soll-Beschaffen- heit darstellt.

5 Musielak/Hau, Grundkurs BGB, 15. Aufl. 2017, Rn. 122. 6 Vgl. Musielak/Hau (Fn. 5), Rn. 782. 7 Rüfner, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, 50. Ed., Stand: 1.7.2019, § 320 Rn. 40. 8 Musielak/Hau (Fn. 5), Rn. 793.

2. Zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs Diese negative Abweichung zwischen Ist- und Soll-Beschaf- fenheit müsste allerdings auch bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgelegen haben.

Gemäß § 446 S. 1 BGB geht die Gefahr des zufälligen Untergangs und der zufälligen Verschlechterung grds. mit der Übergabe der verkauften Sache auf den Käufer über. Als K die Notebooks von Spediteur S übergeben bekommen hat, waren diese am Display beschädigt. Demnach könnte die Ab- weichung zwischen Ist- und Soll-Beschaffenheit bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgelegen haben. Unter Um- ständen ist der Gefahrübergang allerdings auch schon zu ei- nem früheren Zeitpunkt eingetreten. Nach § 447 Abs. 1 BGB geht die Gefahr im Falle des Versendungskaufs nämlich grds. schon auf den Käufer über, sobald der Verkäufer die Sache dem Spediteur, Frachtführer oder sonstigen Versandperson übergeben hat. Die Notebooks sind erst im Rahmen des Transports durch den Spediteur S beschädigt worden. Sollte § 447 Abs. 1 BGB anwendbar sein, wäre die Gefahr zu die-sem Zeitpunkt also bereits auf K übergangen, sodass die Note-books zum als Zeitpunkt des Gefahrübergangs sachmangel-frei einzustufen wären und V seine Pflicht zur sachmangel-freien Leistung nicht verletzt hat und dementsprechend keine Sekundäransprüche bestünden.

Fraglich ist somit, ob § 447 Abs. 1 BGB vorliegend an-wendbar ist, oder der Gefahrübergang nach § 446 BGB erst nach Übergabe der Sache an K stattgefunden hat. a) Versendungskauf Für die Anwendbarkeit des § 447 BGB müsste zunächst ein Versendungskauf im Sinne der Vorschrift vorliegen. Dies ist der Fall, wenn der Verkäufer die verkaufte Sache auf Verlan-gen des Käufers an einen anderen Ort als den Erfüllungsort versendet. Erfasst sind also solche Kaufverträge über eine bewegliche Sache, bei denen der Verkäufer die Nebenpflicht übernommen hat, die Kaufsache vom Erfüllungsort aus an einen davon verschiedenen Erfolgsort zu versenden.9 Versen-dungskauf im Sinne des § 447 BGB meint also insbesondere die Fälle der Schickschuld, an denen der Leistungsort und der Erfolgsort auseinanderfallen.10 Abzugrenzen ist die Schick-schuld von der Holschuld und der Bringschuld. Die Hol-schuld liegt vor, wenn der Gläubiger verpflichtet ist, die Sache beim Schuldner abzuholen – wenn also Leistungsort und Erfolgsort beim Schuldner liegen.11 Die Bringschuld ist gegeben, wenn der Schuldner verpflichtet ist, die Leistung beim Gläubiger zu erbringen – also Leistungs- und Erfolgsort am Sitz des Gläubigers liegen.12 Nach § 269 Abs. 1 BGB liegt, sofern sich weder aus der Parteivereinbarung noch aus den Umständen etwas anderes ergibt, eine Holschuld vor.13

9 Berger, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 17. Aufl. 2018, § 447 Rn. 6. 10 Faust, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, 50. Ed., Stand: 1.11.2018, § 447 Rn. 5. 11 Musielak/Hau (Fn. 5), Rn. 215. 12 Musielak/Hau (Fn. 5), Rn. 218. 13 Musielak/Hau (Fn. 5), Rn. 217.

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K und V haben indes nicht vereinbart, dass K die Kaufsache bei V abholen soll, sondern, dass er die Notebooks in seiner Rechtsanwaltskanzlei in Empfang nehmen soll. Eine Hol-schuld entspricht im vorliegenden Fall somit nicht der Ver-einbarung. Fraglich ist allerdings, ob auch der Leistungsort an der Kanzlei liegen sollte – und somit eine Bringschuld vereinbart war – oder ob der Leistungsort weiterhin am Sitz des V belegen war – und somit eine Schickschuld, mithin ein Versendungskauf, vereinbart war. Da § 269 Abs. 1 BGB den Leistungsort im Zweifel am Sitz des Schuldners verortet, liegt, wenn nicht eindeutig eine Bringschuld vereinbart wur-de, eine Schickschuld vor, sofern der Erfolgsort an einem anderen Ort als dem Sitz des Schuldners liegt.14 Mangels Anhaltspukte, dass V sich nicht nur verpflichten wollte den Transport der Kaufsache zu K zu organisieren, sondern auch für den Transport selbst verantwortlich sein wollte, ist hier also eine Schickschuld anzunehmen, sodass ein Versendungs- kauf im Sinne des § 447 BGB gegeben ist. b) Modifikation durch §§ 474, 475 Abs. 2 BGB Der Anwendbarkeit von § 447 Abs. 1 BGB könnten hier allerdings die Vorschriften des §§ 474, 475 Abs. 2 BGB entgegenstehen. Demnach ist § 447 Abs. 1 BGB in Fällen des Verbrauchsgüterkaufs mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Gefahr des zufälligen Untergangs und der zufälligen Ver- schlechterung nur dann auf den Käufer übergeht, wenn der Käufer den Spediteur, den Frachtführer oder die sonstige Transportperson mit dem Transport beauftragt hat und der Unternehmer ihm diese Person nicht zuvor benannt hat. aa) Verbrauchsgüterkauf Fraglich ist zunächst, ob § 475 BGB vorliegend überhaupt einschlägig ist. Nach § 474 Abs. 2 BGB gilt die Vorschrift nur für Verbrauchsgüterkäufe. Verbrauchsgüterkäufe sind nach § 474 Abs. 1 BGB Verträge durch die ein Verbraucher von einem Unternehmer eine bewegliche Sache kauft. (1) Kaufvertrag über bewegliche Sache K und V haben einen Kaufvertrag über zwei Notebooks, mit- hin bewegliche Sachen, geschlossen. (2) Unternehmereigenschaft des Verkäufers V müsste zudem Unternehmer sein. Nach § 14 BGB ist eine natürliche oder juristische Person, die bei Abschluss eines Rechtsgeschäfts in Ausübung ihrer gewerblichen oder selb-ständig beruflichen Tätigkeit handelt, Unternehmer. Unter-nehmerische Tätigkeit setzt somit ein selbstständiges und planmäßiges, auf eine gewisse Dauer angelegtes Anbieten ent- geltlicher Leistungen am Markt voraus.15 V hat als E-Power- seller gehandelt. Den Status des Powersellers verleiht E sol-chen Verkäufern die innerhalb eines gewissen Zeitraums eine bestimmte Menge an Verkäufen über E abgewickelt haben. Nach wohl überwiegender Meinung begründet der Status des Powersellers unter diesen Umständen einen Anscheinsweis

14 Faust (Fn. 10), § 447 Rn. 5. 15 BGH NJW 2006, 2250 ff.

dahingehend, dass der Inhaber als Unternehmer im Sinne des § 14 BGB tätig ist.16 Nach anderer Auffassung soll der Powerseller-Status sogar eine Beweislastumkehr zur Folge haben, sodass der Powerseller beweisen muss, dass er nicht unternehmerisch tätig gewesen ist.17 Teilweise wird auch davon ausgegangen, dass Powerseller jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens als Unter-nehmer einzustufen sind.18 Jedenfalls spricht der Status des Powersellers für ein auf gewisse Dauer angelegtes Anbieten entgeltlicher Leistungen am Markt.19 V handelte demnach als Unternehmer im Sinne von § 14 BGB. (3) Verbrauchereigenschaft des Käufers Ferner müsste K als Verbraucher gehandelt haben. Verbrau-cher ist nach § 13 BGB eine natürliche Person, die ein Rechts- geschäft zu Zwecken abschließt, die überwiegend weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können. Bei K handelt es sich um eine natürliche Person. Zum Zeitpunkt des Kaufs der Notebooks beabsichtigte K die beiden Geräte allerdings für unterschied-liche Zwecke zu benutzen. Während er eines der Notebooks für seine Rechtsanwaltskanzlei – mithin für selbständig unter- nehmerische Zwecke – nutzen wollte, war das andere Note- book als Geschenk für seinen Neffen – mithin für private Zwecke – vorgesehen.

Zu klären ist an dieser Stelle, ob der Kauf der Notebooks hinsichtlich der Frage, ob K als Verbraucher gehandelt hat, für jedes Notebook getrennt oder für beide gemeinsam zu beurteilen ist. (a) Getrennte Beurteilung Man könnte für die Beurteilung der Verbrauchereigenschaft zwischen den beiden Notebooks differenzieren. Demnach wäre K in Bezug auf das für seinen Neffen gekaufte Note-book Verbraucher und in Bezug auf das für die Anwaltskanz-lei gekaufte Notebook nicht. Für eine derart differenzierende Betrachtung könnte die Formulierung des § 474 Abs. 1 BGB sprechen. Denn § 474 Abs. 1 BGB spricht vom Kauf einer beweglichen Sache. Dass die Regelung jedoch per se nicht in Fällen zur Anwendung kommen soll, in denen der Käufer auch mehrere Sachen kauft, soll damit ersichtlich nicht ge-meint sein. Die Bezugnahme auf eine Kaufsache könnte somit nahelegen, dass bei Kaufverträgen über mehrere nicht zusammengehörende Sachen für jede Sache getrennt ermittelt werden soll, ob diese für private Zwecke gedacht ist, oder nicht. Dass der deutsche Gesetzgeber bei der Formulierung indes überhaupt Verträge, in denen der Verbraucher mehrere Sachen kauft, im Blick hatte und für diese eine wie auch immer geartete besondere Regelung treffen wollte, darf be-zweifelt werden.

16 LG Mainz NJW 2006, 783 ff.; Bülow/Artz, Verbraucher-privatrecht, 6. Aufl. 2018, Rn. 81. 17 OLG Koblenz NJW 2006, 1438 ff. 18 Szczesny/Holthusen, NJW 2007, 2586 (2588). 19 Bülow/Artz (Fn. 16), Rn. 81.

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Für eine getrennte Beurteilung könnte man indes ins Feld führen, dass dies dem Verbraucherschutz jedenfalls dann dienlich wäre, wenn das Verbraucherprivatrecht andernfalls überhaupt nicht zur Anwendung käme. So etwa, wenn nur ein kleiner, aber abtrennbarer Teil des Vertrags privaten Zwecken dient. Hier könnte zumindest dieser private Teil den verbrau-cherschutzrechtlichen Vorgaben unterstellt werden. Insofern gilt es aber zu bedenken, dass die getrennte Beurteilung für den Verbraucher auch nachteilig sein kann. So könnten bei einer getrennten Betrachtung von teilbaren Verträgen unter Umständen Vertragsteile dem Verbraucherschutzrecht entzo-gen werden, die andernfalls ebenfalls dem Verbraucherprivat-recht unterfallen würden. Man denke etwa an ein Darlehen über 10.000 €, welches der Darlehensnehmer i.H.v. 5.500 € für private und i.H.v. 4.500 € für unternehmerische Zwecke nutzen möchte. Eine getrennte Beurteilung der beiden Teile würde den Verbraucherschutz auf den Darlehensteil in Höhe von 5.500 € begrenzen, während eine einheitliche Beurtei-lung den Darlehensnehmer insgesamt schützt.

Gegen eine derartige getrennte Beurteilung spricht auch § 13 BGB, der für die Bestimmung der Verbraucher- eigenschaft auf den Vertrag als Ganzen abstellen will und eine Differenzierung entsprechend einer Teilbarkeit des Ver-trags gerade obsolet machen soll.20 Eine getrennte Beurtei-lung der Verbrauchereigenschaft mit Blick auf den jeweiligen Laptop ist dementsprechend abzulehnen. (b) Einheitliche Beurteilung Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass die Notebooks beide gleichwertig sind und somit jeweils die Hälfte des Rechtsgeschäfts ausmachen. Dementsprechend wäre der Kaufvertrag – ginge man von einer einheitlichen Beurteilung aus – nicht überwiegend zu privaten Zwecken geschlossen. Dem Wortlaut des § 13 BGB entsprechend müsste man insofern zu dem Ergebnis kommen, dass K bei Abschluss des Kaufvertrags nicht als Verbraucher im Sinne des § 13 BGB gehandelt hat.

Ob die Regelung für die sogenannten Mischverträge indes tatsächlich so zu verstehen ist, dass bei Gleichwertigkeit der privaten und unternehmerischen Zwecke keine Verbraucher-eigenschaft vorliegt, kann jedoch bezweifelt werden. Die Regelung dient der Umsetzung der Verbraucherrechte-Richt- linie21.22 Nach deren Erwägungsgrund 17 sollte eine Person auch dann als Verbraucher einzustufen sein, wenn der Vertrag „teilweise für gewerbliche und teilweise für nichtgewerbliche Zwecke abgeschlossen [wird] (Verträge mit doppeltem Zweck) und ist der gewerbliche Zweck im Gesamtzusammenhang des Vertrags nicht überwiegend“ ist. Die Verbraucherrechte-Richtlinie sieht also anders als § 13 BGB bei 50/50-Kon- stellationen vor, dass der Vertrag als privater Vertrag einge-stuft wird.23 Im Anwendungsbereich der Verbraucherrechte-Richtlinie ist § 13 BGB dementsprechend richtlinienkonform 20 Bülow/Artz (Fn. 16), Rn. 69. 21 RL 2011/83/EU. 22 Tamm, in: Tamm/Tonner, Verbraucherrecht, 2. Aufl. 2016, § 2 Rn. 44. 23 Meier, JuS 2014, 777 ff.

dahingehend fortzubilden, dass auch bei 50/50-Konstellatio- nen von einer privaten Tätigkeit des Betroffenen auszugehen ist.24

Der vorliegende Fall liegt indes nicht im Anwendungs- bereich der Verbraucherrechte-Richtlinie, da diese nur die Fälle der allgemeinen Belehrungspflichten, der besonderen Vertriebsformen sowie der generellen Nichtleistung umfasst. Stattdessen gehen die hier maßgeblichen Regelungen der §§ 474 ff. BGB auf die Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie25 zurück. Diese sieht für die sogenannten Dual-Use-Konstella- tionen keine explizite Regelung vor. Daraus könnte man einer-seits im Umkehrschluss schließen, dass nach dieser Richtlinie bereits ein geringer unternehmerischer Anteil bei dem Ge-schäft die Verbrauchereigenschaft des Betroffenen verhindert. Andererseits ließe sich argumentieren, dass die Klarstellung der zeitlich späteren Verbraucherrechte-Richtlinie inhaltlich auch im Rahmen der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie gewollt war. Gegen die letztere Auffassung spricht indes die zu einem noch späteren Zeitpunkt verfasste Warenkauf-Richtlinie26, welche die Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie ersetzen soll. Dort ist in Erwägungsgrund 22 vorgesehen, dass „es den Mitglied-staaten bei Verträgen mit doppeltem Zweck, wenn der Ver-trag teilweise für gewerbliche und teilweise für nicht gewerb-liche Zwecke geschlossen wird und der gewerbliche Zweck im Gesamtzusammenhang des Vertrags nicht überwiegend ist nach wie vor freistehen [sollte], festzulegen, ob unter wel-chen Bedingungen diese Person auch als Verbraucher be-trachtet werden sollte. Demnach geht aus dem Erwägungs-grund 22 der Warenkauf-Richtlinie hervor, dass der europäi-sche Gesetzgeber annimmt, auch unter der Geltung der Ver-brauchsgüterkauf-Richtlinie bestünde ein nationaler Rege-lungsspielraum im Hinblick auf Dual-Use-Fälle. Ein solcher kommt mangels expliziter Öffnungsklausel in der Verbrauchs-güterkauf-Richtlinie allerdings nur in Betracht, soweit die Mindestharmonisierungsregelung27 greift – wenn also die Festlegung des Verbraucherschutzes in Dual-Use-Fällen zu- gunsten des Verbrauchers von den Vorgaben der Richtlinie abweicht, die Richtlinie also nicht bereits von sich aus die Anwendung des Verbraucherschutzregimes auf Dual-Use-Fälle vorsieht. Denn wenn die Verbrauchsgüterkauf-Richt- linie die Dual-Use-Fälle ihrem Anwendungsbereich unterstel-len würde, könnte ein nationaler Gesetzgeber hier keine eigen-ständige Regelung über die Behandlung von Dual-Use-Fällen treffen, ohne gegen die Richtlinie zu verstoßen – anders als die Warenkauf-Richtlinie unterstellt, gäbe es insoweit nach der bisher geltenden Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie keine Rege-lungsfreiheit der nationalen Gesetzgeber. Ginge man hinge-gen davon aus, dass Dual-Use-Geschäfte nach der Ver-brauchsgüterkauf-Richtlinie nicht erfasst sind, stünde einer rein nationalen Erweiterung des Verbraucherbegriffs nicht nichts im Wege. Denn für die Dual-Use-Geschäfte würde

24 Meier, JuS 2014, 777 ff. 25 RL 1999/44/EG zu bestimmten Aspekten des Verbrauchs-güterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter. 26 RL 2019/771/EU über bestimmte vertragsrechtliche As-pekte des Warenkaufs. 27 Art. 8 Abs. 2 RL 1999/44/EG.

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diese Interpretation lediglich bedeuten, dass die Richtlinie hier keine Regelungen treffen will – der nationale Gesetzgeber wäre insoweit frei, diese Geschäfte nach den Vorgaben der Richtlinie oder anders zu regeln.

Im Anwendungsbereich der Verbrauchsgüterkauf-Richt- linie ist eine europarechtskonforme Rechtsfortbildung dahin-gehend, dass die Verbrauchereigenschaft auch bei 50/50-Konstellationen zu bejahen ist, somit nicht geboten. Eine sol- che Rechtsfortbildung könnte allerdings aus nationaler Sicht erforderlich sein. Der deutsche Gesetzgeber hatte die Absicht eine für alle Konstellationen einheitliche Bestimmung der Verbrauchereigenschaft in § 13 BGB zu schaffen. Dabei ist er davon ausgegangen, dass seine Regelung zur Dual-Use-Problematik auch den Vorgaben der Verbraucherrechte-Richtlinie entspricht. Insofern ist der deutsche Gesetzgeber allerdings einem Irrtum unterlegen, da § 13 BGB in den 50/50-Fällen nicht den Richtlinienvorgaben entspricht.28 Wür-de man die insoweit gebotene Rechtsfortbildung allerdings lediglich auf den Anwendungsbereich der Verbraucherrechte-Richtlinie beschränken, hätte dies eine sogenannte gespalte-nen Interpretation des § 13 BGB zur Folge – ein Er- gebnis, dass dem Vereinheitlichungswillen des Gesetzgebers widersprechen dürfte. Insofern spricht einiges dafür, dass in 50/50-Konstellationen immer eine Rechtsfortbildung dahin-gehend vorzunehmen ist, dass der Betroffene als Verbraucher zu qualifizieren ist.29 Somit dürfte K im Falle einer einheitli-chen Beurteilung für den Vertrag grds. insgesamt als Ver-braucher einzustufen sein. (c) K als Scheinunternehmer? K handelte nicht überwiegend für unternehmerische Zwecke, sodass er subjektiv als Verbraucher im Sinne des § 13 BGB gehandelt hat. Fraglich ist allerdings, ob hier eine andere Beurteilung deshalb erforderlich ist, weil K sich beide Note-books zu seiner Kanzleiadresse hat schicken lassen – für den V also nicht erkennbar war, dass K (auch) als Verbraucher gehandelt hat. K könnte insofern als sog. „Scheinunterneh-mer“30 gehandelt haben, sodass ihm ggf. eine Berufung auf seine Verbrauchereigenschaft versperrt wäre.

Wie das Problem des Scheinunternehmers in Fällen, in denen ein Verbraucher aus Sicht eines objektiven Erklärungs-empfängers wie ein Unternehmer auftritt, zu behandeln ist, ist umstritten. Einerseits ließe sich argumentieren, dass ein Ver-braucher, der treuwidrig den Anschein erweckt, er sei Unter-nehmer, sich nach § 242 BGB nicht auf seine Verbraucher- eigenschaft berufen könne.31 Andererseits könnte man anfüh-ren, dass ein Verbraucher sich nicht einmal freiwillig seines Schutzes entledigen kann und dementsprechend auch ein treuwidriges Verhalten, wie es dem Scheinunternehmer vor-geworfen wird, nicht dazu führen könne, dass dieser den Schutz des Verbraucherprivatrechts verliert.32 Nach einer teil- weise vertretenen Ansicht ist danach zu differenzieren, ob der 28 Meier, JuS 2014, 777. 29 In diesem Sinne wohl auch Meier, JuS 2014, 777. 30 Bülow/Artz (Fn. 16), Rn. 69. 31 So etwa BGH NJW 2005, 1045. 32 Schürnbrand, JZ 2005, 133 (136).

Betroffene mitunter auch als Unternehmer auftritt oder stets nur als Verbraucher handelt: Während Letzterer nie auf sei-nen Schutz verzichten könne und ihn auch nicht im Falle eines treuwidrigen Verhaltens verliert, müsse Ersterer, sofern er treuwidrig den Anschein erweckt, er handele als Unter-nehmer, sich so behandeln lassen, als wäre er nicht als Ver-braucher tätig.33

Vorliegend könnte eine Entscheidung zwischen den ver-schiedenen Lösungsmöglichkeiten allerdings offen bleiben, wenn K sich bereits nicht treuwidrig als Unternehmer ausge-geben hat. In diesem Fall kommen alle Ansichten zu dem gleichen Ergebnis, dass eine Berufung auf die Verbraucher-eigenschaft nicht gesperrt ist. K hat sich die Notebooks ledig-lich an seine Kanzleiadresse liefern lassen. Dieser Umstand bedeutet nicht, dass ein objektiver Dritter zwingend davon hätte ausgehen müssen, dass K die beiden Notebooks auch für die Kanzlei erwirbt.34 Denn da Postzustellungen in der Regel während der regulären Arbeitszeiten erfolgen, ist es keinesfalls fernliegend, dass sich Selbständige und Arbeit-nehmer auch für ihren privaten Gebrauch bestellte Gegen-stände an ihre Arbeitsstätte liefern lassen.35 K hat sich somit nicht treuwidrig als Unternehmer ausgegeben. (d) Zwischenergebnis Eine Berufung des K auf seine Verbrauchereigenschaft ist dementsprechend nicht ausgeschlossen. bb) Keine Versteigerung gebrauchter Sachen nach § 475 Abs. 2 S. 2 BGB Nach § 475 Abs. 2 S. 2 BGB gelten die Vorschriften des Ver- brauchsgüterkaufs nicht für gebrauchte Sachen, die in einer öffentlich zugänglichen Versteigerung verkauft werden, an der der Verbraucher persönlich teilnimmt.

K hat die gebrauchten Notebooks auf der Online-Ver- steigerungsplattform E ersteigert. Zwar handelt es sich bei den Notebooks um gebrauchte Sachen, fraglich ist allerdings ob vorliegend das Merkmal der öffentlich zugänglichen Ver-steigerung erfüllt ist. Mit Blick auf die Vorgängervorschrift des § 474 Abs. 2. S. 2 BGB – nämlich § 474 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. – hat der BGH entschieden, dass die dort vorausgesetzte „öffentliche Versteigerung“ der in § 383 Abs. 3 BGB legal- definierten öffentlichen Versteigerung entspräche.36 Dement-sprechend war die Ausnahme in § 474 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. nur erfüllt, wenn ein bestellter Gerichtsvollzieher oder zu Versteigerungen befugter andere Beamte oder öffentlich an- gestellter Versteigerer als Auktionator tätig war. Im Rahmen der Umsetzung der Verbraucherrechte-Richtlinie wurde die Ausnahme für Versteigerungen gebrauchter Sachen aller-dings neugefasst – an Stelle der „öffentlichen Versteigerung“ wurde die Formulierung dahingehend geändert, dass nunmehr eine „öffentlich zugängliche Versteigerung“ vorliegen muss. Zwar geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Neufassung

33 Herresthal JZ 2006, 695; zust. Bülow/Artz (Fn. 16), Rn. 56. 34 BGH NJW 2009, 3780. 35 Vgl. BGH NJW 2009, 3780. 36 BGH NJW 2006, 613 ff.

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inhaltlich den bisherigen Vorgaben des § 474 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. entspricht.37 Allerdings findet sich nunmehr eine Definition der öffentlich zugänglichen Versteigerung in § 312g Abs. 2 Nr. 10 BGB. Demnach setzt eine öffentlich zugängli-che Versteigerung voraus, dass der Vertrag im Rahmen einer Vermarktungsform geschlossen wird, bei der der Unterneh-mer Verbrauchern, die persönlich anwesend sind oder denen diese Möglichkeit gewährt wird, Waren oder Dienstleistun-gen anbietet, und zwar in einem vom Versteigerer durchge-führten, auf konkurrierenden Geboten basierenden transpa-renten Verfahren, bei dem der Bieter, der den Zuschlag erhal-ten hat, zum Erwerb der Waren oder Dienstleistungen ver-pflichtet ist. Auf die Person des Auktionators kommt es dem-entsprechend für die Beurteilung der Frage, ob eine öffentlich zugängliche Versteigerung im Sinne des § 312g Abs. 2 Nr. 10 BGB vorliegt oder nicht, gerade nicht an. Ob die Ausnahme nach § 474 Abs. 2 S. 2 BGB nun weiterhin an den Vorgaben zur „öffentlichen Versteigerung“ nach § 383 Abs. 3 BGB38 oder (entsprechend der wohl h.L.39) nach § 312g Abs. 2 Nr. 10 BGB zu beurteilen ist, kann indes offen bleiben.

Im Falle von Verträgen im Rahmen von Online-Ver- steigerungsplattformen fehlt es bereits am für Versteigerun-gen maßgeblichen Vertragsschluss durch Zuschlag.40 Der Zu- schlag ist die Willenserklärung des Auktionators, mit der dieser das Gebot eines Bieters annimmt.41 Wie oben darge-stellt, kommt der Vertrag bei Online-Versteigerungsplattform allerdings durch Angebot und Annahme der Vertragsparteien zustande.42 Zudem besteht hier die Möglichkeit der persönli-chen Teilnahme, wie sie § 474 Abs. 2 S. 2 BGB voraussetzt, nicht.43

Die Notebooks wurden somit nicht im Rahmen einer öf-fentlich zugänglichen Versteigerung verkauft. cc) Anwendbarkeit des § 447 Abs. 1 BGB nach § 475 Abs. 2 BGB Bei dem Kauf der Notebooks handelt es sich somit um einen Verbrauchsgüterkauf, sodass § 475 Abs. 2 BGB zur Anwen-dung kommt und § 447 Abs. 1 BGB demnach nur gilt, wenn K den S beauftragt hat und V diesen nicht zuvor benannt hat. Fraglich ist, wie die Formulierung „wenn der Käufer den Spediteur […] beauftragt hat“ zu verstehen ist.

Nimmt man die Formulierung wörtlich, ginge es nur um Fälle, in denen nicht der Unternehmer sich um die Organisa-tion des Transports kümmert, sondern der Verbraucher – in diesem Fall würde bereits kein Versendungskauf vorliegen und § 447 Abs. 1 BGB schon nicht anwendbar sein.44 Die 37 BT-Drs. 17/12637, S. 69. 38 So wohl Berger (Fn. 9), §§ 474, 475 Rn. 6. 39 Faust (Fn. 10), § 474 Rn. 34; S. Lorenz, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 474 Rn. 16; Saenger, in: Schulze u.a., Kommentar zum BGB, 10. Aufl. 2019, § 474 Rn. 4. 40 BGH NJW 2005, 53 ff. 41 BGH NJW 1998, 2350 ff. 42 Siehe oben unter A. 43 S. Lorenz (Fn. 39), § 474 Rn. 16. 44 Faust (Fn. 10), § 475 Rn. 16, 20.

Vorschrift des § 475 Abs. 2 würde in diesem Fall nur einen Sinn ergeben, wenn man sie als Rechtsfolgenverweis verste-hen würde.45 Demnach wäre die Folge „Übergabe an die Transportperson führt zum Gefahrübergang“ auch bei der Holschuld – also in den Fällen des § 446 BGB nur anwend-bar, wenn die in § 475 Abs. 2 BGB genannten Voraussetzun-gen vorliegen. Insofern würde letztlich § 446 BGB abgeän-dert, wonach grundsätzlich bei der Holschuld auch die Über-gabe an eine im Auftrag des Käufers handelnde Transport-person übergehen würde.46 Im Rahmen eines Versendungs-kaufs würde § 475 BGB nach diesem Verständnis immer dazu führen, dass der Gefahrübergang erst mit der Übergabe an den Verbraucher erfolgt.47

Eine andere Interpretationsmöglichkeit wäre, die Formu-lierung „beauftragt hat“ so zu verstehen, dass es um Fälle geht, in denen der Verbraucher die Auswahl der Transport-person getroffen hat und der Unternehmer den Transport daraufhin von dieser Person vornehmen lässt. Dafür könnte einerseits die Gesetzesbegründung zur Vorgängervorschrift des § 475 Abs. 2 BGB, nämlich § 474 Abs. 4 BGB a.F. spre-chen, die lautet: „Für die Sonderkonstellation, dass der Ver-braucher […] den oder die möglichen Beförderer ohne Rück-griff auf einen Vorschlag des Unternehmers auswählt, ist § 447 Absatz 1 zukünftig anwendbar.“48 Zudem ließe sich der Sinn und Zweck der Regelung anführen. Denn es geht bei der Vorschrift um die Zuweisung der Verantwortlichkeit für die Transportperson. Ist diese „der Sphäre des Käufers“49 zuzu-rechnen, wäre es dem Verkäufer es nicht zumutbar, dass er für die Auswahlentscheidung des Käufers haftet.50 Trifft der Käufer die Entscheidung hinsichtlich der Transportperson und wurde diese nicht zuvor vom Verkäufer vorgeschlagen, so ließe sich argumentieren, ist die Transportperson dem Käufer zuzurechnen und von diesem somit auch das Trans-portrisiko zu tragen. Auftrag wäre insoweit nicht im techni-schen Sinn zu verstehen, sondern im Sinne von Auswahl. Gegen eine solche Interpretation könnte allerdings sprechen, dass Regelung auf die Verbraucherrechte-Richtlinie (nämlich Erwägungsgrund 55) zurückgeht und dort sowohl in der deut-schen als auch in der englischen und französischen Sprach-fassung eine Haftung des Verbrauchers – neben Fällen der Selbstabholung durch den Verbraucher – nur für Fälle vorge-sehen ist, in denen es dem Verbraucher obliegt den Spediteur zu beauftragen.

Letztlich kann die Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Interpretationsmöglichkeit hier offen bleiben, da ohnehin nicht mehr geklärt werden kann, auf wessen Vor-schlag hin S mit dem Transport beauftragt wurde. Als Aus-nahme vom Grundsatz, dass der Käufer im Rahmen des Ver-brauchsgüterkaufs das Transportrisiko nicht zu tragen hat, obläge es auch unter Rückgriff auf die zweite Interpretations-

45 Faust (Fn. 10), § 475 Rn. 16, 20. 46 Faust (Fn. 10), § 475 Rn. 16, 20. 47 Faust (Fn. 10), § 475 Rn. 16, 20. 48 BT-Drs. 17/12637, S. 70. 49 BT-Drs. 17/12637, S. 70. 50 Augenhofer, in: Beck’scher Online-Großkommentar, Stand: 1.4.2019, § 475 BGB Rn. 37.

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möglichkeit dem V zu beweisen, dass der K die Wahl zu gunsten des S ohne entsprechenden Vorschlag seinerseits getroffen hat. Ihm wird ein solcher Beweis jedoch nicht ge-lingen.

Somit ist § 447 Abs. 1 BGB hier jedenfalls nicht anwend-bar. dd) Zwischenergebnis Die Gefahr des zufälligen Untergangs und der zufälligen Ver- schlechterung der Notebooks hat nicht bereits mit der Über-gabe von V an S stattgefunden hat. Vielmehr ist der Gefahr-übergang erst zum Zeitpunkt der Übergabe der Notebooks von S an K erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt wichen die Note-books von der üblichen Beschaffenheit im Sinne des § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB ab. V ist demnach seiner Pflicht zur sachmangelfreien Leistung nach § 433 Abs. 1 BGB nicht nachgekommen. V hat insofern die geschuldete Leistung nicht erbracht. Die Gegenleistung des V ist damit nicht (vollstän-dig) bewirkt. Die Voraussetzungen des § 320 Abs. 1 BGB sind also erfüllt. 3. Unanwendbarkeit des § 320 BGB mangels Fälligkeit der Mängelgewährleistungsansprüche? Das Zurückbehaltungsrecht nach § 320 BGB setzt grds. die Fälligkeit des Gegenanspruchs voraus. Ursprünglich bestand der Gegenanspruch in der Übergabe und Übereignung der Notebooks. Der ursprüngliche Erfüllungsanspruch ist ab dem Zeitpunkt der Annahme der Notebooks durch K allerdings in den die Sekundäransprüche übergegangen. Ob K dem V einen fälligen Sekundäranspruch entgegenhalten kann, scheint jedoch zweifelhaft. Da die in § 437 Nrn. 2 und 3 BGB ge-nannten Rechtsbehelfe grds. den erfolglosen Ablauf einer angemessen gesetzten Frist erfordern und bisher weder eine Frist gesetzt wurde, noch Umstände ersichtlich sind, aus denen sich eine Entbehrlichkeit der Fristsetzung ergeben könnte, scheiden Ansprüche aus diesen Rechtsbehelfen hier mangels Fälligkeit aus.

Aber auch die Fälligkeit eines Nacherfüllungsanspruchs des K gegen V scheint fraglich. Für die Fälligkeit des Nach-erfüllungsanspruchs bedarf es nach der h.M. ein Nacherfül-lungsbegehren – also eine gegenüber dem Verkäufer emp-fangsbedürftige Willenserklärung des Käufers, in welcher der Käufer auf den konkreten Mangel hinweist und zu erkennen gibt, dass er diesen beseitigt wissen will.51 Mitunter wird auch vertreten, dass die Fälligkeit des Nacherfüllungsanspruchs da- rüber hinaus die Ausübung des Wahlrechts nach § 439 Abs. 1 BGB durch den Käufer voraussetzt.52 Gegen diese Auffas-sung spricht allerdings, dass ein unspezifisches Abhilfever-langen lediglich zur Folge hat, dass der Verkäufer die Nach-erfüllung selbst wählen kann.53 Hier könnte der Nacherfül-

51 Höpfner, in: Beck’scher Online-Großkommentar, Stand: 1.4.2019, § 439 BGB Rn. 13. 52 Rüfner (Fn. 7), § 320 Rn. 41. 53 Höpfner (Fn. 51), § 439 BGB Rn. 13; vgl. auch Matusche-Beckmann, in: Staudinger Kommentar zum BGB, Neubear-beitung 2013, § 349 Rn. 1.

lungsanspruch des K zudem ohnehin auf die Nachbesserung beschränkt sein, da es sich um den Kauf eines gebrauchten Gegenstands handelt und somit dem Parteiinteresse nach die Nachlieferung ausgeschlossen sein könnte.54 In diesem Fall dürfte es auf eine Ausübung des Wahlrechts wohl nicht an-kommen. Ob der Nacherfüllungsanspruch des K hier tatsäch-lich auf die Nachbesserung beschränkt ist, kann indes ebenso offen bleiben, wie eine generelle Entscheidung zwischen den beiden Ansichten in Bezug auf die Voraussetzungen der Fälligkeit des Nacherfüllungsanspruchs. Denn nach beiden Ansichten setzt die Fälligkeit eines Nacherfüllungsanspruchs des K jedenfalls ein an den V gerichtetes Nacherfüllungs- begehren voraus, an dem es hier fehlt. Ein Nacherfüllungs- anspruch des K gegen V wäre somit nach beiden Ansichten noch nicht fällig.

Nach teilweise vertretener Ansicht kommt ein Zurück- behaltungsrecht aus § 320 BGB in diesem Stadium – also be- vor der Käufer ein (ordnungsgemäßes) Nacherfüllungsbegeh-ren an den Verkäufer gerichtet hat – nicht in Betracht.55 Nach der wohl herrschenden Meinung soll der Käufer, solange der Verkäufer nicht seiner Nacherfüllungspflicht nachgekommen ist, nach § 320 BGB vorgehen können.56 Für ein Zurück- behaltungsrecht spricht, dass dem Käufer grds. eine angemes-sene Überlegungsfrist gewährt werden sollte, binnen derer er die Bezahlung des Kaufpreises verweigern können muss, ohne sich für einen Rechtsbehelf entscheiden zu müssen.57 Aus diesem Grund gehen auch diejenigen, die eine Anwend-barkeit des § 320 BGB in derartigen Fällen ablehnen, davon aus, dass hier stattdessen eine besondere Mängeleinrede be-steht, etwa analog derjenigen aus § 438 Abs. 4 BGB.58 Eine solche Analogie erscheint jedoch überflüssig, da eine entspre- chende Auslegung von § 320 BGB bereits zum gewünschten Ergebnis führt. Der Wortlaut des § 320 BGB deckt jedenfalls auch die hier in Rede stehende Konstellation unproblematisch ab. Es ist somit der wohl h.M. zu folgen und davon auszu- gehen, dass § 320 BGB auch dann anwendbar ist, wenn der (mögliche) Nacherfüllungsanspruch mangels Nacherfüllungs- verlangen bzw. Auswahlentscheidung noch nicht fällig ist. IV. Kein Ausschluss des Zurückbehaltungsrechts nach § 320 Abs. 2 BGB Ein Zurückbehaltungsrecht des K könnte allerdings nach § 320 Abs. 2 BGB ausgeschlossen sein. Demnach kann die Gegenleistung, sofern die andere Seite teilweise geleistet ist, nicht verweigert werden, wenn die Verweigerung nach den Umständen, insbesondere wegen verhältnismäßiger Gering-fügigkeit des rückständigen Teils, gegen Treu und Glauben verstoßen würde. Aus der Vorschrift ergibt sich, dass grds. auch im Falle der Teil- bzw. Schlechtleistung das Zurückbe-

54 Ausführlich zum Meinungsstand Höpfner (Fn. 51), § 439 BGB Rn. 92–99. 55 Vgl. Rüfner (Fn. 7), § 320 Rn. 41, 43. 56 Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 320 Rn. 4; Faust (Fn. 10), § 437 Rn. 172. 57 Rüfner (Fn. 7), § 320 Rn. 42. 58 Rüfner (Fn. 7), § 320 Rn. 42.

Anfängerklausur: Displayschaden ZIVILRECHT

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haltungsrecht in vollem Umfang besteht.59 Nur wenn beson-dere Umstände vorliegen, die die vollumfängliche Zurück- behaltung treuwidrig erscheinen lassen, soll ein bloß anteili-ges Zurückbehaltungsrecht bestehen.60 Dies soll insbesondere im Falle der verhältnismäßigen Geringfügigkeit der Fall sein.61 Jedoch ist auch zu berücksichtigen, dass § 320 Abs. 1 BGB dem Zurückbehaltungsberechtigten ein Druckmittel zur Durch-setzung seiner Ansprüche gegen den Zurückbehaltungsgegner an die Hand geben soll.62 Da die Notebooks erhebliche Schä-den am Display haben, ist dementsprechend auch unter Be-rücksichtigung des Umstands, dass der gesamte Kaufpreis von K zurückbehalten wird, keine verhältnismäßige Gering-fügigkeit des ausgebliebenen Leistungsteils anzunehmen. Auch sonstige Umstände, aus denen sich eine Treuwidrigkeit der Zurückbehaltung ergibt, sind nicht ersichtlich. Das Zurück-behaltungsrecht des K könnte ist somit nicht nach § 320 Abs. 2 BGB ausgeschlossen. D. Ergebnis K kann die Kaufpreiszahlung nach § 320 BGB zurückbehal-ten, bis V seiner Pflicht zur mangelfreien Leistung des Note-books, welches K seinem Neffen schenken wollte, bewirkt hat. V kann von K (derzeit) die Zahlung des Kaufpreises der beiden Notebooks aus § 433 Abs. 2 Var. 1 BGB nicht verlan-gen.

59 Emmerich (Fn. 56), § 320 Rn. 56. 60 Emmerich (Fn. 56), § 320 Rn. 55. 61 Emmerich (Fn. 56), § 320 Rn. 56. 62 Vgl. Rüfner (Fn. 7) § 320 Rn. 60.

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Examensklausur: „Du darfst hier (erstmal) nicht weg!“ – Teil 1* Von Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff, Wiss. Mitarbeiterin Natalia Babiak, RA Dr. Robert Tietze, Bayreuth** Sachverhalt Spätestens Mitte November fangen regelmäßig in Bayreuth und andernorts die Weihnachtsvorbereitungen an – für man-chen eine Freude, für andere ein Graus. Albrecht Aue (A) kann zu den „anderen“ gezählt werden, denn er hält rein gar nichts von diesem christlichen Brauch. Verärgert und provo-ziert von einem Kumpel ließ er sich Mitte November nach einem verlorenen Schafkopf-Turnier in einem Bayreuther Wirtshaus zu folgender Aussage hinreißen: „Ihr werdet euch noch umschauen – ihr mit euren christlichen Gewohnheiten.“ In der kreisfreien Stadt Bayreuth sind As extreme Ansichten bereits bekannt; insbesondere, dass A eine eigenwillige Aus-legung des Korans vertritt, nach der die Nichtgläubigen auf der Erde kein Lebensrecht hätten. Geistige Inspiration erhält er nicht in Bayreuth selbst, sondern im Rahmen der wöchent-lichen Abendgebete in Berlin, zu denen er regelmäßig fährt und meist einige Tage dort verbleibt. In den anschließenden Gesprächen nach dem Abendgebet trifft er sich häufig mit einem eingeschworenen Kreis, in dem der Glaubensführer der Gruppe zum vernichtenden Kampf gegen die Nichtgläu-bigen aufruft. Die Nichtgläubigen seien vor allem im Herzen ihres sündigen Lebens zu treffen, d.h. bei ihren fehlgeleiteten Vergnügungsveranstaltungen wie Fußballspielen, Einkaufs-zentren und Weihnachtsmärkten.

Als Bernd Bissig (B), ein Mitglied genau dieser Gruppe, ein erfolgreiches Selbstmordattentat in der Stadt M durch-führt, und A in dem eingeschworenen Kreis verlautbaren lässt, er werde der Nächste sein, und dies nach außen dringt, erhebt sich in Bayreuth Unmut gegen den A. Als A dann auch noch in der städtischen Bibliothek Bücher ausleiht, aus denen man bei entsprechender Findigkeit unbestreitbar die Grundstruktur für den Bau biologischer Bomben ableiten kann, platzt der Oberbürgermeisterin Olga Ober (O), die auch von seiner Aus-sage im Bayreuther Wirtshaus erfahren hat, der Kragen, und sie ruft bei der zuständigen Polizeivollzugsdienststelle an. Diese müsse nun endlich einmal etwas gegen A im zulässigen Rahmen unternehmen, damit die von ihm ausgehende Gefahr gebannt werde.

Als die mit dieser Aufgabe betraute Polizeivollzugsbeamtin Petra Peine (P), die den A gut kennt, ihn für ein klärendes Gespräch in seinem Bayreuther Wohnhaus aufsuchen will, sieht sie, wie A schwer bepackt mit vielen Paketen aus dem

* Dies ist der erste Teil einer Klausur, die im Sommersemes-ter 2019 in dem Examensklausurenkurs als zweite Klausur im Öffentlichen Recht an der Universität Bayreuth gestellt wor-den ist. ** Der Autor Prof. Dr. Wolff ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Recht der Umwelt, Technik und Informa-tion an der Universität Bayreuth; die Autorin Ass. jur. Babiak ist Wiss. Mitarbeiterin und Doktorandin an diesem Lehrstuhl; der Autor Dr. Tietze ist ehemaliger Wiss. Mitarbeiter und Doktorand dieses Lehrstuhls und praktizierender Rechts- anwalt.

gut ausgestatteten örtlichen Pflanzengeschäft herauskommt. Sie bittet daraufhin die Verkäuferin Viktoria Vertig (V) of-fenzulegen, was A gerade gekauft habe. V verweigert aber die entsprechende Auskunft, denn anders als P ist V der Auf-fassung, keine Aussagepflicht zu haben. Daraufhin lädt P die V für den nächsten Tag nach Geschäftsschluss auf die Dienststelle vor. Dort offenbart V, sichtlich beeindruckt von dem Dienstbetrieb, den Einkauf des A. Es ergibt sich, dass A ausschließlich pflanzliche Produkte gekauft hat, die geeignet sind, eine biologische Bombe von erheblicher Durchschlags-kraft zu bauen.

Schockiert von dieser Information erlässt P nunmehr eine umfangreiche polizeirechtliche Verfügung gegen den A, die unter anderem ein Aufenthaltsgebot (Nr. 1) sowie eine Melde-anordnung (Nr. 2) enthält und dem A am 22.11.2018 be-kanntgegeben wird. Nach Nr. 1 wird A versagt, ab Bekannt-gabe dieses Bescheides bis zum 7.1.2019 das Stadtgebiet Bayreuth zu verlassen. Nach Nr. 2 habe er weiterhin die Ver-pflichtung, sich jeden Abend zwischen 17:00 bis 20:00 Uhr unter Vorlage eines gültigen Personaldokuments (z.B. des amtlichen Lichtbildausweises) bei einer Polizeidienststelle in Bayreuth zu melden. Zur Begründung der beiden Maßnah-men wird ausgeführt: Art. 16 Abs. 2 S. 1 PAG ermögliche die in Nr. 1 und Nr. 2 des Schreibens aufgeführten polizeirechtli-chen Maßnahmen. Aufgrund der bekannt gewordenen Tatsa-chen liege der Verdacht nahe, dass er (A) einen Anschlag verüben wolle. Allerdings seien weder der Ort noch die Zeit bereits bekannt. Sein Verhalten begründe aber die konkrete Wahrscheinlichkeit, dass er einen Anschlag auf eine Massen-veranstaltung plane und er mit der Vorbereitung bereits be-gonnen habe. Die getroffenen Maßnahmen hätten den Zweck, seinen räumlichen Bewegungskreis einzuschränken und so das Risiko für die gefährdeten Orte zu reduzieren. Weiter müsse ihm insbesondere der Zugang zum Kreis in Berlin versperrt werden, weil er von dort die Kraft und Inspiration für seine Pläne bekomme. Die Meldeauflage solle zudem die Wirksamkeit des Aufenthaltsgebots sicherstellen und ist deswegen zusätzlich erforderlich.

Nach Nr. 3 der polizeilichen Verfügung werden die Nr. 1 und die Nr. 2 für sofort vollziehbar erklärt, da es um den Schutz hochwertiger Rechtsgüter gehe. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung wird sodann ausreichend begründet.

A ist von diesem Schreiben wenig begeistert und fühlt sich in seinen Rechten verletzt. Von ihm gehe doch keine Gefahr aus, sodass die Polizei gar nicht gegen ihn vorgehen dürfe. Ohne das Vorliegen einer Gefahr sei ein rechtliches Verhaltensgebot wohl kaum zulässig. Die Verfügung sei zu- dem unverhältnismäßig und es könne nicht sein, dass er nun gehindert sei, teilweise in Berlin zu leben bzw. mehrere Tage in Berlin zu verbringen. Außerdem ginge es wohl nicht an, ihm seinen Gottesdienstgang zu verbieten. Weiter habe P gar kein eigenes Ermessen ausgeübt, sondern habe ausschließlich der O nach dem Mund geredet.

Da er nächste Woche (der Woche vor dem ersten Advent) wieder nach Berlin fahren möchte, erhebt er vor dem zustän-

Examensklausur: „Du darfst hier (erstmal) nicht weg!“ – Teil 1 ÖFFENTLICHES RECHT

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digen Gericht form- und fristgerecht Klage und stellt gleich-zeitig einen formgerechten Antrag, ihm die Reise bis zur Entscheidung in der Sache zu gestatten. Vor Gericht trägt der Freistaat Bayern vor, man habe sich bei der Bezeichnung der Rechtsgrundlage für die Meldeanordnung (Nr. 2 der polizei-lichen Verfügung) leider geirrt, man habe diesbezüglich Art. 16 Abs. 2 S. 2 PAG und nicht S. 1 gemeint. Weiter habe man bemerkt, dass man A zwar nicht vorher angehört habe. Er habe sich im Rahmen der Klageschrift aber nun zur Sache geäußert und man sei vor dem Hintergrund dieses Vorbrin-gens zum Ergebnis gekommen, den Bescheid unverändert aufrechterhalten zu wollen. Aufgabe Frage 1 Sie sind gegenwärtig Referendar*in beim Richter am Verwal-tungsgericht Robert Ratlos (R). Dieser bittet Sie, in einem Rechtsgutachten, das auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen – notfalls im Rahmen eines Hilfsgutachtens – eingeht, die Er-folgsaussichten des Eilantrags zu prüfen, über welchen er nächsten Montag zu entscheiden hat. Er äußert Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlagen, weist aber darauf hin, dass auf die Bayerische Verfassung bei Ihrer Prüfung nicht einzugehen ist. Gewichtung: 90 %. Frage 2 Klären Sie rechtsgutachterlich, ob V eigentlich zur Aussage gegenüber der P hätte verpflichtet werden können. Gewich-tung: 10 %. Auszug aus dem PAG Art. 11 PAG (1) Die Polizei kann die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Fall bestehende Gefahr für die öffentli-che Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren, soweit nicht die Art. 12 bis 65 die Befugnisse der Polizei besonders regeln.

[…] (3) 1Die Polizei kann unbeschadet der Abs. 1 und 2 die

notwendigen Maßnahmen treffen, um den Sachverhalt aufzu-klären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern, wenn im Einzelfall

1. das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet oder

2. Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen,

wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher In-tensität oder Auswirkung zu erwarten sind (drohende Gefahr), soweit nicht die Art. 12 bis 65 die Befugnisse der Polizei besonders regeln. 2Bedeutende Rechtsgüter sind:

1. der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes,

2. Leben, Gesundheit oder Freiheit, 3. die sexuelle Selbstbestimmung, 4. erhebliche Eigentumspositionen oder

5. Sachen, deren Erhalt im besonderen öffentlichen Inte-resse liegt. Art. 12 PAG 1Auf Befragen durch die Polizei ist eine Person verpflichtet, Name, Vorname, Tag und Ort der Geburt, Wohnanschrift und Staatsangehörigkeit anzugeben, wenn anzunehmen ist, daß sie sachdienliche Angaben machen kann, die zur Erfüllung einer bestimmten polizeilichen Aufgabe erforderlich sind. 2Zu weiteren Auskünften gegenüber der Polizei ist die Person nur verpflichtet, soweit für sie gesetzliche Handlungspflich-ten bestehen. 3Für die Dauer der Befragung kann die Person angehalten werden. Art. 16 Abs. 2 PAG […] (2) 1Die Polizei kann zur Abwehr einer Gefahr oder einer drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut einer Person verbieten, ohne polizeiliche Erlaubnis

1. zu bestimmten Personen oder zu Personen einer be-stimmten Gruppe Kontakt zu suchen oder aufzunehmen (Kontaktverbot) oder

2. wenn die Begehung von Straftaten droht, a) sich an bestimmte Orte oder in ein bestimmtes Gebiet

zu begeben (Aufenthaltsverbot) oder b) ihren Wohn- oder Aufenthaltsort oder ein bestimmtes

Gebiet zu verlassen (Aufenthaltsgebot). 2Unter den in Satz 1 Nr. 1 genannten Voraussetzungen

kann sie eine Person auch verpflichten, in bestimmten zeitli-chen Abständen bei einer Polizeidienststelle persönlich zu er- scheinen (Meldeanordnung). 3Die Anordnungen dürfen die Dauer von drei Monaten nicht überschreiten und können um jeweils längstens drei Monate verlängert werden. 4Die Vor-schriften des Versammlungsrechts bleiben unberührt. Lösungsvorschlag zu Frage 1 A hat Klage gegen die polizeirechtliche Verfügung erhoben und sucht gleichzeitig um einstweiligen Rechtsschutz nach. Der für den Fall zuständige Richter R. bittet, die Erfolgs- aussichten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu über-prüfen. Der dahingehende Antrag des A hat Aussicht auf Er- folg, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen und soweit der Antrag begründet ist. A. Sachentscheidungsvoraussetzungen des Antrags I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs Der Rechtsweg des Eilverfahrens richtet sich nach dem Rechtsweg in der Hauptsache, für welche der Verwaltungs-rechtsweg eröffnet sein müsste. Mangels aufdrängender Son-derzuweisung ist der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet, wenn eine öffentlich-rechtliche Streitig-keit nichtverfassungsrechtlicher Art vorliegt und diese Strei-tigkeit nicht einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen ist.

Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit liegt nach der Son-derrechts- bzw. modifizierten Subjekttheorie vor, wenn die streitentscheidenden Normen zumindest auf einer Seite aus-schließlich die öffentliche Hand gerade als Hoheitsträger ver-

ÜBUNGSFÄLLE Heinrich Amadeus Wolff/Natalia Babiak/Robert Tietze

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pflichten oder berechtigen.1 A wendet sich gegen die polizei-rechtliche Verfügung, dabei gegen das Aufenthaltsgebot und die Meldeauflage. Streitentscheidend sind daher die Vorschrif-ten des PAG (insbesondere Art. 16 Abs. 2 PAG), welche einseitig den Hoheitsträger staatlicher Gewalt in seiner Funk-tion berechtigen und verpflichten. Zudem streiten keine Ver-fassungsorgane bzw. „unmittelbar am Verfassungsleben be- teiligte Rechtsträger“ über Rechte und Pflichten aus der Ver-fassung (doppelte Verfassungsunmittelbarkeit).2 Eine verfas-sungsrechtliche Streitigkeit liegt mithin nicht vor. Die Strei-tigkeit ist auch keinem anderen Gericht zugewiesen (abdrän-gende Sonderzuweisung), insbesondere ist hier ein präventi-ves und kein repressives Handeln der Polizei gegeben, sodass § 23 EGGVG ausscheidet. Der Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet. II. Statthaftigkeit Die statthafte Antragsart richtet sich gem. §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO nach dem Begehren des Antragsstellers. A begehrt einstweiligen Rechtsschutz, sodass zu klären ist, welche An- tragsart statthaft ist. Einstweiliger Rechtsschutz kann nach § 123 VwGO bzw. nach §§ 80a, 80 Abs. 5 VwGO3 gewährt werden. Gem. § 123 Abs. 5 VwGO ist die einstweilige An-ordnung gem. § 123 Abs. 1 VwGO gegenüber dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach §§ 80, 80a VwGO sub-sidiär. Das vorrangige Verfahren ist dann einschlägig, wenn es um die Wiederherstellung oder Anordnung der aufschie-benden Wirkung des Rechtsbehelfs geht. Dies ist wiederum dann der Fall, wenn in der Hauptsache eine Anfechtungs- klage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft wäre.

A ist vorliegend Adressat der polizeirechtlichen Verfü-gung zum einen wird ihm ein Aufenthaltsgebot, zum anderen die Verpflichtung, sich jeden Tag bei einer Polizeidienststelle in Bayreuth zu melden (Meldeanordnung), auferlegt. Diese Maßnahmen sind Verwaltungsakte (VA) nach Art. 35 S. 1 BayVwVfG, welche A beseitigen möchte. Dies ist nur im Wege der Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO möglich. Der vorläufige Rechtsschutz richtet sich deswegen nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO. Der VA ist des Weiteren für sofort vollziehbar erklärt worden (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO); der Anfechtungsklage des A. kommt daher keine aufschiebende Wirkung zu. Diese möchte der A gerade mit seinem einstweiligen Rechtsschutzantrag erreichen, sodass er die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Anfechtungsklage begehrt.

Statthaft ist mithin der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO.

1 Vgl. Erbguth/Guckelberger, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 2018, § 5 Rn. 10. 2 Zur doppelten Verfassungsunmittelbarkeit: Erbguth/Guckel- berger (Fn. 1), § 5 Rn. 25. 3 Oder § 47 Abs. 6 VwGO, der hier aber eindeutig nicht ein-schlägig ist.

III. Antragsbefugnis Der A müsste ferner gem. § 42 Abs. 2 VwGO analog antrags- befugt sein4, d.h. er muss geltend machen können, durch das Aufenthaltsgebot und die Meldeanordnung in eigenen Rech-ten verletzt zu sein. Dafür müsste zumindest die Möglichkeit der Verletzung bestehen (Möglichkeitstheorie). A ist Adressat dieser für ihn belastenden Maßnahmen (Adressatentheorie), sodass eine Verletzung zumindest in Art. 2 Abs. 1 GG nicht ausgeschlossen ist. Ferner besteht die Möglichkeit, dass A in seinem Freizügigkeitsrecht nach Art. 11 GG, seiner Fort- bewegungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG oder seiner Religionsfreiheit nach Art. 4 GG verletzt ist. Dies ist zumin-dest nicht völlig ausgeschlossen. A ist folglich antragsbefugt. IV. Beteiligtenfähigkeit A ist als Antragsteller gem. § 63 Nr. 1 VwGO analog Betei-ligter und als natürliche Person nach § 61 Nr. 1 Alt. 1 VwGO i.V.m. § 1 BGB beteiligtenfähig sowie prozessfähig nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.V.m. §§ 2, 104 ff. BGB.

Der Freistaat Bayern ist als juristische Person gem. § 63 Nr. 2 VwGO analog Beteiligter (Polizeiinspektion ist Landes- behörde [siehe Art. 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 POG i.V.m. Art. 1 Abs. 2 POG], deren Träger der Freistaat Bayern ist). Der Freistaat Bayern ist nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO i.V.m. Art. 1 BV beteiligtenfähig und wird gem. § 62 Abs. 3 VwGO durch das Polizeipräsidium Oberfranken mit Sitz in Bayreuth5 vertreten (§ 3 Abs. 2 S. 6 LABV i.V.m. Art. 4 Abs. 2 Nr. 1 POG). V. Zuständiges Gericht Gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO i.V.m. § 45 VwGO, § 52 Nr. 3 VwGO6 i.V.m. Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 AGVwGO ist das Gericht der Hauptsache, mithin das VG Bayreuth sachlich und örtlich zuständig. VI. Ordnungsgemäße Antragsstellung Eine ordnungsgemäße Antragsstellung analog der §§ 81, 82 VwGO kann unterstellt werden. VII. Rechtsschutzinteresse Fraglich ist, ob der A. zuerst einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde hätte stellen müssen, bevor er gerichtlichen Eilrechtsschutz begehrt. Ein solcher Antrag ist im Hinblick auf § 80 Abs. 4, Abs. 6 S. 1 VwGO denkbar, ist aber wegen § 80 Abs. 6 VwGO nur bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten (Verweis auf § 80 Abs. 2 4 Nur derjenige, der auch in einem Hauptsacheverfahren klagebefugt wäre, soll einstweiligen Rechtsschutz beantragen können. Vgl. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 16. Aufl. 2019, § 15 Rn. 540. 5 § 1 Abs. 1 DVPOG i.V.m. Anlage 1 zur DVPOG Nr. 6 (Ziegler/Tremel Nr. 581). 6 Zur Wiederholung: die örtliche Zuständigkeit ist in der Reihenfolge: Nr. 1, Nr. 4, Nr. 2, Nr. 3, Nr. 5 zu prüfen. Als Eselsbrücke merken Sie sich: (Nr.) 1 + (Nr.) 4 = 5; (Nr.) 2 + (Nr.) 3 = 5; 5 = 5.

Examensklausur: „Du darfst hier (erstmal) nicht weg!“ – Teil 1 ÖFFENTLICHES RECHT

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S. 1 Nr. 1 VwGO) zwingend. In den übrigen Fällen bedarf es eines solchen Antrags nicht.

Anhaltspunkte für einen unzulässigen Hauptsachrechts-behelf sind nicht ersichtlich. Insbesondere liegt keine Verfris-tung vor (mangels Sachverhaltsangaben). Auch ein Wider-spruchsverfahren wäre vorab nicht notwendig, da dieses in Bayern grundsätzlich entfällt (§ 68 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 VwGO i.V.m. Art. 15 Abs. 2 AGVwGO).7 VIII. Zwischenergebnis Die Sachentscheidungsvoraussetzungen des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO liegen vor. Antragshäufung Es liegt ein Fall der objektiven Antragshäufung nach § 44 VwGO analog vor. Es ist zwar nur ein „Schreiben“, ein Be-scheid ergangen, allerdings wurden mehrere Maßnahmen (das Aufenthaltsgebot, die Meldeanordnung) ausgesprochen, die jede für sich angegriffen werden müsste. Beide Maßnahmen wurden für sofort vollziehbar erklärt, sodass eine Wieder- herstellung der aufschiebenden Wirkung in Bezug auf jede Maßnahme notwendig ist. Das Begehren des Antragstellers richtet sich gegen denselben Antragsgegner (Freistaat Bay-ern), steht im Zusammenhang (selber Grund: Terrorgefahr/ Anschlagsgefahr) und es ist auch dasselbe Gericht (VG Bay-reuth als Gericht der Hauptsache) zuständig. B. Begründetheit Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wir-kung nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO ist begründet, wenn er sich gegen den richtigen Antragsgegner richtet und ent- weder die Vollziehungsanordnung formell rechtswidrig ist oder das private Interesse an der Wiederherstellung der auf-schiebenden Wirkung das öffentliche Interesse an der soforti-gen Vollziehung überwiegt. Dabei hat das Gericht im Rah-men der Interessenabwägung neben den Erfolgsaussichten in der Hauptsache die gesetzgeberische Wertentscheidung, ins- besondere das Regel-/Ausnahmeverhältnis von § 80 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1–3 bzw. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO sowie Art. 19 Abs. 4 GG zu beachten.8

7 Nicht erforderlich ist eine Darstellung, ob der A bereits Anfechtungsklage erhoben haben müsste, da er Anfechtungs-klage und einstweiligen Rechtsschutzantrag laut Sachverhalt gleichzeitig stellt. Allgemein gilt: Der Antrag ist nach § 80 Abs. 5 S. 2 VwGO schon vor Erhebung der Anfechtungs- klage zulässig. Diese Problematik stellt sich daher regel- mäßig nur, wenn ein Widerspruchsverfahren durchzuführen ist, sodass dann fraglich ist, ob vor Erhebung des Wider-spruchs bereits ein Antrag bei Gericht gestellt werden darf. Siehe hierzu Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 80 Rn. 137 ff.; Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 36. Lfg., Stand: Februar 2019, § 80 Rn. 460 f. 8 Puttler, in: Sodan/Ziekow, Großkommentar VwGO, 5. Aufl. 2018, § 80 Rn. 138.

I. Richtiger Antragsgegner Der Antrag ist gegen den richtigen Antragsgegner zu richten. Dieser ergibt sich aus § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO analog, so-dass die Körperschaft, gegen die in der Hauptsache auch die Klage zu richten ist, richtiger Antragsgegner ist; vorliegend ist dies der Freistaat Bayern (siehe Art. 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 POG i.V.m. Art. 1 Abs. 2 POG als Rechtsträger der Landes-polizei).

Hinweis: Zur Einordnung des § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO werden unterschiedliche Ansichten vertreten. Das BVerw- G9 und verschiedene OVGe10 sehen § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO als Regelung über die Passivlegitimation an, die zu Beginn der Begründetheit der Klage zu prüfen sei. Die Passivlegitimation sei ein Problem des materiellen Rechts; sie betreffe die Frage, ob der Beklagte befugt sei, über den Streitgegenstand zu verfügen.11 Wird das verneint, so ist die Klage als unbegründet abzuweisen. Eine Minder-heitsmeinung12 wertet § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO als eine Regelung der passiven Prozessführungsbefugnis wegen des Gesetzeswortlauts und der Systematik, sodass eine Nichtbeachtung zur Abweisung der Klage führt, weil sie sich gegen den falschen Beklagten richtet und damit un-zulässig ist. Da der nach dem materiellen Recht Ver-pflichtete in der Regel auch der für den Prozess Verfü-gungsbefugte ist, hat der Meinungsstreit in der Praxis nur ausnahmsweise Bedeutung.13 In Bayern wird der h.M. ge-folgt und die Prüfung erfolgt im Rahmen der Begründet-heit.

II. Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung 1. Zuständige Behörde Die Zuständigkeit zur Anordnung der sofortigen Vollziehung liegt gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO bei der Behörde, die den VA erlassen hat. Hier folglich die Polizeiinspektion Bay-reuth Stadt.

Hinweis: Hier kann auch die Zuständigkeit der Polizei- inspektion Bayreuth Stadt ausführlich geprüft werden – hierzu siehe unten III. 1. b) aa).

9 BVerwG NVwZ-RR 1990, 44 (44); BVerfG NVwZ 1999, 296 (296); BVerfG NVwZ-RR 2003, 41 (42); BVerfG Beck- RS 2011, 53362 Rn. 9. 10 Bspw. OVG Magdeburg BeckRS 2008, 32542; OVG Müns-ter BeckRS 2010, 45031; VGH Mannheim BeckRS 2011, 48636; BayVGH NVwZ 2014, 163 (164 Rn. 27); VGH BW NVwZ-RR 2018, 358 Rn. 19. 11 Meissner/Schenk, in: Schoch/Schneider/Bier (Fn. 7), § 78 Rn. 15 ff.; Kinz, in: Posser/Wolff, Beck’scher Online-Kom- mentar zur VwGO, 49. Lfg., Stand: 1.4.2019 VwGO, § 78 Rn. 2. Ebenfalls vertreten von Rozek, JuS 2007, 601 (601 ff.). 12 VGH Kassel NVwZ-RR 2005, 519 (519 f.); Schenke (Fn. 4), § 15, Rn. 545 f. 13 Meissner/Schenk, (Fn. 11), § 78 Rn. 14; Kinz (Fn. 11), § 78 Rn. 3.

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2. Verfahren Fraglich ist, ob hinsichtlich der Anordnung der sofortigen Vollziehung selbst eine gesonderte Anhörung stattzufinden hat. Hiergegen sprechen mehrere Gründe: Zum einen stellt die Vollziehungsanordnung keinen VA dar, ist der Bestandskraft nicht zugänglich und ist auch nicht selbstständig vollstreck-bar, sodass Art. 28 BayVwVfG nicht anwendbar ist. Des Weiteren schließt die Vollziehungsanordnung kein Verwal-tungsverfahren im Sinne des Art. 9 BayVwVfG ab. Letztlich begleitet die Vollziehungsanordnung lediglich den Haupt-verwaltungsakt und trifft selbst keine materielle Regelung. Zum anderen regeln § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO und § 80 Abs. 3 VwGO die Voraussetzungen einer Vollziehungs- anordnung abschließend. Eine Anhörungspflicht ist dort nicht vorgesehen. Auch vom Sinn und Zweck des Anhörungserfor-dernisses her bedarf es wohl keiner gesonderten Anhörung, das nach § 80 Abs. 5 VwGO-Verfahren schützt den Bürger ausreichend.14

Eine Anhörungspflicht ergibt sich nicht aus dem Rechts-staatsgebot, außer die Vollziehungsanordnung kommt einer überraschenden behördlichen Entscheidung gleich. Das wäre dann der Fall, wenn die Vollziehungsanordnung dem VA nachträglich angefügt worden wäre.15 Hier wurde sie zusam-men mit dem Aufenthaltsgebot und der Meldeanordnung in einer Verfügung erlassen.

Eine Anhörung hinsichtlich der Vollziehungsanordnung ist folglich nicht erforderlich. 3. Form Gem. § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO muss die Behörde das beson-dere Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit schriftlich begründen. Die Begründung muss zum Ausdruck bringen, welche Gründe die Behörde zur Anordnung der sofortigen Vollziehung veranlasst hat, wobei die Gründe über die Grün-de für den Erlass des Grundverwaltungsaktes hinausgehen müssen.16 Sie darf sich andererseits auch nicht in der Wieder-holung der Begründung des VA oder in allgemeinen Floskeln erschöpfen. Laut Sachverhalt hat die Polizeiinspektion vor-liegend die Anordnung der sofortigen Vollziehung zum Schutz von hochrangigen Rechtsgütern erlassen und hat dies auch ausreichend begründet. Das Formerfordernis ist gewahrt. 4. Zwischenergebnis Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist rechtmäßig.

14 Hierzu allgemein: Gersdorf, in: Posser/Wolff, Beck’scher Online-Kommentar zur VwGO, 49. Lfg., Stand: 1.7. 2018, § 80 Rn. 78–83. 15 Siehe hierzu Gersdorf (Fn. 14), § 80 Rn. 82 f.; Schoch (Fn. 7), § 80 Rn. 259. 16 Hintergrund: Die Anordnung der sofortigen Vollziehung soll eine Ausnahmesituation darstellen. Mit der gesonderten Begründung soll der Behörde dies vor Augen geführt werden, ihr kommt mithin Warnfunktion zu. Vgl. Gersdorf (Fn. 14), § 80 Rn. 86.

III. Interessenabwägung Das VG Bayreuth wird die aufschiebende Wirkung der An-fechtungsklage wiederherstellen, wenn es im Rahmen einer eigenen Interessenabwägung zu dem Ergebnis gelangt, dass das Suspensivinteresse des A das öffentliche Interesse am Sofortvollzug überwiegt. Maßgeblich für diese Beurteilung sind zunächst die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechts- behelfs. Stellt sich bei summarischer Prüfung heraus, dass A mit seiner Anfechtungsklage wahrscheinlich Erfolg haben wird, besteht i.d.R. kein Interesse am Sofortvollzug. Sollten die Erfolgsaussichten offen sein, ist auf zweiter Stufe eine Abwägungsentscheidung notwendig, deren Einzelheiten hier offenbleiben können. Schließlich kann in den Fällen des § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO der Antrag Aussicht auf Erfolg haben, wenn zwar keine ernstlichen Zweifel an der Recht- mäßigkeit des VA bestehen, jedoch kein besonderes öffentli-ches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht, mithin ein Dringlichkeitsinteresse fehlt.17

Abzustellen ist daher zunächst auf die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage (bei summarischer Prüfung). Zulässig-keitsvoraussetzungen der Anfechtungsklage entsprechen weit-gehend denen eines § 80 VwGO-Antrags und liegen hier vor. Fraglich ist aber, ob die Anfechtungsklage auch soweit be-gründet ist, d.h. die polizeiliche Verfügung mit zwei Maß-nahmen rechtswidrig ist und der A dadurch in eigenen Rech-ten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Vorliegend ist zwischen dem Aufenthaltsgebot und der Meldeanordnung zu unterscheiden. Die getroffenen Maßnah- men wären rechtmäßig, wenn sie auf einer Rechtsgrundlage beruhen und formell und materiell rechtmäßig sind. 1. Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsgebots (Nr. 1) Das Aufenthaltsgebot wäre rechtmäßig, wenn es auf einer (verfassungsgemäßen) Rechtsgrundlage beruht sowie formell als auch materiell rechtmäßig wäre. a) Eingriffsgrundlage Ermächtigungsgrundlage des Aufenthaltsgebots ist Art. 16 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 lit. b PAG. Danach kann die Polizei zur Abwehr einer Gefahr oder einer drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut einer Person verbieten, ohne polizeili-che Erlaubnis wenn die Begehung von Straftaten droht, ihren Wohn- oder Aufenthaltsort oder ein bestimmtes Gebiet zu verlassen (Aufenthaltsgebot). Das Aufenthaltsgebot wurde laut Begründung auf Art. 16 Abs. 2 S. 1 PAG gestützt.

Hinweis: Hinsichtlich der Meldeanordnung wurde die fal-sche Rechtsgrundlage angegeben, dies sollte hinsichtlich des Aufenthaltsgebots noch nicht diskutiert werden.

Diese Rechtsgrundlage müsste verfassungsgemäß sein.

17 BVerwG NVwZ 1995, 587 (590); OVG Schleswig NVwZ 1992, 687 (687 f.); Puttler (Fn. 8), § 80 Rn. 156 ff.; Gersdorf (Fn. 14), § 80 Rn. 177–186; Schoch (Fn. 7), § 80 Rn. 386 f.

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Hinweis: Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Rechtsgrundlage, auf der der VA ergangen ist, können ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines VA be-gründen. Im Falle der Überzeugung von der Verfas-sungswidrigkeit der Rechtsnorm und der Entscheidungs-erheblichkeit im Hauptsacheverfahren müsste nach Art. 100 Abs. 1 GG die Norm vorgelegt werden. Im Rahmen der Entscheidung des Gerichts im vorläufigen Recht-schutzverfahren kann die Frage des Vorlagepflicht auf-kommen.18 Durchgesetzt hat sich die Auffassung, dass die Fachgerichte an der Gewährung vorläufigen Rechtsschut-zes nicht durch Art. 100 Abs. 1 GG gehindert seien, dass sie die einem VA zu Grunde liegende Gesetzesvorschrift für verfassungswidrig erachteten, wenn dies im Interesse eines wirksamen Rechtsschutzes geboten sei (z.B. schwe-re und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile) und die Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen werde.19 Damit wird der Konflikt zw. Art. 100 Abs. 1 GG (Verwerfungsmonopol des BVerfG) und Art. 19 Abs. 4 GG (effektiver Rechtsschutz) gelöst. Die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG kann im anschließenden Hauptsache-verfahren erfolgen.

aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit (1) Gesetzgebungskompetenz Der Freistaat Bayern müsste zum Erlass einer solchen Rege-lung befugt gewesen sein. Grundsätzlich liegt die Gesetz- gebungskompetenz nach Art. 70 GG bei den Ländern; dies gilt aber nur, wenn das GG dem Bund nicht die Kompetenz zuschreibt. Hier könnte es sich um allgemeines Gefahren- abwehrrecht (Allgemeines Polizeirecht) handeln, welches den Ländern obliegt. Denkbar wäre aber auch, dass der Kompe-tenztitel „Freizügigkeit“ des Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 Var. 1 GG berührt ist. Dann wäre der Bund gesetzgebungsbefugt. Genau dieser Bereich könnte von der Regelung des Art. 16 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 lit. b PAG erfasst und damit eigentlich Bundes-kompetenz sein.

„Der kompetenzrechtliche Freizügigkeitsbegriff ist enger als derjenige der grundrechtlichen Gewährleistung in Art. 11 Abs. 1 GG, denn diese steht unter dem Vorbehalt des Geset-zes und nicht nur des Bundesgesetzes (Art. 11 Abs. 2 GG). Vor diesem Hintergrund ist anerkannt, dass allgemeine landes-rechtliche Regelungen über die Gewährleistung von Sicher-heit und Ordnung nicht unter die Kompetenzmaterie der „Freizügigkeit“ nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 GG fallen […]. Die Länder sind daher kompetenzrechtlich auch insoweit zur Verhütung und Unterbindung strafbarer Handlungen nach Maßgabe des allgemeinen Polizeirechts berechtigt, als sie dabei in das Grundrecht auf Freizügigkeit gemäß Art. 11 Abs. 1 GG eingreifen (vgl. BayVerfGH, Entsch. v. 2.8.1990 – Vf. 3 – VII/89 u.a. – NVwZ 1991, 664 [666]).“20

18 Siehe dazu: Puttler (Fn. 8), § 80 Rn. 134; Schenke (Fn. 4), § 26 Rn. 1094b ff.; Schoch (Fn. 7), § 80 Rn. 389–391. 19 BVerfG, NJW 1992, 2749 (2750); VGH München, Beck- RS 2015, 41067 Rn. 16. 20 BVerwGE 129, 142 (145 Rn. 26).

„Die Rechtspraxis der meisten Länder und die mittler- weile vorherrschende Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Schrifttum stehen demgegenüber auf dem Standpunkt, die Gesetzgebungskompetenz für die Freizügigkeit aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 GG erstrecke sich nicht auf die herkömmliche Regelungszuständigkeit der Länder im Bereich der Abwehr unmittelbarer Gefahren, also namentlich im Polizei-, Ord-nungs- und Katastrophenschutzrecht und stehe landesrechtli-chen Freizügigkeitsbeschränkungen auf sicherheitsrechtlicher Grundlage daher nicht entgegen. Dementsprechend enthalten die meisten neueren Polizeigesetze Regelungen zur Verhän-gung zeitlich befristeter Aufenthaltsverbote gegenüber Perso-nen, die aus ex-ante-Sicht in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat zu begehen drohen […]. Solche Ein-schränkung sind nach herrschender Sicht also Polizeirecht und nicht Freizügigkeitsrecht.“21

Die Gesetzgebungskompetenz lag mithin beim Freistaat Bayern.

Hinweis: Gute Bearbeiter*innen erkennen die Kompe-tenzproblematik, obwohl diese im Sachverhalt nicht aus-drücklich angesprochen wird. Eine detaillierte Auseinan-dersetzung kann insgesamt aber nicht erwartet werden.

(2) Verfahren und Form Das Verfahren und die Form von Landesgesetzen richtet sich nach der Landesverfassung und werden daher vom BVerfG nicht geprüft. Darüber hinaus sind hier auch keine Rechtsver-letzungen ersichtlich. bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit (1) Bestimmtheitsgebot Das Bestimmtheitsgebot müsste gewahrt sein. Der Grundsatz der Bestimmtheit dient „der Vorhersehbarkeit von Eingriffen für die Bürgerinnen und Bürger, einer wirksamen Begren-zung der Befugnisse gegenüber der Verwaltung sowie der Ermöglichung einer effektiven Kontrolle durch die Gerich-te“22. Die Verwendung auslegungsbedürftiger Begriffe – wie hier bspw. die Verwendung des Begriffs der „drohenden Ge- fahr“ – verstößt dabei nicht gegen diesen Grundsatz, solange die Auslegung unter Nutzung der juristischen Methodik zu bewältigen ist.23

Vorliegend bestehen Bedenken hinsichtlich der Verwen-dung des Begriffs der „drohenden Gefahr“. „Das Tatbe-standsmerkmal der drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut gebe der Exekutive und den Richtern infolge sei-ner Unklarheit eine zu große Auslegungs- und Zugriffsmacht.

21 Durner, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, 86. Lfg., Stand: Januar 2019, Art. 11 Rn. 128. 22 BVerfGE 141, 220 (265 Rn. 94); hinreichende Steuerung durch Gesetzgeber/hinreichende Prüfungsmaßstab für Ge-richte/Vorhersehbarkeit für Bürger. 23 Vgl. BVerfGE 31, 255 (264); 83, 130 (145); allgemein auch: Antoni, in: Hömig/Wolff, Handkommentar, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 12.

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Es lasse Eingriffe bereits bei vagen Vermutungen und nur an- genommenen Gefahrdrohungen zu.“24

Der Gesetzgeber selbst definiert in Art. 11 Abs. 3 S. 1 PAG, was er unter einer „drohenden Gefahr“ versteht und versucht damit, den Begriff handhabbar zu machen: Die Polizei kann unbeschadet der Abs. 1 und 2 des Art. 11 PAG die notwendigen Maßnahmen treffen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeu-tendes Rechtsgut zu verhindern, wenn im Einzelfall:

(1.) das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet oder

(2.) Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein sei-ner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen,

wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher In-tensität oder Auswirkung zu erwarten sind (drohende Gefahr).

Eine drohende Gefahr ist die Situation der Entstehung ei-ner Gefahr, wenn im Einzelfall entweder das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit be-gründet (Variante 1) oder Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen (Variante 2), wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind. Das bedeutet nicht eine Abkehr von der Bindung polizeili-cher Eingriffsbefugnisse an das Vorliegen einer Gefahr im polizeirechtlichen Sinn. „Die drohende Gefahr unterscheide sich von der konkreten Gefahr auch nicht dadurch, dass sie sich mit einem geringeren Grad an Wahrscheinlichkeit eines Schadens begnügen würde. Vielmehr würden lediglich unter strengen Voraussetzungen die Anforderungen an die Vorher-sehbarkeit des Kausalverlaufs im eng begrenzten Umfang zum Schutz bedeutender Rechtsgüter reduziert.“25

Bei der drohenden Gefahr ist der Kausalverlauf noch nicht so weit konkretisiert, dass man weiß, wann es bei un- gehindertem Verlauf der Dinge zu einem Schaden kommen wird, man weiß aber, dass ein solcher Eintritt nach allgemei-ner Erfahrung kommen wird, nur nicht wann und wo und der Schadenseintritt als ein Angriff zu qualifizieren ist. Der Normtext (Art. 11 Abs. 3 S. 1 PAG) unterscheidet zwei For-men der Konkretisierung.26 (a) Variante 1: Verdichtung bei den Personen (individuelles Verhalten) – Vagheit beim Sachverhalt (konkrete Wahr-scheinlichkeit) Für die erste Variante, reicht es aus, dass sich das mögliche Geschehen noch nicht einmal seiner Art nach konkretisieren lässt, andererseits das individuelle Vorverhalten einer Person

24 So in der Antragsbegründung vor dem BayVerfGH, Ent-sch. v. 7.3.2019 – Vf. 15-VII-18, Rn. 10 (juris). 25 So die Ansicht des BayLandtags im Antrag vor dem Bay- VerfGH, Entsch. v. 7.3.2019 – Vf. 15-VII-18, Rn. 29 (juris). 26 Möstl, BayVBl. 2018, 156 (158); unscharf Waechter, NVwZ 2018, 458 (460).

den Schluss darauf zulässt, dass sie bestimmte Straftaten oder Gefahrenhandlungen vornehmen wird.27 (b) Variante 2: Verdichtung bei dem Sachverhalt (Vorberei-tungshandlungen) – keine Konkretisierung bei den Personen, d.h. größere Vagheit Bei der Variante 2 soll die zulässige Vorverlagerung darin bestehen, dass bestimmte Tatsachen einen Schluss auf eine seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen sowie zum anderen darauf, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über die zunehmend so viel bekannt ist, dass die Überwachungsmaßnahme weitgehend gegen sie eingesetzt und darauf beschränkt bleiben kann. Die Situation ist daher hinsichtlich der Art des Geschehens bereits ein Stück weit konkretisiert und andererseits immerhin gruppenbezogen so eingegrenzt, dass man die Gruppe identifizieren kann.

Der Gesetzgeber versucht durch eine Legaldefinition die-sen Begriff genauer festzulegen. Aber auch bei dieser Fest- legung werden unbestimmte Begriffe verwendet, wie bspw. „bedeutendes Rechtsgut“, „konkrete Wahrscheinlichkeit“, „konkretisiertes Geschehen“, „erhebliche Intensität oder Aus- wirkung“. Während die bedeutenden Rechtsgüter im Folge-satz (Art. 11 Abs. 3 S. 2 PAG) definiert werden, bleibt hin-gegen die Wendung „erhebliche Intensität oder Auswirkung“ offen. Ob diese Wendung noch den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, wird in der Literatur unterschiedlich gesehen.28 Die Begriffe beziehen sich zunächst auf Angriffe, und sollen diese Art von Rechtsgutgefährdung noch einmal eingrenzen, indem sie nur Angriffe mit Auswirkungen erfas-sen, die über das untere Level hinausgehen. Da davon auszu-gehen ist, dass sich die Angriffe auf die geschützten Rechts-güter beziehen müssen, ist auch klar, auf welches Schutzgut sich die Intensität oder Auswirkung beziehen muss. Wo ge-nau die Grenze zwischen irrelevanter Intensität und erhebli-cher Intensität liegt, muss aus der Norm nicht zweifelsfrei erkennbar sein, da Normen keine Einzelakte sind. Es genügt, wenn der betroffene Bereich erkennbar ist.29 Weiter dienen hier die unbestimmten Rechtsbegriffe zur Eingrenzung einer für sich genommen hinreichend bestimmten Grunddefinition (Angriff auf ein bedeutendes Rechtsgut). Daher sprechen nach der hier zugrunde gelegten Ansicht die besseren Gründe

27 Krit. und unverhältnismäßig: Löffelmann, BayVBl. 2018, 145 (149). 28 Löffelmann, BayVBl. 2018, 145 (146 ff.) – unbestimmt; a.A. Möstl, BayVBl. 2018, 156 (158 f.). 29 „Die Anforderungen hinsichtlich des Gewichts des zu schüt-zenden Rechtsguts stiegen dabei jeweils mit der Eingriffs- intensität. In jedem einzelnen Fall sei die Verhältnismäßig-keit zu prüfen. Eingriffsintensivere Maßnahmen kämen erst dann in Betracht, wenn andere Mittel erkennbar nicht ziel- führend und in gleicher Weise zur Gefahrenabwehr geeignet seien.“ So die Ansicht des BayLandtags im Antrag vor dem BayVerfGH, Entsch. v. 7.3.2019 – Vf. 15-VII-18, Rn. 29 (juris).

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für die Einschätzung, dass das Bestimmtheitsgebot nicht ver- letzt ist.30

Hinweis: Positiv soll bewertet werden, dass die Bearbei-ter*innen überhaupt zur Bestimmtheit Stellung beziehen. Hier liegt noch keine konkretisierende Rechtsprechung vor, sodass fast jede „Richtung“ mit der entsprechenden Begründung eingeschlagen werden kann.

(2) Verletzung von Art. 11 GG – Freizügigkeit Die Vorschrift könnte einen unzulässigen Eingriff in Art. 11 GG darstellen. Art. 11 Abs. 1 GG schützt für deutsche Staats- bürger das Recht, unbehindert durch die deutsche Staats- gewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen und auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen.31 Wird ein Aufenthaltsgebot aus-gesprochen, wird dem Adressaten untersagt, Aufenthalt wo-anders als in dem bestimmten Gebiet zu suchen, es wird das tatsächliche Verweilen an einem bestimmten Ort von gewis-ser Dauer oder Regelmäßigkeit verhindert. Die Person wird an einen bestimmten Ort oder ein bestimmtes Gebiet gebun-den. In das Freizügigkeitsrecht wird mithin eingegriffen, denn dem Adressaten einer solchen Maßnahmen kann ein nach Persönlichkeitsrelevanz, Entfernung und Dauer bedeu-tender Wechsel des Lebenskreises faktisch untersagt wer-den32.

Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in ein Grundrecht auch eine Grundrechtsverletzung dar, denn der Eingriff könn-te verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Art. 11 Abs. 2 GG stellt das Freizügigkeitsrecht unter einem qualifizierten Ge-setzesvorbehalt. Das Recht auf Freizügigkeit kann danach

30 Hierzu auch Feichtner/Krajewski, Popularklage BayVerf- GH gegen PAG v. 3.5.2018, S. 5 ff., online abrufbar unter https://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160030/Popularklage-Endgueltige-Fassung_ohne-Adressen-neu.pdf (27.7.2019); Kingreen, Normenkontrollantrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG v. 6.9.2018, S. 38 ff., online abrufbar unter https://www.fdpbt.de/sites/default/files/2018-09/Normenkontrollantrag%20Bayr.%20PAG%20Endfassung%206.9.18.pdf (27.7.2019); Augsberg, Antrag BayVerfGH nach Art. 75 Abs. 3 BV v. 26.3.2018, S. 21 ff., online abrufbar unter https://katharina-schulze.de/wp-content/uploads/2018/04/Klageschrift-BayPAG-Novelle-2017.pdf (27.7.2019); Degenhart, Antrag BayVerfGH nach Art. 75 Abs. 3 BV v. 6.6.2018, S. 24 ff., https://pag-kritik.de/wp-content/uploads/2018/06/ZweiteKlageBayGH.pdf (27.7.2019). 31 Ogorek, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kom- mentar zum GG, 41. Lfg., Stand: 15.11.2018, Art. 11 Rn. 9. 32 Vgl. Durner (Fn. 21), Art. 11 Rn. 83 (allerdings nicht zum Aufenthaltsgebot).

u.a. durch oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt wer-den, um strafbaren Handlungen vorzubeugen.

Hinsichtlich dieser Variante wird in der Literatur teilwei-se eine konkrete Gefahr der Straftatbegehung vorausgesetzt.33 „Angesichts des hohen Stellenwerts der grundrechtlichen Freizügigkeit sind an das Vorliegen einer konkreten Gefahr hohe Anforderungen zu stellen […]. Nur so lässt sich verhin-dern, dass der Kriminalvorbehalt in einen allgemeinen Ver-dachtstatbestand umgedeutet wird.“34

Legt man das zugrunde, wäre damit Art. 16 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 PAG kaum zu vereinbaren. Die Norm lässt bereits eine „drohende Gefahr“ genügen. Art. 16 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 PAG wäre deswegen als teilweise verfassungswidrig anzusehen, als er bereits eine „drohende Gefahr“ für den Erlass eines Aufenthaltsgebots genügen lässt.35

Die Ansicht, dass die Vorbeugung strafbarer Handlungen mit der Gefahr der Verletzung eines Straftatbestandes gleich-zusetzen ist, ist von der Rechtsprechung aber noch nicht über- nommen worden. Sie überzeugt in der Sache auch nicht. Vom Normtext her ist die Vorbeugung der Verhinderung deutlich vorgelagert. Die Begriffe drohende Gefahr, die Wendung „die Bekämpfung einer Seuchengefahr“ und Maßnahmen zum Schutz der Jugend vor Verwahrlosung sind deutlich prä- ventiv ausgestattete Handlungen. Historisch ist das heutige Polizeirecht zum Teil aus dem Recht der Verhinderung von Straftatbegehungen entstanden. Die Verhinderung ist wer-tungsmäßig der Gefahrenabwehr einer Rechtsnormverletzung gleichzusetzen, nicht aber die Vorbeugung.

Weiter ist dieser Ansicht entgegenzuhalten, dass der Normtext bei Art. 11 GG im Zusammenhang mit der Straf-tatenverhütung ersichtlich eine Vorverlagerung zulässt. Das Grundgesetz wiederholt den Begriff der Gefahr und verwen-det diesen bei Art. 11 Abs. 2 GG im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen gerade nicht. Das GG spricht von „Vorbeugen“ und nicht von „Verhindern“. Es ist daher davon auszugehen, dass eine drohende Gefahr der Begehung von Straftaten sich innerhalb des Rahmens der „Vorbeugung von strafbaren Handlungen“ im Sinne von Art. 11 Abs. 2 GG hält.

33 Ogorek (Fn. 31), Art. 11 Rn. 43, auch Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 11 Rn. 17. 34 Ogorek (Fn. 31), Art. 11 Rn. 43; Ogorek (Fn. 31), Art. 11 Rn. 154: „wenn die hinreichende Gefahr einer Straftat droht oder eine Dauerstraftat bereits eingetreten und eine vorhan-dene Störung zu beheben ist“; Blanke, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Art. 11 Rn. 42; Antoni (Fn. 22), Art. 11 Rn. 8. 35 Löffelmann, BayVBl. 2018, 145 (149), welcher auch noch anmerkt: Darüber hinaus ermöglicht die Norm dem Wortlaut nach auch ein Aufenthaltsgebot gegenüber einer Person, von der keine Gefahr ausgeht – eine Inanspruchnahme von sog. Nichtstörern ist allerdings nur ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen möglich. Hierzu auch Feichtner/ Krajewski (Fn. 30), S. 15 ff.; Kingreen (Fn. 30), S. 70 f.; Augsberg (Fn. 30), S. 61 f.; Degenhart (Fn. 30), S. 45 f.

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Hinweis: A.A. vertretbar. Es ist nicht unbedingt zu erwar-ten, dass die Bearbeiter*innen die genauen Voraussetzun-gen des Art. 11 Abs. 2 GG kennen. Hier ist unklar, ob Art. 11 Abs. 2 GG nicht bereits eine drohende Gefahr ausreichen lassen würde. Es ist wahrscheinlich, dass dies im Rahmen der Verfahren vor dem BayVerfGH bzw. dem BVerfG geklärt wird.

Die Norm des Art. 16 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 PAG muss zudem verhältnismäßig sein. Sie dient jedenfalls dem Zweck der Gefahrenabwehr in geeigneter und erforderlicher Weise. Fraglich ist aber die Angemessenheit der Norm. Auf der einen Seite schützt Art. 11 GG ein hochrangiges Rechtsgut, in welches durch das Aufenthaltsgebot eingegriffen werden kann, auf der anderen Seite steht jedoch der Schutz von be-deutenden Rechtsgütern gegenüber (vgl. Aufzählung „bedeu-tendes Rechtsgut“ in Art. 11 Abs. 3 S. 2 PAG). Problema-tisch ist allerdings die Anknüpfung an das Vorfeld, denn im Vergleich zur konkreten Gefahr liegt durch die drohende Gefahr eine Absenkung der Eingriffsschwelle für das Auf-enthaltsgebot vor. Hier dürfte streitig sein, ob dies zulässig ist oder nicht.

Der Begriff der drohenden Gefahr bildet nur eine ver-gleichsweise moderate Ausweitung.36 Außerdem ist grund-rechtlich eine Einschränkung auf die Abwehr von Situatio-nen, die den klassischen Gefahrbegriff erfüllen, nicht zwin-gend geboten.

Im Rahmen der verfassungsmäßigen Verhältnismäßig-keitsprüfung ist es zulässig, nach einer Je-desto-Formel die Kenntnis des Kausalverlaufs (und ggf. die Wahrscheinlich-keitsanforderungen) abzusenken, je höherrangig das betroffe-ne Rechtsgut ist.

Der Begriff der drohenden Gefahr wurde im Zusammen-hang mit geheimen Informationseingriffen vom Bundesverfas-sungsgericht zunächst im Urteil37 zur Online-Durchsuchung im Jahr 2007 entwickelt und dann im Urteil38 zum BKA-Gesetz noch einmal näher ausgeführt. Der Gefahrbegriff der drohenden Gefahr kommt auch vor bei § 1 G 10 im Rahmen der nachrichtendienstlichen Telefonüberwachung. Bei hohen Rechtsgütern sieht das BVerfG im Rahmen der Verhältnis-mäßigkeit es für möglich an, die Abwägungen in das Vorfeld der Gefahr zu verlegen, wobei die Vorverlagerung sich so-wohl auf die relevanten Personen als auch auf den Kausal- verlauf beziehen kann. Ob die Vorverlagerung wirklich eine Vorverlagerung im Vergleich zur herkömmlichen konkreten Gefahr bildet oder nicht, ist nicht ganz unstreitig; das BVerfG ging davon aus. Bei der drohenden Gefahr geht es darum, dass man aufgrund bestimmter Tatsachen (insbesondere indi-viduelles Vorverhalten oder konkrete Vorbereitungshandlun-gen) mit hinreichender Wahrscheinlichkeit darauf schließen kann, dass es in überschaubarer Zeit überhaupt zu einem Schaden für das bedeutende polizeiliche Rechtsgut kommen wird, dass andererseits aber noch weitgehend unklar ist und nicht näher bestimmt werden kann, wo und auf welche Weise

36 Möstl, BayVBl. 2018, 156 (158). 37 BVerfGE 120, 274 (328 f.). 38 BVerfGE 141, 200 (328).

und wann sich dieser mögliche Schaden realisieren wird. Nach dem BVerfG ist die drohende Gefahr gekennzeichnet durch:

1. Die Möglichkeit eines Schadens für überragend wichti-ge Rechtsgüter; 2. Tatsachen als Prognosegrundlage in Abgrenzung zu diffusen Anhaltspunkten; 3. Die Öffnung des Schlusses auf ein Geschehen, dass ei-ne Konkretisierung seiner Art nach und eine zeitliche Ab-sehbarkeit aufweist; 4. Eine weitergehende personelle Beschränkung auf be-stimmte Zielpersonen.39

Das Bayerische Recht übernimmt diesen verfassungsgericht-lichen Begriff nicht eins zu eins, sondern führt ihn weiter aus. Der Unterschied des Art. 16 PAG zur Rechtsprechung hängt zunächst damit zusammen, dass das BVerfG die drohende Gefahr nur für Informationserhebungseingriffe vorgenommen hat, hier aber ein Eingriff vorliegt, der Kausalverläufe ver- ändert; ob dieser Unterschied erheblich ist, wird im Schrift-tum unterschiedlich verstanden.40

Weiter wurden die Voraussetzungen etwas konkretisiert, indem zwei unterschiedliche Arten der Konkretisierung vor-gesehen wurden. Bei der konkreten Gefahr nach dem PAG geht es darum, dass man aufgrund bestimmter Tatsachen (insbesondere individuelles Vorverhalten oder konkrete Vor-bereitungshandlungen) mit hinreichender Wahrscheinlichkeit darauf schließen kann, dass es in überschaubarer Zeit über-haupt zu einem Schaden für das bedeutende polizeiliche Rechtsgut kommen wird, dass andererseits aber noch weit- gehend unklar ist und nicht näher bestimmt werden kann, wo und auf welche Weise und wann sich dieser mögliche Scha-den realisieren wird.41

Es lässt sich das wahrscheinliche Schadensereignis hin-sichtlich Zeit, Ort, Art und Weise noch nicht so konkret be-schreiben, wie man es sonst bei der konkreten Gefahr ge-wohnt ist. Zweck ist, die Entstehung einer Gefahr zu verhin-dern.42 Ob die konkrete Gefahr auch das Wahrscheinlichkeits-urteil im Gefahrenbegriff absenkt, ist offen.43 Derjenige, gegen den sich die Maßnahme richtet, wird auch nicht wahl-los herausgegriffen, sondern trägt eine gewisse Verantwort-lichkeit. Er muss den qualifizierten Verdacht im Sinne von Art. 7 PAG verantworten. Die Ankopplung an den Begriff des „Angriffs“ erfasst einen Lebensausschnitt, bei dem das Abwarten des Eintritts der Gefahrenlage typischerweise prob-lematisch ist, da aufgrund der Plötzlichkeit die Zeitspanne zwischen Gefahreintritt und Schadenseintritt ungewöhnlich kurz ist.

39 Vgl. Leisner-Egensperger, DÖV 2018, 677 (678). 40 Für eine Verfassungsmäßigkeit der bayerischen Regelung: Leisner-Egensperger, DÖV 2018, 677 (688). 41 Möstl, BayVBl. 2018, 156 (158). 42 Möstl, BayVBl. 2018, 156 (161). 43 Ablehnend Möstl, BayVBl. 2018, 156 (158), a.A. mittelbar, Leisner-Egensperger, DÖV 2018, 677 (688).

Examensklausur: „Du darfst hier (erstmal) nicht weg!“ – Teil 1 ÖFFENTLICHES RECHT

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ZJS 4/2019 297

Der BayVerfGH hat sich im Rahmen der Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Bezug auf Art. 11 Abs. 3 Satz 1 PAG u.a. so geäußert:

„Bestehen gemäß Art. 11 Abs. 3 Satz 1 PAG Anhalts-punkte dafür, dass Gewalttaten, wie etwa ein Terroranschlag oder ein Amoklauf mit hohen Opferzahlen, oder andere schwere Angriffe von erheblicher Intensität und Auswirkung bevorstehen könnten, ist jedoch das konkrete Geschehen nach Art und Zeitpunkt noch nicht hinreichend erkennbar, müssten Eingriffsmaßnahmen vorerst unterbleiben, mittels derer an-sonsten das (weitere) Entstehen konkreter Gefahren für Rechtsgüter der Allgemeinheit, wie Leben, Gesundheit und Freiheit von Personen oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes, unterbunden werden könnte. Dies würde dazu führen, dass bei solchen Gefahrenlagen nicht unverzüglich in den Geschehensablauf eingegriffen werden könnte, sondern zugewartet werden müsste, bis die Gefahr im klassischen Sinn hinreichend konkret geworden ist. Als Folge ergäbe sich das Risiko schwerwiegender Schäden für die Allgemeinheit, die auf der Grundlage der angegriffenen Vorschriften mög-licherweise rechtzeitig hätten abgewendet werden können. Dem Staat bliebe dadurch ein effektives Instrument zur Ab-wehr schwerer Schäden für die Allgemeinheit versagt. Er könnte seiner verfassungsrechtlich verbürgten Verpflichtung zur Gewährleistung von Sicherheit und Schutz der Bevölke-rung (Art. 99 BV) nicht in dem vom Gesetzgeber vorgegebe-nen Umfang nachkommen. […] Denn das Interesse der All-gemeinheit, möglichst frühzeitig vor schwerwiegenden Rechts- gutverletzungen bewahrt zu werden, wiegt angesichts des Gewichts der zu schützenden Rechtsgüter, wie Leib, Leben und Gesundheit, bedeutend schwerer als die Nachteile der von den Grundrechtsbeeinträchtigungen betroffenen Perso-nen.“44

Der Begriff „Angriff“ wurde im Gesetzgebungsverfahren anstelle des ursprünglich gewünschten Begriffes „Gewalt- taten“ verwendet.45 Der Angriff wurde verwendet, um auch Cyberangriffe miteinbeziehen zu können.46 Der Angriff ist im Wesentlichen durch das Merkmal der Plötzlichkeit gekenn-zeichnet.47 Bei der Plötzlichkeit ist der zeitliche Abstand zwi- schen dem Vorliegen einer konkreten Gefahr einerseits und einem Schadenseintritt andererseits enger, als bei sonstigen Gefahrenlagen, sodass es nicht unsachlich erscheint, für Ge-fährdungslagen, die sich im Wege des Angriffs realisieren, eine gewisse Vorverlagerung zuzulassen.

Bei einer Abwägung wird man wohl (noch) von einer An- gemessenheit der Regelung ausgehen können.48

44 BayVerfGH, Entsch. v. 7.3.2019 – Vf. 15-VII-18, Rn. 70 f. (juris). 45 Siehe LT-Drs. 17/16299, S. 10. 46 Vgl. Änderungsantrag, LT-Drs. 17/17058. 47 Möstl, BayVBl. 2018, 156 (160). 48 Verfassungsmäßigkeit bezogen auf Art. 11 Abs. 3, Möstl, BayVBl. 2018, 156 (163); Die Straftatbegehung sei noch nicht hinreichend konkret für einen Eingriff und damit gegen die Verhältnismäßigkeit, so kritischer Löffelmann, BayVBl. 2018, 145 (147) (bezogen auf Art. 16 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 PAG). Hier-zu auch Degenhart (Fn. 30), S. 78.

Hinweis: A.A. vertretbar. Dem Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wird durch Art. 91 PAG Rechnung getragen. (3) Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG – Freiheit der Person Darüber hinaus könnte Art. 16 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 lit. b PAG auch einen nicht gerechtfertigten Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG darstellen. Danach ist die Freiheit der Person ge-schützt, also die Freiheit, einen gegenwärtigen Aufenthaltsort zu verlassen (im Sinne von „weg von hier“) oder aufzu- suchen, sofern dieser nicht aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht zugänglich ist.49 Geschützt ist also die körper-liche Bewegungsfreiheit. Mit einem Aufenthaltsgebot ist es der betroffenen Person gerade nicht möglich, den konkret angegebenen „Raum“ zu verlassen, mithin den Aufenthaltsort zu verlassen: Art. 16 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 lit. b PAG ermöglicht es den Behörden, eine Person für Zeiträume von bis zu drei Monaten an einen bestimmten Ort oder ein bestimmtes Ge-biet zu binden. Wie groß dieser Ort oder dieses Gebiet sein muss, gibt die Norm nicht vor. Denkbar wäre es damit auch, den zulässigen Aufenthalt auf einen relativ eng umgrenzten Raum (bspw. eine bestimmte Unterkunft, ein bestimmtes Grundstück) zu beschränken.50 Dies wiederum könnte einer Freiheitsentziehung gleichkommen, sodass Art. 104 Abs. 2 GG zu beachten wäre. Allerdings dürfte gerade diese enge Eingrenzung i.S. einer Freiheitsentziehung von der Vorschrift nicht umfasst sein – insbesondere mit Blick auf deren Verfas-sungsmäßigkeit.

Wird der Raum nicht zu eng gefasst, liegt lediglich eine Freiheitsbeschränkung und keine Freiheitsentziehung vor. Ein dahingehender Eingriff steht unter dem Gesetzesvorbehalt nach Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG, so-dass ein förmliches Gesetz notwendig ist. Dieses liegt mit dem PAG als Landesgesetz vor. Fraglich ist die Verhältnis-mäßigkeit der Norm. Als legitimes Ziel verfolgt sie die Ge-fahrenabwehr für bedeutende Rechtsgüter und dürfte dahin-gehend geeignet und erforderlich sein. Hinsichtlich der An-gemessenheit ist zu berücksichtigen, dass die Norm eine Aus- nahmemöglichkeit trotz Aufenthaltsgebots vorsieht („ohne polizeiliche Erlaubnis“), die Dauer des Aufenthaltsgebots auf den jeweiligen Einzelfall bis zu drei Monate bzw. längstens sechs Monate angepasst werden kann und bedeutende Rechts-güter geschützt werden.

Der Begriff der bedeutenden Rechtsgüter ist jedoch sehr weit gefasst. Demgegenüber stellt die Fortbewegungsfreiheit ein hohes individuelles Gut dar.

Im Schrifttum wird deswegen zum Teil von einer Unver-hältnismäßigkeit der Eingriffsnorm ausgegangen, da ein Aufenthaltsgebot dem Wortlaut nach auch gegenüber Perso-nen ergehen könne, welche selbst keine Ursache gesetzt hät-ten51. Für eine Unangemessenheit spräche zusätzlich, dass der Gesetzgeber hier bereits einen Grundrechtseingriff im Gefah-renvorfeld ermögliche und zusätzlich lediglich die „Gefahr“ 49 Lang, in: Epping/Hillgruber (Fn. 31), Art. 2 Rn. 84. 50 Siehe hierzu: Löffelmann, BayVBl. 2018, 145 (149). 51 Hierzu siehe im zweiten Teil unter III. 1. c) bb).

ÜBUNGSFÄLLE Heinrich Amadeus Wolff/Natalia Babiak/Robert Tietze

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für ein bedeutendes Rechtsgut fordert.52 Gerade im Zusam-menhang mit der drohenden Gefahr dürfe nicht der Schutz jeglicher in Art. 11 Abs. 3 S. 2 PAG aufgeführten Rechts- güter angemessen sein, sondern nur zum Schutze überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter wie die in Art. 11 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2 PAG.53

Dieser Ansicht ist nicht zu folgen. Die Wirkungen des Aufenthaltsgebotes können je nach konkreter Gestaltung sehr unterschiedlich belastend sein. Der Wortlaut der Norm ist offen genug, um im Einzelfall jeweils ein Rechtsgut von einem Gewicht zu verlangen, dass im Einzelfall der Belas-tungswirkung der Verfügung entspricht. Dass Rechtsgüter im Sinne von Art. 11 Abs. 3 S. 2 PAG niemals Aufenthaltsgebo-te stützen könnten, wird man nicht vertreten können. Die strenge Rechtsansicht verwechselt die Frage der generellen Verhältnismäßigkeit mit der Frage der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall.

Die Norm ist daher verfassungsgemäß sein.

Hinweis: A.A. sehr gut vertretbar. Hier kommt es ledig-lich auf die Argumentation an.

Dem Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wird durch Art. 91 PAG Rechnung getragen. cc) Zwischenergebnis Art. 16 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 lit. b PAG ist verfassungsgemäß. b) Formelle Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsgebots aa) Zuständigkeit Die Polizei hat vorliegend im eingeschränkt institutionellen Sinn gehandelt, sodass für die hier betroffene Maßnahme das PAG greift (vgl. Art. 1 PAG).

Die Polizeiinspektion Bayreuth Stadt müsste für den Er-lass des Aufenthaltsgebots zuständig gewesen sein. Die örtli-che Zuständigkeit richtet sich nach Art. 3 Abs. 1 POG i.V.m. § 1 Abs. 1 DVPOG i.V.m. Anlage 1 zur DVPOG Nr. 6.6.4, wonach jeder im Vollzugsdienst tätige Beamte der Polizei zur Wahrnehmung der Aufgaben der Polizei im gesamten Staats-gebiet befugt ist (Allzuständigkeit). Die örtliche Zuständig-keit ist mithin gewahrt.

Die sachliche Zuständigkeit richtet sich nach Art. 2 Abs. 1 PAG i.V.m. Art. 3 PAG. Die Polizei hat demnach die Auf- gabe, die allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (Art. 2 Abs. 1 PAG), jedoch nur, soweit ihr die Abwehr der Gefahr durch eine andere Behörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint (Art. 3 PAG)54.

Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht, wenn eine Verletzung der Unversehrtheit der Rechtsordnung, der Einrichtungen des Staates und der Rechtsgüter Privater droht. Vorliegend besteht eine Wahrscheinlichkeit eines Anschlags,

52 Hierzu allgemein auch Löffelmann, BayVBl. 2018, 145 (146 f.). 53 Vgl. BVerfGE 125, 260 (330, zur Vorratsdatenspeicherung). 54 Ein Fall des Art. 7 Abs. 4 LStVG ist nicht gegeben.

ohne dass das „Wann“ oder „Wo“ bekannt wäre. Das Han-deln der Polizei ist damit jedenfalls präventiv ausgerichtet.

Allerdings könnte ein Verstoß gegen den Subsidiaritäts-grundsatz (Art. 3 PAG) gegeben sein. Möglicherweise hätte die Sicherheitsbehörde rechtzeitig handeln können. Gem. Art. 6 LStVG haben die Gemeinden als Sicherheitsbehörde die Aufgabe, die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch Abwehr von Gefahren und durch Unterbindung und Beseiti-gung von Störungen aufrechtzuerhalten. Dem wiederum könn-te entgegenstehen, dass vorliegend nur eine drohende Gefahr gegeben sein könnte, die von Art. 6 LStVG nicht mitumfasst ist. Die Gefahr im Sinne der Aufgabenbefugnis ist aber weit zu verstehen und erfasst auch das Vorfeld. Sonst dürfte die Behörde überhaupt keine Untersuchung, ob eine Gefahr vor-liegt, vornehmen. Damit wäre eigentlich die Gemeinde als Sicherheitsbehörde zuständig und nicht die Polizei. Dass die Sicherheitsbehörde nicht hätte rechtzeitig handeln können, ist nicht ersichtlich.

Hier könnte aber eine Durchbrechung dieses Grundsatzes aufgrund der Weisung der Oberbürgermeisterin O gegeben sein. Art. 10 S. 2 LStVG und Art. 9 Abs. 2 POG sieht die Möglichkeit der Erteilung von Weisungen der Sicherheits- behörde an die Polizei vor.55 Liegt ein Fall der Weisung vor, greift der Subsidiaritätsgrundsatz des Art. 3 PAG nicht und die Polizei wäre sachlich zuständig. Hierfür müsste es sich allerdings überhaupt um eine Weisung handeln, denn die Weisung muss von der Amtshilfe und der Vollzugshilfe ab-gegrenzt werden.

Als Amtshilfe ist die sog. ergänzende Hilfe auf Ersuchen anderer Behörden zu verstehen, was sich aus Art. 4 Abs. 1 BayVwVfG ergibt. Eine Amtshilfe scheidet jedoch aus, wenn Hilfe innerhalb eines Weisungsverhältnisses geleistet wird (Art. 4 Abs. 2 Nr. 1 BayVwVfG)56 oder soweit die ersuchte Behörde eigene Aufgaben erfüllt (Art. 4 Abs. 2 Nr. 2 Bay- VwVfG). Hier „ersucht“ die Sicherheitsbehörde nicht die Po- lizei, sondern nutzt ihr Weisungsverhältnis aus (Art. 10 S. 2 LStVG, Art. 9 Abs. 2 POG) bzw. es handelt sich um eine Gefahrenabwehrmaßnahme als Aufgabe der Polizei, sodass gerade keine Hilfe bei Erfüllung fremder Aufgaben im Sinne der Amtshilfe vorliegt. Aus selbigem Grund scheidet die Voll-zugshilfe aus (Art. 2 Abs. 3 PAG, Art. 67 ff. PAG), außer-dem steht kein unmittelbarer Zwang im Raum.57

Die Weisung könnte daher den Subsidiaritätsgrundsatz entfallen lassen, wenn sie rechtmäßig ist. Zweifel an der Rechtmäßigkeit ergeben sich lediglich in Bezug auf die Zu-ständigkeit der Oberbürgermeisterin O, welche die Weisung

55 Das Weisungsrecht ist allerdings dahingehend einge-schränkt, dass dieses nur ggü. den Dienststellen der Landes-polizei nach Art. 4 POG gilt (ausgenommen sind mithin die Bereitschaftspolizei, Landeskriminalamt und Polizeiverwal-tungsamt), so Gliwitzky/Schmid, in: Möstl/Schwabenhauer, Beck’scher Online-Kommentar zum PolR Bayern, 9. Lfg., Stand: 1.2.2019, Art. 9 Rn. 23. 56 Str., ob nur innerhalb eines behördlichen Instanzenzuges, BayVGH, BayVBl. 2007, 274 (274 f.). 57 Zum ganzen Thema: Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 4 Rn. 15 ff.

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ZJS 4/2019 299

erteilte. Nach Art. 29 GO wird die Gemeinde nämlich grund-sätzlich durch den Gemeinderat verwaltet; der Gemeinderat entscheidet im Rahmen des Art. 29 GO über alle Angelegen-heiten, für die nicht beschließende Ausschüsse bestellt sind (Art. 30 Abs. 2 GO). Der erste Bürgermeister, respektive hier die Oberbürgermeisterin O (Art. 34 Abs. 1 S. 2 GO), kann hingegen in den Fällen des Art. 37 GO selbstständig ent-scheiden. Demnach fallen u.a. die laufenden Angelegenhei-ten, die für die Gemeinde keine grundsätzliche Bedeutung haben und keine erheblichen Verpflichtungen erwarten las-sen, in den eigenen Zuständigkeitsbereich der Oberbürger-meisterin. Laufende Angelegenheiten sind nach der Recht-sprechung solche, welche bei der Verwaltung der Gemeinde in mehr oder minder regelmäßiger Wiederkehr anfallen und zur ungestörten und ununterbrochenen Fortführung der Ver-waltung notwendig sind.58 Hierunter sind bspw. ordnungs-rechtliche Maßnahmen wie die vorliegende zu fassen, auch wenn hier eine öffentliche Diskussion hinsichtlich des A be- reits stattfand und damit ein öffentlicher Diskurs gegeben war.

Eine wirksame Weisung liegt mithin vor, sodass eine Aus-nahme vom Grundsatz der Subsidiarität gegeben ist.59

Hinweis: A.A. gut vertretbar – dann fehlt der Gemeinde-ratsbeschluss.

Die Polizeiinspektion Bayreuth Stadt war mithin zuständig. bb) Verfahren Gem. Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG ist vor Erlass eines belas-tenden VA der Adressat anzuhören, d.h. es ist ihm die Gele-genheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erhebli-chen Tatsachen zu äußern. Eine solche Anhörung des A. ist nicht erfolgt, obwohl es sich bei dem Aufenthaltsgebot um einen belastenden VA handelt.

Die Anhörung könnte nach Art. 28 Abs. 2 BayVwVfG entbehrlich gewesen sein, wenn nach dessen Nr. 1 Alt. 1 eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug notwendig erschien. Gefahr im Verzug ist dann anzunehmen, wenn durch eine vorherige Anhörung auch bei Gewährung kürzes-ter Anhörungsfristen ein Zeitverlust eintreten würde, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge haben würde, dass die durch den Verwaltungsakt zu treffende Regelung zu spät kä- me, um ihren Zweck noch zu erreichen.60 Die Behörde hatte vorliegend genügend Zeit, einen schriftlichen Verwaltungsakt zu erlassen, sodass man den A wenigstens kurz hätte fragen können. Für Gefahr im Verzug sprechen keine gewichtigen Gründe.

58 Glaser, in: Widtmann/Grasser/Glaser, BayGO, 29. Lfg., Stand: Mai 2018, Art. 37 Rn. 6. 59 Bei der Klärung der Frage, ob nicht die Sicherheitsbehörde zuständig gewesen wäre, ist nicht maßgeblich, ob die Sicher-heitsbehörde die Befugnisse besitzt, die die Polizei einsetzt. 60 BVerwG NVwZ 1984, 577 (577); BVerfG NJW 2012, 2823 (2824) zu einem Schulbetretungsverbot bei einer Masern- infektion an einer Schule.

Nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 BayVwVfG könnte von einer Anhörung abgesehen werden, wenn dies im öffentli-chen Interesse notwendig erscheint. Das öffentliche Interesse unterscheidet sich von der Gefahr im Verzug dadurch, dass hier nicht das zeitliche Dringlichkeitselement im Vordergrund steht, sondern die inhaltliche Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter, wie z.B. das Wohl des Bundes oder eines Lan-des, die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, soweit bei einer vorherigen Anhörung wichtige Schutzgüter oder Geheimhaltungs- und Sicherheitsinteressen gefährdet werden.61 Eine dahingehende Vertraulichkeit des Vorgehens ist jedoch nicht ersichtlich.

Der A hätte folglich vor Erlass des Aufenthaltsgebots an-gehört werden müssen.

Dieser Verfahrensfehler könnte nach Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BayVwVfG geheilt worden sein, indem die erforderli-che Anhörung nachgeholt worden ist. Eine solche Nach- holung ist bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz ei- nes verwaltungsgerichtlichen Verfahrens möglich. Mit Klage-erhebung hat sich der A. umfassend und inhaltlich zu den polizeilichen Maßnahmen geäußert. Die Behörde hat sodann unter Eindruck der Klagegründe neu über den Verwaltungs-akt nachgedacht und unter Würdigung des Vorbringens des A. die Entscheidung bestätigt.62 Die erforderliche Anhörung ist damit nachgeholt und der Verfahrensfehler geheilt.

Andere Verfahrensfehler sind nicht ersichtlich. cc) Form Nach Art. 39 Abs. 1 S. 1 BayVwVfG ist ein schriftlicher VA mit einer Begründung zu versehen. Art. 39 verlangt nur eine in sich tragfähige Begründung, verlangt aber nicht, dass sie richtig ist. Entsprechend der Sachverhaltsangaben ist die polizeirechtliche Verfügung insgesamt mit einer Begründung ergangen. dd) Zwischenergebnis Das Aufenthaltsgebot ist formell rechtmäßig.

61 Vgl. VG München BeckRS 2017, 128239 Rn. 19. 62 Zu den Voraussetzungen einer nachträglichen Anhörung: Schemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, Beck’scher Online-Kom- mentar zum VwVfG, 43. Lfg., Stand: 1.4.2019, § 45 Rn. 39–44.

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Schwerpunktklausur Öffentliches Wettbewerbsrecht: „Kommunale Fahrgeschäfte“* Von Wiss. Mitarbeiter Erik Sollmann, Mainz** I. Sachverhalt Die rheinland-pfälzische kreisfreie Stadt (S) stellt fest, dass bestimmte von ihr im Rahmen ihres öffentlichen Verkehrs- angebotes betriebenen Buslinien nicht ausgelastet sind. Da sich der permanente Betrieb dieser Buslinien für S nicht lohnt, stellt sie diese ein. Sie erkennt allerdings, dass es da- durch für ihre Einwohner zu nicht unerheblichen Wartezeiten und Mobilitätseinschränkungen kommen kann. Sie will da- her ein Bürgerruftaxi einrichten, um ein möglichst flächen- deckendes Verkehrsangebot aufrecht zu erhalten. Das Bürger-ruftaxi soll das öffentliche Verkehrsangebot um einen lokalen Zubringer- und Abholdienst zum bzw. vom öffentlichen Personennahverkehr ergänzen. Es soll Strecken in allen Teil-orten der Stadt, insbesondere in Randgebieten, bedienen und zu einem geschlossenen Verkehrsnetz verbinden. Fahrten mit dem Bürgerruftaxi sollen einen Tag vor Fahrtbeginn an- gemeldet werden. Daraufhin soll geprüft werden, ob eine zumutbare Verbindung mit den Linien des öffentlichen Per-sonennahverkehrs besteht. Fährt 30 Minuten vor oder nach dem gewünschten Fahrtantritt der öffentliche Personennah-verkehr, soll die Fahrt durch das Bürgerruftaxi nicht durchge-führt werden. Das zu entrichtende Entgelt pro Einzelfahrt und Person soll 2,50 € betragen.

S gründet eine GmbH (B-GmbH), die den Betrieb des Bürgerruftaxis wahrnehmen soll. Ausweislich § 1 der Sat-zung dient das Bürgerruftaxi der Stärkung der kommunalen Daseinsvorsorge und der Verbesserung der städtischen Ver-kehrsinfrastruktur.

Im Übrigen enthält die Satzung u.a. folgende Bestimmun-gen: § 2 1Für die B-GmbH wird ein fakultativer Aufsichtsrat nach § 52 Abs. 1 GmbHG bestellt. 2Mitglieder des Aufsichtsrats sind der Oberbürgermeister der S und zwei vom Stadtrat der S zu wählende Ratsmitglieder. 3Alle Aufgaben der Gesell-schafterversammlung nach § 46 GmbHG werden dem Auf-sichtsrat übertragen. 4Der Stadtrat kann den Vertretern der Stadt im Aufsichtsrat Weisungen erteilen. § 3 1S stellt der B-GmbH jährlich einen pauschalen Betrag in Höhe von 25.000 € zur Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfü-gung. 2Sofern die zur Verfügung gestellten Mittel der GmbH

* Der Fall wurde im WiSe 2018/19 als dreistündige Ab-schlussklausur der Vorlesung Öffentliches Wettbewerbsrecht im Schwerpunkt Wirtschaft und Verwaltung gestellt. Frage 1 ging in die Gesamtbewertung mit 40 % ein, Frage 2 und Frage 3 jeweils mit 30 %. ** Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter und Doktorand am Lehr-stuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Rechtsvergleichung, Europarecht von Univ.-Prof. Dr. Elke Gurlit an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

nicht ausreichen, um ihre Aufgaben zu erfüllen, gleicht S die Fehlbeträge laufend und in unbegrenzter Höhe aus. T ist Inhaberin eines im Stadtgebiet ansässigen Taxiunter-nehmens. Sie trägt zutreffend vor, dass vom Bürgerruftaxi zum Teil Fahrten ohne vorherige Anmeldung und daher ohne Rücksicht darauf durchgeführt werden, ob eine zumutbare Verbindung mit den Linien des öffentlichen Personennah- verkehrs besteht. Individualverkehrsdienstleistungen, die über das Angebot des öffentlichen Personenverkehrs hinausgehen, haben bisher einen Großteil ihres Umsatzes ausgemacht. Sie konnte und kann den insoweit bestehenden Bedarf in S prob-lemlos abdecken. Sie müsse, um weiter gewinnbringend zu wirtschaften, für innerstädtische Taxifahrten allerdings wie bisher bis zu 5 Euro verlangen. Frage 1 Ist die Gründung und der Betrieb der B-GmbH kommunal-wirtschaftsrechtlich zulässig? Frage 2 Kann T einen kommunalwirtschaftsrechtlichen Unterlassungs- anspruch hinsichtlich des Betriebs der B-GmbH geltend ma-chen? Gehen Sie auch darauf ein, gegen wen und worauf ein solcher Anspruch zu richten wäre. Fortsetzung des Sachverhalts S kommt T entgegen und stellt die Fahrdienste des Bürger-ruftaxis wieder ein. S liquidiert die B-GmbH und verkauft die extra angeschafften Taxen, die sie nun nicht mehr benötigt, an die Fuhrpark GmbH (F-GmbH). Die F-GmbH unterhält einen Fuhrpark von PKW, LKW, Bussen sowie Räum- und Reinigungsfahrzeugen. Diese vermietet und verkauft sie. Zu- dem führt sie Fahrzeugbeschaffungs-Ausschreibungen sowie Service- und Reparaturleistungen durch. Gesellschafter der F-GmbH sind zu 75 % S und zu 25 % die S-Verkehrsgesell- schaft mit beschränkter Haftung (SVG), die sich zu 100 % in der Hand der S befindet. Die SVG betreibt die Buslinien des öffentlichen Personennahverkehrs in S. Im Gesellschaftsver-trag der F-GmbH ist unter anderem bestimmt, dass Beschlüs-se der Gesellschafterversammlung mit einfacher Mehrheit getroffen werden, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. In der Gesellschafterversammlung sind entsprechend der Anteilsverhältnisse S und die SVG vertreten. Geschäftsführe-rin ist die erfahrene Diplom-Kauffrau Geschäftig. Im Gesell-schaftervertrag ist es der F-GmbH ausdrücklich gestattet, ihre Leistungen auch für Dritte zu erbringen. In den vergangenen drei Jahren hat die F-GmbH jeweils 35 % ihres Umsatzes durch Leistungen gegenüber der SVG und dem städtischen Entsorgungs- und Reinigungsbetrieb (ERB), einem Eigenbe-trieb der S, sowie jeweils 15 % durch Leistungen gegenüber der CarShare GmbH (C-GmbH) und der Share AG (S-AG) erwirtschaftet. Beide Unternehmen bieten in S Carsharing an. Die C-GmbH befindet sich zu 100 % in der Hand der SVG, während die S-AG in privater Hand ist.

Schwerpunktklausur: „Kommunale Fahrgeschäfte“ ÖFFENTLICHES RECHT

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ZJS 4/2019 301

S hatte bisher C, der Chauffeurdienstleistungen in S er-bringt, mit sogenannten Mandatsfahrten beauftragt. Mandats-fahrten sind Fahrdienstleistungen, die die Mitglieder des Stadtrates sowie der Oberbürgermeister und seine Beigeord-neten im Rahmen ihrer amtlichen Tätigkeiten kostenlos in Anspruch nehmen können. Nach Auslaufen des derzeit be-stehenden Vertrages mit C möchte S dieses Jahr die F-GmbH mit den Mandatsfahrten beauftragen. Für die Chauffeur-dienstleistungen will S der F-GmbH 250.000 € zahlen. C ist der Auffassung, bei der Vergabe der Mandatsfahrten handle es sich um einen ausschreibungspflichtigen öffentlichen Auf-trag. Die Voraussetzungen einer Inhouse-Vergabe seien nicht erfüllt. S übe nicht die erforderliche Kontrolle über die F-GmbH aus, insbesondere, weil sie gar nicht an der Geschäfts-führung beteiligt ist. Des Weiteren diene die bisherige Tätig-keit der F-GmbH auch gar nicht der Ausführung von Aufga-ben, mit denen sie von S betraut wurde. Zudem sei an der F-GmbH mit der SVG eine juristische Person des Privatrechts beteiligt. Frage 3 Muss S vor einer Beauftragung der F-GmbH ein Vergabe- verfahren nach § 97 Abs. 1 GWB durchführen? Bearbeitungsvermerk Unterstellen Sie, dass S vor Gründung der B-GmbH eine Analyse der Vor- und Nachteile einer öffentlichen und privat-rechtlichen Organisationsform im Einzelfall erstellt hat, die zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die privatrechtliche Organi-sationsform der GmbH gegenüber Organisationsformen des öffentlichen Rechts vorteilhafter, insbesondere wirtschaftli-cher, ist.

Die Beachtung der Vorschriften des Personenbeförderungs- gesetzes sind nicht zu prüfen.

Die Schwellenwerte gem. § 106 Abs. 2 GWB i.V.m. Art. 4 Richtlinie 2014/24/EU i.V.m. Art. 1 Abs. 1 DelVO (EU) 2017/2365 betragen für öffentliche Bauaufträge 5.548.000 €, für öffentliche Liefer- und Dienstleistungsaufträge, die von zentralen Regierungsbehörden vergeben werden, 144.000 € und für öffentliche Liefer- und Dienstleistungsaufträge, die von subzentralen öffentlichen Auftraggebern vergeben wer-den, 221.000 €. Lösungsvorschlag Frage 1: Kommunalwirtschaftsrechtliche Zulässigkeit der Gründung und des Betriebs der B-GmbH Die kommunalwirtschaftsrechtliche Zulässigkeit von Grün-dung und Betrieb der Bürgerruftaxi-GmbH (B-GmbH) durch die Stadt S (S) richtet sich nach den §§ 85 ff. Gemeinde- ordnung Rheinland-Pfalz (GemO). Nach § 85 Abs. 1 S. 1 GemO darf eine Gemeinde wirtschaftliche Unternehmen nur errichten, übernehmen oder wesentlich erweitern, wenn der öffentliche Zweck das Unternehmen rechtfertigt (Nr. 1), das Unternehmen nach Art und Umfang in einem angemessenen Verhältnis zu der Leistungsfähigkeit der Gemeinde und dem voraussichtlichen Bedarf steht (Nr. 2) und bei einem Tätig-werden außerhalb der Versorgung mit Elektrizität, Gas und

Wärme (Energieversorgung), der Versorgung mit Wasser, der Versorgung mit Breitbandtelekommunikation und des öffent-lichen Personennahverkehrs der öffentliche Zweck nicht ebenso gut und wirtschaftlich durch einen privaten Dritten erfüllt wird oder erfüllt werden kann (Nr. 3).

Hinweis: Für die Gründung und den Betrieb wirtschaftli-cher Unternehmen sehen die Gemeindeordnungen – res-pektive Kommunalordnungen und -verfassungen – aller Flächenländer eine vergleichbare Schrankentrias vor.1 Auf für die Falllösung relevante Unterschiede wird im Folgenden ergänzend hingewiesen.

A. Errichtung eines wirtschaftlichen Unternehmens, §§ 85 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 GemO I. Kein nichtwirtschaftliches Unternehmen, § 85 Abs. 4 GemO § 85 Abs. 4 GemO enthält einen enumerativen Negativ- katalog solcher Einrichtungen, die von Gesetzes wegen (fik-tiv) nicht als wirtschaftliche Unternehmen gelten. Im Umkehr-schluss aus § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO folgt allerdings, dass gerade der (öffentliche) Personennahverkehr nicht zu den privilegierten nichtwirtschaftlichen Unternehmen gehö-ren kann. Es hätte sonst nicht seiner partiellen Freistellung von den Anforderungen des § 85 Abs. 1 GemO bedurft.2 Bereits danach scheidet die Annahme eines nichtwirtschaftli-chen Unternehmens nach § 85 Abs. 4 GemO aus, so dass es auf eine positive Bestimmung des Unternehmensbegriffs an- kommt.

Hinweis: Negativbestimmungen nichtwirtschaftlicher Be-tätigungen sehen auch die § 102 Abs. 4 S. 1 BWGemO, § 121 Abs. 2 S. 1 HESGO, § 108 Abs. 2 KSVG, § 91 Abs. 7 BbgKVerf, § 136 Abs. 3 NdsKomVG, § 107 Abs. 2 S. 1 GO NRW, § 101 Abs. 4 S. 1 SHGO, § 68 Abs. 3 S. 1 MVKV, § 94a Abs. 3 SaGO vor, wobei auch die dort als nichtwirtschaftlich fingierten Tätigkeiten hier nicht einschlägig sind. § 128 KVG LSA sieht demgegen-über keine Fiktion nichtwirtschaftlicher Unternehmen vor, während Art. 87 Abs. 1 S. 1 BayGO und § 71 Abs. 2 ThürKO schon gar keine Beschränkung auf wirtschaftli-che Unternehmen enthalten.

II. Wirtschaftliches Unternehmen, § 85 Abs. 1 S. 1 GemO Nach betriebs- und volkswirtschaftlichem Verständnis sind wirtschaftliche Unternehmen rechtlich selbstständige oder unselbstständige Zusammenschlüsse von persönlichen und sachlichen Mitteln in der Hand eines Rechtsträgers zur Teil-nahme am Wirtschaftsverkehr3. Unbeachtlich ist dabei, ob die

1 Vgl. den Überblick bei Breuer, WiVerw 2015, 150 (154 ff.) sowie Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 984 ff., 998 ff. 2 Vgl. Gesetzesbegründung, LT-Drs. 15/3032 v. 19.1.2009, S. 8; vgl. auch Lange, NVwZ 2014, 616 (620 f.). 3 Vgl. Nauheim-Skrobek/Schmitz/Schmorleiz, Kommunalrecht Rheinland-Pfalz, 2. Aufl. 2017, S. 132; Gern/Brüning (Fn. 1),

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Gemeinde entgeltliche oder kostenlose Leistung anbietet sowie die Rechtsform, in der sie dies tut4. Entscheidend ist, ob ein Privater vergleichbare Leistungen mit Gewinnerzie-lungsabsicht anbieten könnte (Popitz-Formel5).

Hinweis: Die Schrankentrias von Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt knüpfen nicht an die Errichtung, Über-nahme oder wesentliche Erweiterung eines wirtschaftli-chen Unternehmens an, sondern an die wirtschaftliche Betätigung als solche.6 Für die Falllösung folgt daraus kein Unterschied. § 91 Abs. 1 S. 1 BbgKVerf und ähnlich § 107 Abs. 1 S. 3 GO NRW sowie § 68 Abs. 1 S. 1 MVKV definieren „wirtschaftliche Betätigung“ als das Herstellen, Anbieten oder Verteilen von Gütern, Dienst-leistungen oder vergleichbaren Leistungen, die ihrer Art nach auch mit der Absicht der Gewinnerzielung erbracht werden können.

Nach § 13 GmbHG ist eine GmbH eine rechtlich selbständige juristische Person. Einer Taxifahrt vergleichbare Fahrdienst-leistungen können von Privaten mit Gewinnerzielungsabsicht angeboten werden, wie T’s Beispiel zeigt. In der Gründung der B-GmbH ist damit die Errichtung eines wirtschaftlichen Unternehmens zu sehen.

Hinweis: Zum Teil wird eine betriebsbezogene Betrach-tung gefordert, bei der nicht die streitgegenständliche un-ternehmerische Handlung, sondern der Gegenstand des Unternehmens insgesamt entscheidend sein soll7. Dies begegnet insoweit Bedenken, als kommunale Unterneh-men eine Vielzahl verschiedener Leistungen erbringen können, die keinem einheitlichen Unternehmensgegen-stand unterfallen. Außerdem birgt eine betriebsbezogene Betrachtung die Gefahr einer schleichenden Umgehung. Solange die Aufnahme wirtschaftlicher Betätigungen we-gen ihrer geringeren Bedeutung im Einzelnen nicht dazu führt, dass der ursprünglich als nichtwirtschaftlich einge-ordneter Gegenstand des Unternehmens insgesamt als wirtschaftlich zu beurteilen ist, blieben diese unberück-sichtigt. Vorliegend ist allerdings ohnehin auch bei einer betriebsbezogenen Perspektive das Vorliegen eines wirt-schaftlichen Unternehmens zu bejahen, da ausschließli-cher Gegenstand der B-GmbH das Angebot von Zubrin-ger- und Abholfahrten zu bzw. von Linien des öffentli-chen Personennahverkehrs ist, sich also die streitgegen-

Rn. 994; siehe auch VG Karlsruhe, BeckRS 2017, 133737 Rn. 50, 54 – Bürgerrufauto. 4 Brüning, NVwZ 2015, 689 (690); Gern/Brüning (Fn. 2), Rn. 996. 5 Benannt nach Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwi-schen Reich, Ländern und Gemeinden, 1932; BVerwGE 39, 329 (333); Winkler, in: Hufen/Jutzi/Proelß, Landesrecht Rhein-land-Pfalz, 8. Aufl. 2018, § 3 Rn 49. 6 Siehe Gern/Brüning (Fn. 1), Rn. 993. 7 OVG NRW, Beschl. v. 13.8.2003 – 15 B 1137/03, Rn. 34 (juris); VG Münster NWVBl. 2015, 433.

ständliche Handlung und der Unternehmensgegenstand decken.

B. Schrankentrias, §§ 85 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1–3, 87 GemO

Hinweis: Die vorgeschlagene Lösung integriert die rechts-formspezifischen Anforderung (§ 87 GemO) in die Prü-fung der Schrankentrias (§ 85 GemO). Selbstverständlich können die Voraussetzungen der Schrankentrias und die rechtsformspezifischen Anforderungen auch getrennt nacheinander geprüft werden.

I. Rechtfertigung durch einen öffentlichen Zweck, §§ 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 87 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1–3 GemO 1. Rechtfertigung der Tätigkeit durch einen öffentlichen Zweck, § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GemO Die Errichtung eines wirtschaftlichen Unternehmens ist nach § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GemO nur zulässig, wenn der öffentli-che Zweck das Unternehmen rechtfertigt. Die Tätigkeit selbst und nicht erst ihr Ertrag muss den Einwohnern der Gemeinde unmittelbar zugutekommen.8 Vorliegend geht es S darum, ein flächendeckendes Verkehrsangebot aufrecht zu erhalten, um die Mobilität ihrer Einwohner sicher zu stellen. Mobilität ist ein Grundbedürfnis der Einwohner einer Gemeinde und rech-net daher als Teil der Daseinsvorsorge den örtlichen Angele-genheiten der Gemeinde zu. Die Bereitstellung eines flächen-deckenden Verkehrsangebots kommt unmittelbar den Ein-wohnern der S zugute und verfolgt somit einen öffentlichen Zweck, wofür wiederum auch ein Umkehrschluss aus § 85 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GemO spricht (siehe oben).9

Wird ein öffentlicher Zweck anerkannt, so bedarf es zu-sätzlich der Rechtfertigung durch den öffentlichen Zweck. Die wirtschaftliche Betätigung wird durch den öffentlichen Zweck gerechtfertigt, soweit sie erforderlich ist. Das damit aufgestellte Erforderlichkeitsgebot ist dem planungsrechtli-chen Erforderlichkeitsgebot (Planrechtfertigung) vergleich-bar, das bereits dann erfüllt ist, wenn das Vorhaben vernünf-tiger Weise geboten ist, ohne unausweichlich zu sein10. Da es sich insoweit um eine Prognose handelt, steht der Gemeinde eine Einschätzungsprärogative zu11. Nach Einschätzung der S ist das Ergänzungsangebot des Bürgerruftaxis zum öffentli-chen Personennahverkehr geboten, um die Mobilität der Einwohner sicherzustellen. Insoweit sind die Fahrleistungen des Bürgerruftaxis erforderlich und damit durch den öffentli-chen Zweck auch gerechtfertigt.

T trägt allerdings zutreffend vor, dass entgegen des ur-sprünglichen Zwecks Fahrten des Bürgerruftaxis ohne Rück-

8 Vgl. Gern/Brüning (Fn. 1), Rn. 999. 9 Vgl. auch VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737, Rn. 60 – Bürgerrufauto. 10 OVG NRW NVwZ 2003, 1520 (1523); OVG NRW NW- VBl. 2008, 418 (421); OVG SH NordÖR 2013, 530 (533). 11 BVerwGE 39, 329 (334); OVG NRW NWVBl. 2008, 418 (422); OVG SH NordÖR 2013, 530 (533); Brüning, NVwZ 2015, 689 (691); Lange, NVwZ 2014, 616 (617); Gern/ Brüning (Fn. 1), Rn. 1000.

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sicht darauf durchgeführt werden, ob eine zumutbare Verbin-dung mit den Linien des öffentlichen Personennahverkehrs besteht. Soweit zumutbare Verbindungen des Linienverkehrs genutzt werden können, ist das Bürgerruftaxi als Ergän-zungsangebot zur Sicherstellung der gemeindlichen Verkehr- sinfrastruktur nicht geboten und daher nicht durch den öffent-lichen Zweck gerechtfertigt.12 Auch Fahrdienstleistungen, die über eine gebotene Ergänzung des öffentlichen Personen- nahverkehr hinausgehen, mögen den Einwohnern von S zwar unmittelbar zugutekommen. Es bestehen jedoch keine An-haltspunkte dafür, dass auch dies vernünftigerweise zur Si-cherstellung einer hinreichenden Mobilität der Einwohner geboten ist. Insoweit ist der Betrieb der B-GmbH also schon nicht durch einen öffentlichen Zweck gerechtfertigt und da-her kommunalwirtschaftsrechtlich unzulässig. 2. Rechtfertigung der Rechtsform durch den öffentlichen Zweck, § 87 Abs. 1 Nrn. 1-3, Abs. 3 GemO Soweit ein öffentlicher Zweck für die den öffentlichen Perso-nennahverkehr ergänzenden Zubringer- und Abholfahrten ge- geben ist, muss gem. § 87 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GemO der öffent-liche Zweck auch die gewählte Rechtsform der GmbH recht-fertigen. Die §§ 87 ff. GemO lassen neben öffentlich-recht- lichen Organisationsformen wie der Anstalt ausdrücklich die Wahl eines Unternehmens in Privatrechtsform zu. Wegen ihrer besseren Steuerungsmöglichkeiten ordnet § 87 Abs. 2 GemO den Vorrang der GmbH vor der AG an. Die Errich-tung eines Unternehmens in der Rechtsform der GmbH ist daher grundsätzlich durch einen öffentlichen Zweck gerecht-fertigt.

Hinweis: Nach 92 Abs. 1 GemO hat eine Gemeinde vor Errichtung eines wirtschaftlichen Unternehmens in Privat-rechtsform für den Einzelfall eine Analyse über die Vor- und Nachteile gegenüber einer öffentlichen Organisati-onsform zu erstellen. Die Analyse hat sie zwar der Auf-sichtsbehörde zuzuleiten. Sie wird durch das Ergebnis der Analyse aber nicht gehindert, eine Privatrechtsform zu wählen. Eine vergleichbare Regelung enthält auch § 102 Abs. 1 S. 2 SHGO. Strenger ist demgegenüber § 129 Abs. 1 Nr. 1 KVG LSA, der die Errichtung eines Unter-nehmens in Privatrechtsform nur gestattet, wenn der öf-fentliche Zweck nicht ebenso durch ein Unternehmen in einer Rechtsform des öffentlichen Rechts erfüllt werden kann. Dem vergleichbar verlangt § 69 Abs. 1 Nr. 2 MVKV ein wichtiges Interesse an der Privatrechtsform, weil die Aufgabe des Unternehmens in Privatrechtform im Vergleich zu einer öffentlich-rechtlichen Organisations-form wirtschaftlicher durchgeführt werden kann. Nach dem Bearbeitervermerk ist zu unterstellen, dass die GmbH gegenüber öffentlich-rechtlichen Organisations-formen vorteilhafter, insbesondere wirtschaftlicher ist, so dass nach allen Gemeindeordnungen die Wahl der Privat-rechtsform zulässig sein dürfte. Einen Vorrang der GmbH gegenüber der AG sehen zudem auch § 103 Abs. 2

12 Vgl. VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737, Rn. 64, 67 – Bürgerrufauto.

BWGemO, § 122 Abs. 3 HESGO, § 96 Abs. 4 BbgKVerf, § 108 Abs. 4 GO NRW, § 102 Abs. 4 SHGO und § 96 Abs. 2 SaGO vor.

Die Verfolgung des öffentlichen Zwecks durch die B-GmbH und der danach gebotene Einfluss der Stadt muss durch die Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrags sichergestellt wer-den (§ 87 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3 GemO). § 1 der Satzung der B-GmbH legt den öffentlichen Zweck, die kommunale Da-seinsvorsorge zu stärken und die städtische Verkehrsinfra-struktur zu verbessern, entsprechend § 87 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GemO verbindlich für alle Gesellschaftsorgane fest. Konkre-tisierende Anforderungen an die Ausgestaltung des Gesell-schaftsvertrages einer GmbH stellt § 87 Abs. 3 GemO auf. Insbesondere dessen Nr. 3 schreibt in Konkretisierung von § 87 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO vor, dass die Gemeinde wirt-schaftliche Unternehmen in der Rechtsform einer GmbH nur führen darf, wenn durch die Ausgestaltung des Gesellschafts-vertrags sichergestellt ist, dass der Gemeinderat den von der Gemeinde bestellten oder auf Vorschlag der Gemeinde ge-wählten Mitgliedern des Aufsichtsrats Weisungen erteilen kann, soweit die Bestellung eines Aufsichtsrats gesetzlich nicht vorgeschrieben ist. Ein derartiger sog. fakultativer Auf-sichtsrat – zu unterscheiden von dem obligatorischen Auf-sichtsrat bei GmbHs mit mehr als 500 Mitarbeitern13 – kann nach § 52 GmbHG geschaffen werden.

Vorliegend ist in der Gründungssatzung der B-GmbH ein fakultativer Aufsichtsrat ausdrücklich vorgesehen, dem die Aufgaben der Gesellschafterversammlung übertragen sind. Entsprechend § 87 Abs. 3 Nr. 3 GemO sieht die Satzung auch ein Weisungsrecht des Gemeinderates gegenüber dem Auf-sichtsrat vor. § 52 GmbHG bestimmt allerdings die Anwend-barkeit u.a. von § 111 Abs. 6 AktG. Dieser verpflichtet die Aufsichtsratsmitglieder zur höchstpersönlichen Aufgaben-wahrnehmung. Danach ist der Aufsichtsrat ein unabhängiges Überwachungsorgan, so dass es gesellschaftsrechtlich ausge-schlossen ist, dass Aufsichtsratsmitgliedern Weisungen erteilt werden können.14 An diesem Befund können auch §§ 88 Abs. 3, 88 Abs. 1 S. 6 GemO, die den Gemeinderat zu Wei-sungen gegenüber dem Aufsichtsrat ermächtigen, nichts än- dern, da das AktG als Bundesrecht Vorrang vor den kommu-nalrechtlichen Regelungen der Länder beansprucht (Art. 31 GG)15, was im übrigen § 88 Abs. 3 GemO mit der Formulie-rung „soweit nicht gesetzliche Bestimmungen des Gesell-schaftsrechts entgegenstehen“ deklaratorisch zum Ausdruck bringt. Nach § 52 GmbHG ist die Anwendbarkeit des § 111

13 Ob ein Aufsichtsrat bei einer GmbH obligatorisch ist, be-stimmt sich nach den Regelungen über die Arbeitnehmermit-bestimmung. Das sog. Drittelbeteiligungsgesetz greift ab 500 Mitarbeitern, dazu Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327 (329). 14 Vgl. Habersack, in: Goette/Habersack/Kalss, Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rn. 160; siehe auch BGHZ 169, 98 (98); BVerwG NJW 2011, 3735 (3736 Rn. 20); HessVGH UPR 2010, 106 (106) – Ingelheimer Aue; Berger, DVBl. 2013, 825 ff. 15 Burgi, Kommunalrecht, 6. Aufl. 2019, § 17 Rn. 84.

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Abs. 6 AktG allerdings disponibel. Dies setzt eine entspre-chende Abbedingung im Gesellschaftsvertrag voraus. Im Gesellschaftsvertrag der B-GmbH ist nicht ausdrücklich be- stimmt, dass § 111 Abs. 6 AktG keine Anwendung finden soll. Aus der ausdrücklich im Widerspruch zu § 111 Abs. 6 AktG stehenden Regelung des Weisungsrechts des Stadtrates ergibt sich aber mit hinreichender Deutlichkeit dessen Ab- bedingung.16

Nach § 87 Abs. 3 Nr. 1 lit. d GemO hat die Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer allerdings der Gesell-schafterversammlung zu obliegen. Nach § 2 der Satzung der B-GmbH sind alle Aufgaben der Gesellschafterversammlung nach § 46 GmbHG – einschließlich der Bestellung und Ab- berufung der Geschäftsführer – dem Aufsichtsrat übertragen. Bei strenger Wortlautinterpretation des § 87 Abs. 3 Nr. 1 lit. d GemO führt dies zur kommunalwirtschaftsrechtlichen Unzulässigkeit der Gründung der B-GmbH. Nach dem Sinn und Zweck – Sicherung eines hinreichenden Einflusses der Gemeinde auf die Steuerung der GmbH – könnte es aber genügen, dass die Stadt im Aufsichtsrat durch den Ober- bürgermeister und zwei Ratsmitglieder vertreten wird und der Stadtrat dem Aufsichtsrat Weisungen erteilen kann. So gilt auch § 87 Abs. 3 Nr. 1 lit. d GemO nicht ausnahmslos, son-dern lässt es zu, dass die Bestellung und Abberufung der Gemeinde vorbehalten wird. Die Systematik des § 87 Abs. 3 GemO spricht jedoch dagegen, in der vorliegenden Konstel-lation einen Vorbehalt zugunsten der Gemeinde zu sehen. Denn dessen Nr. 3 sieht ein Weisungsrecht des Gemeinde- rates gegenüber einem fakultativen Aufsichtsrat nicht als Ausnahme von Nr. 1 lit. d vor, sondern verlangt es zusätzlich. Letztlich ist aber festzuhalten, dass in der vorliegenden Kons-tellation der Aufsichtsrat die Gesellschafterversammlung als Kontrollorgan gegenüber der Geschäftsführung ersetzt und dabei denselben Steuerungsmöglichkeiten durch die Stadt unterliegt wie die Gesellschafterversammlung. Damit besteht nach dem Sinn und Zweck des § 87 Abs. 3 Nr. 1 lit. d GemO für den vorliegenden Fall kein Grund, dass weiterhin die Gesellschafterversammlung über Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer zu beschließen haben muss. Daher ist § 87 Abs. 3 Nr. 1 lit. d GemO hier teleologisch zu reduzieren.

16 BVerwG, Urt. v. 31.8.2011 − 8 C 16/10 hat sogar ange-nommen, dass sich, wenn bloß die Bestimmungen des Aktien-gesetzes für einen fakultativen Aufsichtsrat ausgeschlossen werden, eine konkludente Regelung eines Weisungsrechts aus dem normative Umfeld des Gesellschaftsvertrages erge-ben kann, d.h. aus kommunalrechtlichen Vorschriften, die wie §§ 87 Abs. 3 Nr. 3, 88 Abs. 1 S. 5, Abs. 3 GemO ein Weisungsrecht verlangen. Die „landeskommunalrechtskon-forme“ Auslegung des BVerwG dürfte allerdings zu weitge-hend sein, da sie das gesellschaftsrechtliche Gebot der Sat-zungsstrenge sowie den Vorrang des bundesrechtlichen Ge-sellschafts- vor dem landesrechtlichen Kommunalrecht über-strapaziert, siehe auch OVG NRW ZIP 2009, 1718 ff.; Zur Kritik: Altmeppen, NJW 2011, 3735 (3737); Pauly/Schüler, DÖV 2012, 339 ff.; Heidel, NZG 2012, 48 ff.; Leitzen, ZNotP 2011, 453 (461 f.); Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327 ff.

Mithin ist der Einfluss der Gemeinde auf die B-GmbH und die Erreichung des öffentlichen Zwecks hinreichend sichergestellt, so dass auch die Rechtsform der GmbH durch den öffentlichen Zweck gerechtfertigt ist.

Hinweis: Entsprechende rechtsformspezifische Anforde-rungen zum Vorrang der GmbH vor der AG, der Siche-rung des öffentlichen Zwecks im Gesellschaftsvertrag und eines hinreichenden Einflusses der Gemeinde sehen ins-besondere § 108 Abs. 1 Nrn. 1, 6 u. 7, Abs. 4, Abs. 5 Nr. 2 GO NRW und §§ 68 Abs. 4 S. 2, 69 Abs. 1 Nrn. 1, 3 u. 4, § 71 Abs. 1 S. 5, Abs. 2 MVKV vor. Ähnliche Re-gelungen finden sich auch in Art. 92 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 u. 2, 93 Abs. 2 BayGO, § 73 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 u. 2 Thür-KO, §§ 103 Abs. 1 S. 1 Nrn. 2 u. 3, Abs. 2, 103a, 104 Abs. 1 S. 3, Abs. 3 BWGemO, §§ 122 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 u. 3, Abs. 3, 125 Abs. 1 S. 4 HESGO, § 110 Abs. 1 Nr. 3, 114 Abs. 4 SaarKSVG, §§ 96 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 u. 2, Abs. 4, 97 Abs. 1 S. 6, Abs. 2 BbgKVerf, §§ 137 Abs. 1 Nrn. 1, 5 u. 6, 138 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 S. 1 NdsKomVG, §§ 129 Abs. 1 Nrn. 2 u. 3, 131 Abs. 1 S. 6, Abs. 3 KVG LSA, § 102 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1 u. 3, Abs. 4 SHGO und §§ 96 Abs. 1 Nrn. 1 u. 2, Abs. 2, 98 Abs. 1 S. 6 SaGO.17

II. Relationsklausel, §§ 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 87 Abs. 1 Nrn. 4–6 GemO Nach § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GemO muss das Unternehmen nach Art und Umfang in einem angemessenen Verhältnis zu der Leistungsfähigkeit der Gemeinde und dem voraussichtli-chen Bedarf stehen (Relationsklausel). Ein angemessenes Verhältnis zur Leistungsfähigkeit kann angenommen werden, wenn der personelle, sachliche und finanzielle Aufwand nicht außer Verhältnis zu den verfügbaren Mitteln der Gemeinde steht. Ein angemessenes Verhältnis zum voraussichtlichen Bedarf besteht, wenn zu erwarten ist, dass das Angebot nach Umfang und Ausmaß des Unternehmens gegenwärtig und künftig durch eine entsprechende Nachfrage im Gemeinde-gebiet gedeckt wird. Da es sich jeweils um Prognose- entscheidungen handelt, steht der Gemeinde auch hier ein Beurteilungsspielraum zu18. Das Bürgerruftaxi soll nach der Vorstellung der S gerade der zu geringen Nachfrage nach einem permanenten Linienverkehr Rechnung tragen und eine kostensparendere Verkehrsabdeckung ermöglichen. Es könn-te insoweit also davon ausgegangen werden, dass es in einem angemessenen Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der S und zum Bedarf steht.

Das Verbot der Überspannung der wirtschaftlichen Leis-tungsfähigkeit nach § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GemO wird durch die speziellen Vorgaben des § 87 Abs. 1 S. 1 Nrn. 4–6 GemO konkretisiert. Die Einhaltung der Pflicht nach § 87 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 GemO ist bei einer GmbH wegen § 13 Abs. 2 GmbHG, nach dem für Verbindlichkeiten der Gesellschaft nur das Gesellschaftsvermögen haftet, gewährleistet. § 87 17 Im Überblick Gern/Brüning (Fn. 1), Rn. 1071 f. 18 OVG SH NordÖR 2013, 530 (534); Brüning, NVwZ 2015, 689 (692); vgl. auch Nauheim-Skrobek/Schmitz/Schmorleiz (Fn. 3), S. 133; Gern/Brüning (Fn. 1), Rn. 1002 f.

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Abs. 1 Nr. 5 GemO fordert allerdings auch, dass die Einzah-lungsverpflichtungen der Gemeinde wie z.B. laufende Nach-schusspflichten in einem angemessenen Verhältnis zu ihrer Leistungsfähigkeit stehen. § 4 der Satzung sieht eine laufende und unbegrenzte Nachschusspflicht der S vor. Eine un- begrenzte Nachschusspflicht kann die Leistungsfähigkeit der Gemeinde übersteigen. Sie ist mit § 87 Abs. 1 Nr. 5 GemO nicht zu vereinbaren. Der Gründung und dem Betrieb der B-GmbH steht also auch, soweit sie eine notwendige Ergänzung des öffentlichen Personennahverkehrs darstellt, §§ 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 87 Abs. 1 Nr. 5 GemO ent- gegen.

Hinweis: Vergleichbare Vorgaben zur Beschränkung der Haftung und der Einzahlungsverpflichtung bzw. Verlust- übernahme der Gemeinde finden sich in § 108 Abs. 1 Nrn. 3, 4 u. 5 GO NRW, § 69 Abs. 1 Nrn. 5 u. 6 MVKV, Art. 92 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BayGO, § 73 Abs. 1 S. 1 Nrn. 3–5 ThürKO, § 103 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BWGemO, § 122 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 HESGO, § 110 Abs. 1 Nr. 2 SaarKSVG, § 96 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BbgKVerf, § 137 Abs. 1 Nrn. 2-4 Nds-KomVG, § 129 Abs. 1 Nrn. 4–6 KVG LSA, § 102 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SHGO, § 96 Abs. 1 Nr. 3 SaGO.

Frage 2: Kommunalwirtschaftsrechtlicher Unterlassungs- anspruch der T A. Herleitung eines Unterlassungsanspruchs aus § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO T könnte ein Unterlassungsanspruch aus § 85 Abs. 1 S. 1 GemO zustehen. Dies setzt zunächst voraus, dass dieser über- haupt einen Anspruch, also ein subjektiv-öffentliches Recht vermittelt. Eine öffentlich-rechtliche Vorschrift vermittelt einen Anspruch, wenn sie nicht nur öffentliche Interessen, sondern zumindest auch Individualinteressen schützen soll und der Anspruchsteller zum geschützten Personenkreis zählt (Schutznormtheorie)19. Dies ist durch Auslegung zu ermit-teln.

Aus der systematischen Stellung im 5. Kapitel „Gemein-dewirtschaft“, wo insbesondere auch das Verbot der unbe-schränkten Haftungsübernahme (§ 87 Abs. 1 Nr. 4 GemO) sowie von Bankgeschäften (§ 85 Abs. 5 GemO) geregelt sind, wird der sowohl hinter § 85 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2 GemO als auch dem diese konkretisierenden § 87 GemO stehende Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit deutlich (vgl. § 94 GemO). Der Grundsatz der Sparsamkeit und Wirt-schaftlichkeit soll die Gemeinde im öffentlichen Interesse bei der Eingehung der mit einer wirtschaftlichen Betätigungen verbundenen finanziellen Risiken einschränken.20 Auf die festgestellten Verstöße der S gegen §§ 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 87 Abs. 1 Nr. 5 GemO kann sich T mangels deren sub-jektiv-öffentlichem Charakter daher nicht berufen. Etwas

19 Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 16. Aufl. 2019, Rn. 496 f. 20 VerfGH RP, Urt. v. 28.3.2000 – VGH N 12/98, Rn. 30 ff. (juris); Jungkamp, NVwZ 2010, 546 (546); a.A. für § 107 Abs. 1 Nr. 1 GO NRW OVG NRW, Beschl. v. 13.8.2003 – 15 B 1137/03, Rn. 13 ff. (juris).

anderes könnte für die Subsidiaritätsklausel gelten. § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO spricht davon, dass „der öffentliche Zweck nicht ebenso gut und wirtschaftlich durch einen priva-ten Dritten erfüllt wird oder erfüllt werden kann“. Bereits der Wortlaut, der ausdrücklich private Dritte in Bezug nimmt, spricht für eine drittschützende Wirkung. Mit dem Erforder-nis einer verschärften Subsidiaritätsklausel wollte der rhein-land-pfälzische Gesetzgeber private Konkurrenz bewusst be- günstigen. Damit dient Nr. 3 dem Schutz von Individual- interessen und verleiht Dritten ein subjektiv-öffentliches Recht.21 Da dieses wirkungslos wäre, wenn es von privaten Konkurrenten der Gemeinden nicht auch durchgesetzt werden könnte, folgt unmittelbar aus § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO ein Anspruch Dritter auf Unterlassen der wirtschaftlichen Betätigung der Gemeinde, soweit dessen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.22

Hinweis: Verschärfte Subsidiaritätsklauseln, die eine bes-sere und wirtschaftlichere Erfüllung durch die Gemeinde verlangen23, sehen neben § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO RP die § 121 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 HESGO, § 71 Abs. 2 Nr. 4 ThürKO, Art. 87 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BayGO, § 102 Abs. 1 Nr. 3 BWGemO und § 108 Abs. 1 Nr. 3 SaarKSVG vor. Einfache Subsidiaritätsklauseln, die eine ebenso gute und wirtschaftliche Erfüllung durch die Gemeinde ausreichen lassen24, finden sich in § 107 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GO NRW, § 136 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 NdsKomVG, § 101 Abs. 1 Nr. 3 SHGO, § 68 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 MVKV, § 91 Abs. 3 S. 1 BbgKVerf, § 94a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SaGO und § 128 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 KVG LSA. Als drittschützend werden neben der rheinland-pfälzischen die nordrhein-westfäli- sche25, hessische26, thüringische27, baden-württembergi-

21 VerfGH RP, Urt. v. 28.3.2000 – VGH N 12/98, Rn. 36 f. (juris); Gesetzesbegründung RLP LT-Drs. 13/2306, S. 29; Breuer, WiVerw 2015, 150 (169); vgl. auch VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737, Rn. 23 ff. – Bürgerrufauto zum § 85 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GemO vergleichbaren § 102 Abs. 1 Nr. 3 BWGemO. 22 Der Anspruch kann auch auf § 1004 BGB analog gestützt werden, allg. dazu Baldus/Grzeszick/Wienhues, Staatshaftungs-recht, 5. Aufl. 2018, Rn. 18 f., 37 ff., 82 ff.; Kemmler, JA 2005, 908 ff.; siehe auch VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737, Rn. 45 – Bürgerrufauto. 23 Breuer, WiVerw 2015, 150 (160 ff.); Schulz/Tischer, Gew- Arch 2014, 1 (3); Sonder, LKV 2013, 202 (203). 24 Breuer, WiVerw 2015, 150 (160 ff.); Schulz/Tischer, Gew- Arch 2014, 1 (3); Pogoda, LKV 2012, 159 (159). 25 OVG NRW, Beschl. v. 1.4.2008 – 15 B 122/08, Rn. 11 ff. (juris) hat den Drittschutz an den (dringenden) öffentlichen Zweck angeknüpft; Breuer, WiVerw 2015, 150 (169); kri-tisch Ziekow, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2016, § 7 Rn. 66; Jungkamp, NVwZ 2010, 546 ff.; VG Münster, Urt. v. 8.5.2015 – 1 K 94/14, Rn. 23 (juris) erkennt § 107 GO NRW undifferenziert Drittschutz zu; Kaster, in: Dietlein/ Heusch, Beck’scher Online-Kommentar zum Kommunalrecht NRW, 8. Lfg., Stand: Juni 2019, GO NRW § 107 Rn. 50 stellt eine Gesamtbetrachtung an.

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sche28, saarländische29 und sächsische30 Subsidiaritäts-klausel angesehen, so dass die Falllösung der hier vorge-schlagenen entspricht. Kein Drittschutz wird der nieder-sächsischen31, der brandenburgischen32, der sachsen-anhal- tischen33 und der bayrischen34 Subsidiaritätsklausel bei-gemessen. Siedelt man den Fall in einem dieser Bundes-länder an, könnte T allenfalls ein auf Art. 12 oder 14 GG gestützter öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch zustehen. Für die Bejahung eines solchen Unterlassungs-anspruchs verlangt die Rechtsprechung einen staatlichen Verdrängungswettbewerb.35 Die dafür erforderliche Ab-sicht der S, die wirtschaftliche Betätigung Privater un-möglich zu machen oder unzumutbar zu beschränken, gibt der Sachverhalt allerdings nicht her. Die Vorausset-zungen der Subsidiaritätsklauseln sollten in diesen Bundes-

26 Mittlerweile ausdrücklich § 121 Abs. 1 lit. b S. 1 HessGO; Ogorek, in: Dietlein/Ogorek, Beck’scher Online-Kommentar zum Kommunalrecht Hessen, 9. Lfg., Stand: Mai 2019, HGO, § 121 Rn. 32 ff.; HessVGH, Urt. v. 18.6.2009 – 8 C 2265/08, Rn. 19 f. (juris); Breuer, WiVerw 2015, 150 (168). 27 VG Meiningen, Urt. v. 17.3.2015 – 2 K 174/13 Me, Rn. 28 ff. (juris); Breuer, WiVerw 2015, 150 (168); a.A. Jungkamp, NVwZ 2010, 546 (547). 28 VGH BW, Urt. v. 5.11.2014 – 1 S 2333/13, Rn. 90 (juris); Müller, in: Dietlein/Pautsch, Beck’scher Online-Kommentar zum Kommunalrecht BW, 6. Lfg., Stand: Mai 2019, BWGe-mO, § 102 Rn. 14; zur aktuellen Subsidiaritätsklausel BW LT-Drs. 13/4767, 9; Breuer, WiVerw 2015, 150, 168 ff.; a.A. noch Berghäuser/Gelbe, KommJur 2012, 47 (48). 29 Vgl. OVG Saarl., Beschl. v. 22.10.2008 – 3 B 279/08, Rn. 13 ff. (juris); Breuer, WiVerw 2015, 150 (168 f); Gern/ Brüning (Fn. 1), Rn. 1016. 30 Gern/Brüning (Fn. 1), Rn. 1016; Breuer, WiVerw 2015, 150 (168); Jungkamp, NVwZ 2010, 546 (547). 31 Klaß, in: Dietlein/Mehde, Beck’scher Online-Kommentar zum Kommunalrecht Nds., 10. Lfg., Stand: Mai 2019, Nds-KomVG, § 136 Rn. 38 ff., 87 ff. unter Verweis auf die Gesetzbegründung zur entschärften Subsidiaritätsklausel Nds. LT-Drs. 17/5423, 50; zur zuvor verschärften Subsidiaritäts-klausel NdsOVG, Beschl. v. 14.8.2008 – 10 ME 280/08, Rn. 9 (juris); Berghäuser/Gelbe, KommJur 2012, 47 (50); a.A. Jungkamp, NVwZ 2010, 546 (548 f.); Gern/Brüning (Fn. 1), Rn. 1016. 32 Ausdrücklich § 91 Abs. 1 S. 2 BbgKVerf; Breuer, WiVerw 2015, 150 (168); Gern/Brüning (Fn. 1), Rn. 1015. 33 OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 29.10.2008 – 4 L 146/05, Rn. 35 ff. (juris) zur wortgleichen Vorgängernorm; Breuer, WiVerw 2015, 150 (169). 34 VG Würzburg, Urt. v. 5.9.2012 – W 2 K 10.1204, Rn. 25 ff. (juris); Berghäuser/Gelbe, KommJur 2012, 47 (48 f.); a.A. Scharpf, GewArch 2004, 317 (319 f.); unentschieden Breuer, WiVerw 2015, 150 (169). 35 BVerwGE 39, 329 (336 f.); Knauff, in: Schmidt/Wollen- schläger, Kompendium öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2016, § 6 Rn. 24; krit. Storr, in: Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2015, § 8 Rn. 697; Breuer, WiVerw 2015, 150 (170); Gern/Brüning (Fn. 1), Rn.1011 f.

ländern daher bereits im Rahmen von Frage 1 behandelt werden. Dabei ist zu beachten, dass § 136 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, S. 3 NdsKomVG sowie § 128 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Abs. 2 KVG LSA nicht für den öffentlichen (Personennah-)Ver- kehr und Art. 87 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BayGO nur für Tätig-keiten außerhalb der Daseinsvorsorge gelten (dazu so-gleich). Ob § 68 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 MVKV und § 101 Abs. 1 Nr. 3 SHGO36 eine drittschützende Wirkung zukommt, ist, soweit ersichtlich, bislang nicht geklärt, so dass mit entsprechender Begründung beides vertretbar ist.

B. Anspruchsgegner und -inhalt § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO adressiert ausschließlich Kom-munen. Anspruchsgegner eines Unterlassungsanspruchs aus § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO kann daher nur eine Kommune sein. Dies gilt ungeachtet der Frage, ob das öffentliche Un-ternehmen als Eigenbetrieb der Gemeinde unmittelbar zuzu-rechnen ist oder ob es in rechtlich verselbständigter Form in Privatrechtsform betrieben wird. Im Fall der Errichtung rechtlich selbständiger Unternehmen ist der Unterlassungs- anspruch auf ein Einwirken der Gemeinde mittels der Organe der Gesellschaft gerichtet.37 Das Einwirken hat mittels der vorgeschriebenen Vertretungs- und Weisungsrechte (vgl. § 88 GemO) zu erfolgen (vgl. oben). C. Anspruchsvoraussetzungen I. Anspruchsberechtigung Zum Kreis der von § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO geschützten Dritten zählt, wer die von der Gemeinde beabsichtigte Leis-tung bereits anbietet oder zumindest konkret bereit ist, dies zu tun38. Die B-GmbH bietet entgeltliche Personenbeförde-rungen an. T betreibt ein Taxiunternehmen und bietet eben-falls Beförderungsleistungen an. Sie ist daher privater Dritter im Sinne von § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO und zählt zum geschützten Personenkreis. II. Errichtung eines wirtschaftlichen Unternehmens Wie bereits gesehen, ist in der Gründung der B-GmbH die Errichtung eines wirtschaftlichen Unternehmens zu sehen. III. Subsidiaritätsklausel, § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO Entscheidend kommt es darauf an, ob der Betrieb der B-GmbH gegen § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO verstößt. Danach darf bei einem Tätigwerden außerhalb der Versorgung mit Elektrizität, Gas und Wärme (Energieversorgung), der Ver-sorgung mit Wasser, der Versorgung mit Breitbandtelekom-munikation und des öffentlichen Personennahverkehrs der öffentliche Zweck nicht ebenso gut und wirtschaftlich durch einen privaten Dritten erfüllt werden oder erfüllt werden können (Subsidiaritätsklausel). Die Subsidiaritätsklausel greift 36 Breuer, WiVerw 2015, 150 (170); tendenziell verneinend Jungkamp, NVwZ 2010, 546 (547). 37 OVG NRW NVwZ 2003, 1520 (1521) – Fitness-Studio; Burgi (Fn. 15), § 17 Rn. 62; vgl. auch VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737 Rn. 37 ff. – Bürgerrufauto. 38 VerfGH RP NVwZ 2000, 801 (804).

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u.a. nicht ein, wenn der Betrieb des Bürgerruftaxis dem privi-legierten öffentlichen Personennahverkehr zugerechnet wird. Unter öffentlichem Personennahverkehr kann man die allge-mein zugängliche Beförderung von Personen mittels einer zwischen bestimmten Ausgangs- und Endpunkten nicht auf individuelle Nachfrage eingerichteten, sondern regelmäßigen Verkehrsverbindung verstehen, auf der Fahrgäste an be-stimmten Haltestellen ein- und aussteigen können (vgl. §§ 8, 42 PBefG).39 Zum öffentlichen Personennahverkehr kann nicht nur der klassische Linienverkehr gezählt werden, son-dern auch Einzelfahrten, die den Linienverkehr ergänzen (vgl. § 8 Abs. 2 PBefG). Soweit es sich tatsächlich um Zu-bringerfahrten zu den Linien des öffentlichen Personennah-verkehres in S handelt, stellt sich das Bürgerruftaxi als not-wendige und sinnvolle Ergänzung desselben dar (s.o.) und kann daher selbst als dessen Teil verstanden werden. Insoweit handelt es sich also um öffentlichen Personennahverkehr, für den die Subsidiaritätsklausel des § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO RLP nicht Platz greift.40

Soweit das Angebot der B-GmbH über die Ergänzung des öffentlichen Personennahverkehrs hinausgeht, handelt es sich hingegen um Individualpersonenverkehr.41 Insoweit fehlt es zwar bereits an der Rechtfertigung durch einen öffentlichen Zweck (siehe oben). Darauf kann sich T wie soeben festge-stellt mangels drittschützender Wirkung des § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GemO allerdings nicht berufen. Für ihren Unterlas-sungsanspruch kommt es allein darauf an, ob sie das Angebot der B-GmbH nicht ebenso gut und wirtschaftlich erfüllen kann. Es genügt nach der verschärften Subsidiaritätsklausel, dass Ts Angebot genauso gut und wirtschaftlich ist wie das der S oder umgekehrt: S muss den von ihr verfolgten Zweck besser und wirtschaftlicher erfüllen können als T. Bei dem insoweit erforderlichen Vergleich der Güte und Wirtschaft-lichkeit ist zu berücksichtigen, ob die Erfüllung des Zwecks auch durch den privaten Dritten nachhaltig gesichert ist.42 Je existenzieller die Leistungen für die Gemeindeeinwohner sind, desto strengere Anforderungen können an die Leistungs-erbringung durch den Privaten gestellt werden. Dabei kommt der Gemeinde aufgrund des prognostischen Elements des Vergleichs ein Beurteilungsspielraum zu. Sie ist allerdings im Streitfall darlegungs- und beweispflichtig.43

Die Mobilität der Gemeindeeinwohner kann jedenfalls bei einem weiten Verständnis als existenziell eingestuft werden. Nach eigenen Angaben kann T den Bedarf der Einwohner in S nach zusätzlichen Individualpersonenverkehrsleistungen problemlos abdecken, so dass die nachhaltige Versorgung der Einwohner mit entsprechenden Fahrdienstleistungen nicht ge-

39 VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737 Rn. 64, 66 – Bürger-rufauto. 40 Vgl. zu § 102 Abs. 1 Nr. 3 BWGemO VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737 Rn. 64, 66, 68 – Bürgerrufauto. 41 Vgl. VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737 Rn. 64, 67 – Bürgerrufauto. 42 VerfGH RP AS 27, 231 (244); Winkler (Fn. 5), § 3 Rn. 51; Storr (Fn. 35), § 8 Rn. 710. 43 VerfGH RP AS 27, 231 (243); Ehlers, DVBl. 1998, 497 (502); Brüning, NVwZ 2015, 689 (693).

fährdet erscheint. Etwas Anderes trägt auch die insoweit dar- legungs- und beweisbelastete S nicht vor. Allerdings räumt T ein, dass sie diese Leistungen nur zu einem Preis von bis zu 5 € und damit deutlich teurer als S anbieten kann. Dass die Ge-meinde ein wirtschaftliches Unternehmen errichten darf, wenn der öffentliche Zweck durch einen privaten Dritten nicht auch ebenso wirtschaftlich erfüllt werden kann, soll allerdings nicht den Einwohnern der Gemeinde ein möglichst günstiges Angebot sichern, sondern verhindern, dass die Gemeinde unwirtschaftliche Leistungen anbietet. Dies zum einen zum Schutz der Gemeinde vor einer Überschuldung, zum anderen aber eben auch zum Schutz Dritter vor einer Verdrängung durch unwirtschaftliche Angebote der Gemein-de, mit denen ein Privater nicht konkurrieren kann (vgl. oben). Umgekehrt besteht bei einem unwirtschaftlichen An-gebot des privaten Dritten die Gefahr, dass sich dieser über-schuldet und den verfolgten (öffentlichen) Zweck in Zukunft nicht mehr erfüllen kann. Das Angebot des Privaten muss also nicht günstiger sein als das der Gemeinde, aber gleich-wohl wirtschaftlich. Wirtschaftlichkeit meint ein angemesse-nes Verhältnis von Kosten und Nutzen. Nach den unbestritte-nen Angaben der T kann diese, wenn sie wie bisher für inner-städtische Taxifahrten bis zu 5 € verlangt, weiterhin gewinn-bringend wirtschaften. Mithin kann sie den Zweck ebenso wie die Gemeinde wirtschaftlich erfüllen. Damit steht dem Betrieb der B-GmbH, soweit diese Taxifahrten durchführt, die über Zubringer- und Abholfahrten zu den Linien des öffentlichen Personennahverkehrs hinausgehen, die Subsidia-ritätsklausel des § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO entgegen.44

Hinweis: § 107 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GO NRW nimmt eben-falls den öffentlichen Verkehr aus seinem Anwendungs-bereich heraus. Nach § 102 Abs. 1 Nr. 3 BWGemO und § 71 Abs. 2 Nr. 4 S. 2 ThürKO gilt die Subsidiaritäts- klausel überhaupt nur für Tätigkeiten außerhalb der Da-seinsvorsorge. Fasst man sowohl die notwendige Ergän-zung des öffentlichen Personennahverkehrs als auch die darüberhinausgehenden Individualverkehrsleistungen un-ter Daseinsvorsorge, scheidet danach ein Unterlassungs-anspruch aus. M.E. ist es aber vorzugswürdig, auch mit Blick auf die Daseinsvorsorge wie hier zu differenzieren, so dass die Lösung der vorgeschlagenen entsprechen würde.45 § 108 Abs. 1 Nr. 3 SaarKSVG, § 121 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 HESGO, § 101 Abs. 1 Nr. 3 SHGO, § 68 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 MVKV und § 94a SaGO sehen keine Ausnah-men vor, so dass die Tätigkeit der B-GmbH insgesamt an der Subsidiaritätsklausel zu messen ist. Teilweise verlan-gen die Gemeindeordnungen (insb. § 91 Abs. 3 S. 2 Bbg- KVerf und § 71 Abs. 2 Nr. 4 ThürKO, vgl. aber auch § 102 Abs. 2 BWGemO, § 121 Abs. 6 HESGO, § 108 Abs. 5 SaarKSVG, § 107 Abs. 5 GO NRW, § 68 Abs. 7 MVKV, § 94a Abs. 1 S. 2 SaGO), vor einer wirtschaftli-chen Betätigung der Gemeinde ein Marktanalyseverfahren

44 Im Ergebnis vergleichbar VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737 Rn. 73, 76 – Bürgerrufauto. 45 So für § 102 Abs. 1 Nr. 3 BWGemO auch VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737 Rn. 48, 59 ff. – Bürgerrufauto.

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durchzuführen, u.a. auch um festzustellen, ob am Markt bereits private Anbieter tätig sind, die die Leistung ebenso gut und wirtschaftlich bzw. besser und wirtschaftlicher erbringen können. Dann kann m.E. allein schon wegen der Nichtdurchführung einer Marktanalyse ein Verstoß gegen die Subsidiaritätsklausel angenommen werden.46

D. Ergebnis T hat aus § 85 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GemO einen Anspruch ge-genüber S auf Unterlassen der von der B-GmbH angebotenen Taxifahrten, die über Zubringer- und Abholfahrten zum öf-fentlichen Personennahverkehr hinausgehen. Frage 3: Erfordernis eines Vergabeverfahrens nach § 97 Abs. 1 S. 1 GWB? Ein Vergabeverfahren ist nach § 97 Abs. 1 GWB erforder-lich, wenn ein öffentlicher Auftrag vergeben werden soll. Nach § 103 Abs. 1 GWB sind öffentliche Aufträge u.a. ent-geltliche Verträge zwischen öffentlichen Auftraggebern und Unternehmen über die Beschaffung von Leistungen, die die Erbringung von Dienstleistungen zum Gegenstand haben. Demnach hat S ein Vergabeverfahren durchzuführen, wenn sie ein öffentlicher Auftraggeber im Sinne von § 99 GWB ist und die Beauftragung mit Mandatsfahrten einen Dienst- leistungsauftrag im Sinne von § 103 Abs. 4 GWB darstellen. Zusätzlich müsste der Schwellenwert gem. § 106 Abs. 2 GWB i.V.m. der Richtlinie 2014/24/EU überschritten sein und es dürfte keine Ausnahme nach § 108 GWB eingreifen. A. Öffentlicher Auftraggeber, §§ 97 Abs. 1 S. 1, 98, 99 Nr. 1 GWB Öffentliche Auftraggeber sind nach § 99 Nr. 1 GWB insbe-sondere Gebietskörperschaften. S ist als Gemeinde eine Ge-bietskörperschaft (§ 1 Abs. 2 GemO) und damit ein instituti-oneller öffentlicher Auftraggeber. B. Öffentlicher Auftrag, §§ 97 Abs. 1, 103 Abs. 1, Abs. 4 GWB Als Dienstleistungsaufträge gelten nach § 102 Abs. 1, Abs. 4 GWB entgeltliche Verträge über die Erbringung von Leistun-gen, die nicht unter die Absätze 2 und 3 fallen, also keine Liefer- oder Bauaufträge sind. Die Mandatsfahrten haben die Beförderung von Stadtratsmitgliedern sowie des Oberbürger- meisters und seiner Beigeordneten zum Gegenstand und damit weder die Beschaffung von Waren noch die Ausfüh-rung von Bauleistungen. Es handelt sich damit um Dienstleis-tungen. Für die Ausführungen der Mandatsfahrten will S 250.000 € zahlen, so dass es sich auch um einen entgeltlichen Vertrag handelt.

46 Vgl. auch VG Karlsruhe BeckRS 2017, 133737 Rn. 71 ff. – Bürgerrufauto.

C. Schwellenwert, § 106 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB i.V.m. Art. 4 lit. c RL 2014/24/EU i.V.m. Art. 1 Abs. 1 lit. c Del-VO (EU) 2017/2365 Nach § 106 Abs. 1 S. 1 GWB gilt das GWB-Vergaberecht nur, soweit der geschätzte Auftragswert des öffentlichen Auftrags den jeweils festgelegten Schwellenwert überschrei-tet. Nach § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB in Verbindung mit Art. 4 lit. c RL 2014/24/EU (VergabeRL) i.V.m. Art. 1 Abs. 1 lit. c DelVO (EU) 2017/2365 liegt der Schwellenwert für Dienst-leistungsaufträge bei 221.000 €. S will der F-GmbH für die Chauffeurdienstleistungen 250.000 € zahlen. Der voraussicht-liche Auftragswert überschreitet den erforderlichen Schwel-lenwert. D. Ausnahme bei Inhouse-Vergabe, § 108 GWB Damit steht an und für sich die Vergabe eines öffentlichen Auftrages im Raum, die nach § 97 Abs. 1 S. 1 GWB die vorherige Durchführung eines Vergabeverfahrens erfordert. Etwas Anderes könnte sich aus § 108 Abs. 1 GWB ergeben. Dieser formuliert eine Ausnahme vom GWB-Vergaberecht für Fälle, in denen die öffentliche Hand Aufträge „an sich selbst“ vergibt (Inhouse-Geschäft). Ein solches vergabe-rechtsfreies Inhouse-Geschäft setzt eine Kontrolle des Auf-traggebers über den Auftragnehmer wie über eine eigene Dienststelle voraus (Nr. 1), dass der Auftragnehmer im We-sentlichen, d.h. zu mehr als 80 %, für den Auftraggeber tätig ist (Nr. 2) und dass an dem Auftragnehmer keine private Kapitalbeteiligung besteht (Nr. 3). I. Kontrollkriterium, § 108 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 GWB § 108 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 GWB bestimmen, dass die Aus-übung der erforderlichen Kontrolle vermutet wird, wenn der öffentliche Auftraggeber einen ausschlaggebenden Einfluss auf die strategischen Ziele und die wesentlichen Entschei-dungen der juristischen Person ausübt. Entscheidend sind danach nicht allein die Beteiligungsverhältnisse, sondern Art und Umfang der Steuerung der Einrichtung durch den öffent-lichen Auftraggeber47. Bei einer kommunalen Eigengesell-schaft in der Rechtsform einer GmbH, d.h. bei einem 100 %-igen Anteil der Kommune, spricht zunächst das Weisungs-recht der Gesellschafterversammlung (§ 37 GmbHG) für eine Kontrolle wie über eine eigene Dienststelle.48 Dem könnte vorliegend aber entgegen stehen, dass S nicht alleinige Ge-sellschafterin der F-GmbH und auch nicht an der Geschäfts-führung beteiligt ist.

Gesellschafter der F-GmbH sind S und die SVG. Be-schlüsse der F-GmbH sind nach dem Gesellschaftsvertrag grundsätzlich mit einfacher Mehrheit zu fassen. S ist mit 75 % in der Gesellschafterversammlung vertreten, so dass sie grundsätzlich einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Ge-sellschafterbeschlüsse hat. Selbst wenn es einmal einer quali-fizierten Mehrheit bedürfte, für die die 75 % der S nicht aus-

47 BGHZ 148, 55 (63 f.); EuGH ZfBR 2009, 78 (80) – Coditel Brabant; siehe auch EuGH, Urt. v. 29.11.2012 – C-182/11 ECLI:EU:C:2012:758, Rn. 27 – Econord. 48 BGHZ 148, 55 (63 ff.).

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reichen, ist zu beachten, dass sich die Minderheitsgesellschaf-terin SVG zu 100 % in der Hand der S befindet. S kann also auch das Abstimmungsverhalten der SVG kontrollieren. Nach § 108 Abs. 2 S. 2 GWB kann die Kontrolle auch durch eine andere juristische Person ausgeübt werden, die von dem öffentlichen Auftraggeber auf gleiche Weise kontrolliert wird. Die Beteiligungsverhältnisse allein genügen allerdings noch nicht für die Annahme einer hinreichenden Kontrolle. Diese müssten auch einen ausschlaggebenden Einfluss auf die strategischen Ziele und wesentliche Entscheidungen ein-räumen. Eine GmbH wird durch ihren Geschäftsführer vertre-ten (§ 35 Abs. 1 S. 1 GmbHG). Er trifft mit Bindungswirkung für die Gesellschaft alle nach außen wirksamen Entscheidun-gen. Ein ausschlaggebender Einfluss auf die wesentlichen Entscheidungen könnte daher eine Beteiligung des öffentli-chen Auftraggebers an der Geschäftsführung verlangen. Al-lerdings räumt das Gesetz der Gesellschafterversammlung umfassende Befugnisse und Einflussmöglichkeiten auf die Geschäftsführung ein. Insbesondere obliegen den Gesell-schaftern sowohl die Berufung als auch die Abberufung und Entlassung der Geschäftsführung (§§ 45 Abs. 1, 46 Nr. 5 GmbHG). Sie können die Bestellung der Geschäftsführer jederzeit widerrufen (§ 38 Abs. 1 GmbHG). Die Gesellschaf-ter können die Befugnisse der Geschäftsführer im Innenver-hältnis durch Beschluss beschränken (§ 37 Abs. 1 GmbHG). Sie können die Geschäftsführung prüfen und überwachen (§§ 45 Abs. 1, 46 Nr.6 GmbHG) und dieser Weisungen ertei-len.49 Mithin wird die Tätigkeit einer GmbH maßgeblich nicht durch die Geschäftsführung, sondern durch die Gesell-schafterversammlung gesteuert. Sie ist als Leitungsorgan anzusehen, während die Geschäftsführung quasi nur ihr ver-längerter Arm im Außenverhältnis ist. Die unmittelbaren und mittelbaren Beteiligungsverhältnisse in der Gesellschafter-versammlung sprechen zusammen mit der Stellung der Ge-sellschafterversammlung als Leitungsorgan der GmbH damit für eine hinreichende Kontrolle.50 II. Wesentlichkeitskriterium, § 108 Abs. 1 Nr. 2 GWB Nach § 108 Abs. 1 Nr. 2 GWB müssen mehr als 80 Prozent der Tätigkeiten der F-GmbH der Ausführung von Aufgaben dienen, mit denen sie von S oder von einer anderen juristi-schen Person, die von S kontrolliert wird, betraut wird. Dem nicht zuzurechnen sind Tätigkeiten für Dritte. Dritter ist jede (juristische) Person, die weder selbst kontrollierender öffent-licher Auftragsgeber ist noch von diesem kontrolliert wur-de51. Entscheidend ist, dass die kontrollierte Einheit durch einen kontrollierenden öffentlichen Auftraggeber betraut wird. 49 OLG Düsseldorf NZBau 2017, 112 (114 Rn. 20) – Bundes-tagschauffeurdienst; Mager/Weßler, NZBau 2017, 342 (344). 50 Vgl. OLG Düsseldorf NZBau 2017, 112 (113 Rn. 17) – Bundestagschauffeurdienst; siehe auch Mager/Weßler, NZBau 2017, 342 (343, 344). 51 Noch vor Umsetzung von Art. 12 VergabeRL in § 108 GWB EuGH, Urt v. 8.12.2016 – C-553/15 ECLI:EU:C: 2016:93, NZBau 2017, 109 (111, Rn. 35 f.) – Undis Servizi; für eine Übertragung auf die neue Rechtslage Ziekow, NZBau 2017, 339 (341).

Dazu genügt nicht schon die Eröffnung eines Betätigungsfel-des, sondern es bedarf der eindeutigen Übertragung einer bestimmten Aufgabe aus dem Aufgabenkreis des öffentlichen Auftraggebers, über die dieser zur Disposition befugt ist52. Die Bestimmung des Tätigkeitsumfangs hat grundsätzlich den durchschnittlichen Gesamtumsatz der letzten drei Jahre vor Vergabe des öffentlichen Auftrags als Anknüpfungspunkt (§ 108 Abs. 7 GWB)53.

Die Mandatsfahrten sind eine bestimmte Aufgabe der Stadt. Die vertragliche Beauftragung der F-GmbH wäre eine hinreichend bestimmte Übertragung dieser Aufgabe. Eines Hoheitsaktes bedarf es insoweit nicht. Strenggenommen hat S die F-GmbH bisher aber gar nicht mit der Ausführung von Aufgaben betraut. Als Tätigkeiten für S sind allerdings auch Aufgaben anzusehen, die die F-GmbH für der S zurechenbare Stellen erbracht hat.54 In den letzten drei Jahren sind 35 % des durchschnittlichen Gesamtumsatzes der F-GmbH auf Tätigkeiten für den ERB entfallen. Der ERB ist ein Eigenbe-trieb der S. Eigenbetriebe werden von der Gemeinde nach § 86 Abs. 1 GemO als Sondervermögen mit Sonderrechnung ohne Rechtsfähigkeit geführt. Ein Eigenbetrieb weist also eine organisatorische, aber keine rechtliche Selbständigkeit auf55. Als Eigenbetrieb ist der ERB damit Teil der S und die von ihm erteilten Aufträge S zuzurechnen. Weitere 35 % des Umsatzes sind auf Tätigkeit für die SVG entfallen, die zu 100 % in der Hand der S ist und damit von ihr kontrolliert wird. Damit ist auch diese Tätigkeit nach § 108 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 GWB als Tätigkeit für S anzusehen. 15 % entfielen auf Tätigkeiten für die S-AG, die nicht von der S kontrolliert wird, sondern sich in privater Hand befindet. Sie können nicht als Umsätze für S angerechnet werden, sondern sind als Drittumsätze abzuziehen. Entscheidend kommt es daher auf die Tätigkeit für die C-GmbH an. Diese befindet sich eben-falls nicht in der Hand der S, sondern ist eine 100 %-ige Tochtergesellschaft der SVG. Alleinige Anteilseignerin der SVG ist aber wiederum die S. Den Fall einer zweifach ver-mittelten Kontrolle regelt § 108 Abs. 1 Nr. 2 GWB zwar nicht ausdrücklich. Auch insoweit liegen die maßgeblichen Steuerungsmöglichkeiten aber letztlich beim Auftraggeber selbst. Wegen der Vergleichbarkeit der Situation kann § 108 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 GWB daher entsprechend herangezogen werden.56 Insgesamt sind 85 % des durchschnittlichen Ge-samtumsatzes der vergangenen drei Jahre auf Tätigkeiten

52 Vgl. Ziekow, NZBau 2015, 258 (260); ders., NZBau 2017, 339 (342); nicht erforderlich ist, dass es sich um Pflicht- aufgaben handelt, so OLG Düsseldorf NZBau 2017, 112 (115 Rn. 27 f.) – Bundestagschauffeurdienst. 53 In Anknüpfung und Erweiterung von EuGH, Urt. v. 11.5. 2006 – C-340/04, ECLI:EU:C:2006:308, Rn. 64 = NZBau 2006, 452 (455) – Carbotermo. 54 Vgl. OLG Düsseldorf, NZBau 2017, 112 (114 Rn. 24) – Bundestagschauffeurdienst. 55 Burgi (Fn. 15), § 17 Rn 76; Greb, VergabeR 2015, 289 ff.; Ziekow, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, § 108 Rn. 8. 56 Im Ergebnis OLG Düsseldorf NZBau 2017, 112 (115 Rn. 29) – Bundestagschauffeurdienst.

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entfallen, mit denen die F-GmbH von S bzw. von juristischen Personen betraut wurde, die S kontrolliert. Die F-GmbH ist also im Wesentlichen für S tätig. III. Keine private Kapitalbeteiligung, § 108 Abs. 1 Nr. 3 GWB Schließlich bestehen an der F-GmbH entsprechend § 108 Abs. 1 Nr. 3 GWB keine direkten privaten Kapitalbeteiligun-gen. Die an der F-GmbH als Minderheitsgesellschafterin beteiligte SVG ist zwar als GmbH eine juristische Person des Privatrechts. Sie befindet sich aber selbst vollständig im Be- sitz der S. Es handelt sich also nicht um eine private Kapital-beteiligung, sondern um ein gemischt-öffentliches Unter-nehmen.57 IV. Zwischenergebnis Bei der Vergabe der Mandatsfahren an die F-GmbH handelt es sich somit um ein vergaberechtsfreies Inhouse-Geschäft. E. Ergebnis S muss vor der Beauftragung der F-GmbH kein Vergabe- verfahren durchführen.

57 OLG Düsseldorf NZBau 2017, 112 (115 Rn. 33) – Bundes-tagschauffeurdienst; Mager/Weßler, NZBau 2017, 342 (344, 345); VK Lüneburg, Beschl. v. 31.8.2005 – VgK 35/05 (ju-ris); Siegel, NVwZ 2008, 7 (10); Bultmann, NZBau 2006, 222 ff.; a.A. OLG Celle NZBau 2006, 130 (130); dazu auch Storr, SächsVBl. 2006, 234 (237).

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Fortgeschrittenenklausur: Must-Haves – Smartphone und Pfefferspray Von Privatdozentin Dr. jur. habil. Christine Morgenstern, Greifswald* Die Probleme des Falles liegen bei klassischen Fragen des Besonderen Teils, namentlich der Abgrenzung zwischen Sachbetrug und Trickdiebstahl, der Frage nach einem ge-fährlichen Werkzeug und dem Problem der „frischen Tat“ bei § 252 StGB. Der – für die Veröffentlichung um einen längeren Bearbeitungshinweis ergänzte – Sachverhalt wurde im Sommersemester 2018 im Rahmen der Übung im Straf-recht für Fortgeschrittene an der Georg-August-Universität Göttingen als erste Klausur ausgegeben. Die Bearbeitungs-zeit betrug 180 Minuten. 14 % der Bearbeitungen wurden mit vollbefriedigend oder besser bewertet. Mit einer Durchfall-quote von 26 % und einem Schnitt von 5,9 Punkten fiel die Klausur angesichts des nur mittleren Schwierigkeitsgrads ins- gesamt etwas schlechter aus als erwartet. Sachverhalt A braucht ein neues Smartphone, will aber keines kaufen. Gut findet er das neue Modell, das er bei einem entfernten Bekannten, dem X, gesehen hat. Er bittet daher seine Freun-din B, ihm das gute Stück zu „besorgen“. Dazu soll sie den X veranlassen, es ihr für ein dringendes Telefonat auszuleihen, danach soll sie es einfach einstecken.

So geschieht es: B nimmt ihre Schwester C mit, in die der X heimlich verliebt ist. Sie ist in den Plan eingeweiht. Sie passen den X an einer Bushaltestelle ab und erzählen ihm, dass die Tasche der C gestohlen worden ist, jetzt müssten sie dringend zu Hause anrufen – ob er ihnen kurz sein Telefon ausleihen könne. X ist froh, helfen zu können und übergibt das Telefon an C. Diese telefoniert tatsächlich zunächst. Dann gibt sie das Telefon an B weiter, die es in die Innen- tasche ihrer Jacke steckt. X ist darüber verwundert und bittet um die Rückgabe des Telefons – nun bräuchten sie es ja offenbar nicht mehr. B und C lachen ihn jedoch nur aus. X weiß nicht, wie er die Situation auflösen soll und wiederholt seine Bitte mehrfach erfolglos.

Als nach einer Viertelstunde der nächste Bus kommt, steigt C ein. B macht sich zu Fuß ebenfalls auf den Heimweg. X folgt ihr zögernd mit etwas Abstand. Nach etwa einem Kilometer fasst er sich ein Herz, holt B ein und tippt ihr von hinten auf die Schulter – sie solle ihm jetzt bitte endlich sein Telefon wiedergeben. B dreht sich daraufhin zu ihm um und hält ihm ein Pfefferspray, das sie aus ihrer Tasche gekramt hat, drohend vors Gesicht; sie will nicht ohne das Smartpho-ne bei A ankommen. Nun gibt X auf.

* Christine Morgenstern ist Senior Research Fellow am Trinity College Dublin und Privatdozentin an der Universität Greifswald. Ihr Dank gilt der Göttinger Juristischen Fakultät, die ihr während der Zeit ihrer Vertretungsprofessur (Lehr-stuhl für Strafrecht und Kriminologie, für Prof. Dr. Katrin Höffler) im Sommersemester 2018 zusätzliche Hilfskraft-stunden gewährte. Für tatkräftige Unterstützung dankt sie den stud. Hilfskräften Franziska Frech und Jan Cöster-Kaul.

B fährt nach Hause, packt das Smartphone hübsch ein und schenkt es bei einem netten Abendessen dem A, der sich sehr freut. Frage Wie haben sich die Beteiligten nach dem StGB strafbar ge-macht? Bearbeitungshinweis Etwa erforderliche Strafanträge gelten als gestellt. B lässt sich im Verfahren unwiderlegt dahingehend ein, dass ihr erst in dem Moment, als X sie angefasst habe, bewusst wurde, dass sie das Pfefferspray in der Tasche habe – sie habe es eigentlich immer dabei, weil man als junge Frau andernfalls nicht sicher sei. C und A haben davon nichts gewusst. Die Beweisaufnahme ergibt, dass es sich bei dem von B in einer pinkfarbenen Sprühdose mitgeführten Pfefferspray um eines handelt, das aus dem Pulver von Capsaicinoiden (OC), d.h. Paprika- oder Chilibeeren, gewonnen wird und als „Pink Lady Tierabwehrspray“ verkauft wird. Sie hat es bei einem Online-Händler erworben. Im Werbetext heißt es dort an einer Stelle, es handele sich um ein Tierabwehrspray, an einer anderen, es habe „Polizeistärke“, es sei für „diverse Bedro-hungen“ gedacht und „bringe gestandene Männer zum Wei-nen“. Lösungsvorschlag 1. Tatkomplex: An der Bushaltestelle – bis der Bus kommt1 A. Strafbarkeit der B2 I. Strafbarkeit gem. § 263 Abs. 1 StGB B könnte sich wegen der wahrheitswidrigen Behauptung, das Telefon nur kurz ausborgen zu wollen, wegen Betrugs gem. § 263 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben. 1. Tatbestand a) Täuschungshandlung Dazu müsste B den X über Tatsachen getäuscht haben. Eine Täuschung ist eine Einwirkung auf das Vorstellungsbild einer anderen Person, durch die bei ihr eine Fehlvorstellung er-

1 Dieser Handlungsabschnitt ist angelehnt an BGH NStZ 2016, 727 m. Anm. Kulhanek, JA 2016, 953, m. Anm. Kud-lich). Eine Klausurbearbeitung dieses Falles, die zwei Lö-sungvarianten enthält, findet sich auch bei Duttge/Burghardt, Jura 2018, 515 ff. 2 Der Aufbau erfolgt hier nach Personen getrennt. Da B und C den X gemeinsam an der Bushaltestelle abpassen, könnte man auch mit einer gemeinsamen Prüfung eines ggf. mittäter-schaftlichen Betrugs beginnen, es erscheint wegen der Ver-neinung des Betrugs schon beim objektiven Tatbestand aber übersichtlicher, die Frage der Mittäterschaft getrennt und erst bei C zu erörtern.

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zeugt wird. Sie kann durch die Vorspiegelung falscher oder Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen, explizit oder schlüssig erfolgen.3 B erklärte dem X wahrheitswidrig, sie wolle sich das Telefon nur kurz ausleihen, obwohl sie es ihm tatsächlich gar nicht zurückgeben wollte. Sie täuschte ihn damit ausdrücklich über ihr geplantes Vorgehen. b) Irrtum Durch die Täuschung müsste beim Adressaten ein Irrtum erregt worden sein, d.h. er müsste sich eine unrichtige Vor-stellung vom Sachverhalt4 gemacht haben. Durch die Be-hauptung der B stellte X sich vor, er würde das Telefon nur kurz – für die Dauer eines dringenden Telefonats – aus der Hand geben. Dies war jedoch eine durch die Täuschung be-dingte Fehlvorstellung, er erlag daher einem Irrtum. c) Vermögensverfügung Dieser Irrtum müsste den X unmittelbar zu einer Vermögens-verfügung veranlasst haben. Eine Vermögensverfügung ist jedes Handeln, Dulden oder Unterlassen, das sich unmittelbar vermögensmindernd auswirkt.5 Hier geht es um die Vermö-gensposition des Gewahrsams am Smartphone des X. Eine Verfügung über diesen Vermögensbestandteil liegt vor, wenn die getäuschte Person auf Grund freier, wenngleich durch Irrtum beeinflusster Entschließung, Gewahrsam übertragen will und überträgt, sich daher wegen des überlegenen Wis-sens der täuschenden Person selbst schädigt. In solchen Fäl-len wirkt sich der Gewahrsamsübergang unmittelbar vermö-gensmindernd aus.6 Voraussetzung ist allerdings, dass tat-sächlich Gewahrsam übertragen wird und durch die Täu-schung nicht nur eine Gewahrsamslockerung bewirkt wird. Ein Gewahrsamswechsel tritt erst dann ein, wenn von einer Person, die in Bezug auf die Sache eine Herrschaftswillen und die entsprechende Zugriffsmöglichkeit hatte, die Sach-herrschaft auf eine andere Person so übergegangen ist, dass sie ihr nach sozialer Anschauung zugerechnet wird; z.B. weil die Sache in einen Tabubereich nahe am Körper verbracht wurde.7

In der vorliegenden Fallgestaltung ist daher sorgsam zu prüfen, ob eine Gewahrsamsübertragung stattgefunden hat. Für die Erlangung von Gewahrsam durch B spricht, dass sie das Telefon in die Hand bekommt, was bei einer kleinen Sache grundsätzlich ausreicht.8 Zu bezweifeln ist aber, dass

3 Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommen-tar, 30. Aufl. 2019, § 263 Rn. 6; Joecks/Jäger, Strafgesetz-buch, Studienkommentar, 12. Aufl. 2018, § 263 Rn. 29. 4 Küper/Zopfs, Strafrecht, Besonderer Teil, 10. Aufl. 2018, Rn 381. 5 Joecks/Jäger (Fn. 3), § 263 Rn. 84; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 21. Aufl. 2019, § 2 Rn. 76; Wessels/ Hillenkamp/Schuhr, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 41. Aufl. 2018, Rn. 515 und 624. 6 Joecks/Jäger (Fn. 3), § 263 Rn 8; BGH NStZ 2016, 727. 7 BGH NStZ 2016, 727; vgl. zum Ganzen Rengier (Fn. 5), § 2, Rn. 75 ff.; Wessels/Hillenkamp/Schuhr (Fn. 5), Rn. 623 ff. 8 „Apprehension“, vgl. BGH NStZ 2011, 36.

sie alleinigen Gewahrsam erlangen konnte: Hier erfolgte nur eine „kontrollierte“ Weitergabe durch X, der in unmittelbarer Nähe blieb und ersichtlich – wichtig für die soziale Anschau-ung – keinen Gewahrsam übertragen wollte. Er hatte zu-nächst auch noch Zugriffsmöglichkeiten auf das Smartphone, das, nachdem X es der C übergeben hatte, beim Telefonieren in der Hand der C, später der B, blieb und damit noch nicht in einem Tabubereich direkt am Körper gelangte. Ein unbefan-gener Dritter hätte den Gewahrsam in dieser Konstellation daher auch noch dem X zugeordnet. Er blieb daher Mitge-wahrsamsinhaber. Im Ergebnis bewirkte die Täuschung daher keine Gewahrsamsübertragung, die als Vermögensverfügung zu werten wäre, sondern nur eine Gewahrsamslockerung; d.h. noch keinen unmittelbaren Vermögensverlust.9 2. Ergebnis B ist nicht gem. § 263 Abs. 1 StGB strafbar. II. Strafbarkeit gem. § 242 Abs. 1 StGB B könnte sich gem. § 242 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem sie das Telefon des X in die Innentasche ihrer Jacke steckte. 1. Tatbestand a) Objektiver Tatbestand aa) Fremde bewegliche Sache Das Smartphone steht im Eigentum des X und ist damit für B eine fremde bewegliche Sache. bb) Wegnahme B müsste das Smartphone weggenommen haben. Wegnahme ist die Aufhebung fremden Gewahrsams und die Begründung neuen Gewahrsams durch Bruch, d.h. gegen oder ohne den Willen des X.10 Wie oben festgestellt, sind Elemente des Gewahrsamsbegriffs die tatsächliche Sachherrschaft, der Wille zur Ausübung dieser Sachherrschaft und ergänzend soziale Anschauungen. Danach bestand zunächst noch Mitgewahr-sam des X, der durch die Übergabe an C zum kurzzeitigen Telefonieren mit dem Handy auch noch nicht aufgehoben, sondern nur gelockert war. Mit dem Einstecken des Telefons durch die B in die Innentasche ihrer Jacke (Tabubereich) wurde nun aber neuer Gewahrsam dergestalt begründet, dass der X keine Zugriffsmöglichkeiten mehr hat. Das Telefon ist nun in die Gewahrsamssphäre der B verschoben. Damit war der X nicht einverstanden, so dass hier ein Gewahrsamsüber-gang gegen seinen Willen, mithin durch Bruch vorliegt.

9 Bei dieser Fallgestaltung ist eine andere Auffassung nur mit erheblichem Begründungsaufwand vertretbar, vgl. hierzu Duttge/Burghardt, Jura 2018, 515 (523 f.) mit der Überle-gung, dass bei besonderer Betonung der Apprehension nicht Mit-, sondern Alleingewahrsam beim Täter entstanden ist, weil das Zurückholen des Telefons ggf. die Überwindung eines Widerstands (Festhalten) erfordert hätte. 10 Joecks/Jäger (Fn. 3), § 242 Rn. 10.

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b) Subjektiver Tatbestand aa) Vorsatz B müsste vorsätzlich gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner Tatumstände.11 B wusste, was sie tat und wollte dies auch. Mithin handelt sie vorsätzlich. bb) Zueignungsabsicht Zudem müsste sie mit Zueignungsabsicht gehandelt haben. Diese Absicht umfasst einmal den mindestens bedingten Vor- satz, den wahren Eigentümer auf Dauer zu enteignen. Hinzu kommen muss die Absicht, sich oder einem Dritten die Sache zumindest vorübergehend anzueignen, d.h. es muss Täter oder Täterin gerade darauf ankommen, sich die Sache in das eigene Vermögen einzuverleiben.12 Das geschieht auch, wenn die Sache wie hier weiterverschenkt werden soll, denn nur wer Eigentum hat, kann schenken. B maßt sich mithin eine eigentümerähnliche Stellung an. cc) Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung B wusste, dass sie auf die Sache keinen Anspruch hatte, han-delte damit mit der erforderlichen Absicht rechtswidriger Zueignung. 2. Rechtswidrigkeit und Schuld B handelte rechtswidrig und schuldhaft. 3. Ergebnis B ist gem. § 242 Abs. 1 StGB strafbar wegen Diebstahls. III. Strafbarkeit gem. § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB13 B könnte sich außerdem wegen schweren Diebstahls gem. § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB strafbar gemacht haben, indem sie das Handy einsteckte, während sie in ihrer Handtasche ein Pfefferspray mit sich führte. 1. Tatbestand a) Grundtatbestand B hat, wie oben geprüft, dem X das Telefon weggenommen. 11 Wenn der Sachverhalt keine Probleme in Bezug auf den Vorsatz erkennen lässt, insbesondere keinen Anlass gibt, von einem nur bedingten Vorsatz auszugehen, genügt diese Kurz-fassung (vgl. z. B. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, All-gemeiner Teil, 48. Aufl. 2018, Rn. 306; Joecks/Jäger [Fn. 3], § 15 Rn. 10). 12 Joecks/Jäger (Fn. 3), § 242 Rn. 69. 13 Der Aufbau ist nicht zwingend, der qualifizierte Diebstahl kann auch einheitlich unter einem Prüfungspunkt §§ 242, 244 StGB geprüft werden. Die getrennte Darstellung wurde aus didaktischen Gründen zur besseren Übersicht gewählt.

b) Qualifikation: Tatmittel aa) Pfefferspray als Waffe Dazu müsste das Pfefferspray, das B in ihrer Tasche hat, eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug sein.14

Eine Waffe im „technischen“, d.h. im eigentlichen, be-stimmungsgemäßen Sinn ist jedes Werkzeug, welches nach der Art seiner Konstruktion oder nach der Verkehrsauffas-sung allgemein dazu bestimmt und geeignet ist, Menschen durch seine mechanische oder chemische Wirkung körperlich zu verletzen15. Für eine solche Klassifikation des Pfeffer-sprays kann angeführt werden, dass es die Angriffs- und Abwehrfähigkeit von Menschen beseitigen bzw. herabsetzen kann und als Selbstverteidigungswaffe auch gerade soll, da- bei erhebliche Verletzungen zufügen kann, und mit Pfeffer-spray gefüllte Dosen als tragbare Gegenstände von Waffen-gesetz erfasst werden können.16 Allerdings gilt dies nur für solche Pfeffersprays, die für den Einsatz gegen Menschen gedacht sind. Hier ist das von B erworbene Spray zwar nicht eindeutig, aber immerhin auch als „Tierabwehrspray“ ge-kennzeichnet.17 Dies mag ein Verkaufstrick sein und die tatsächliche Gefährlichkeit und den Verwendungszweck ver- schleiern, muss der B dennoch zugute gehalten werden.18

14 In der Klausur fehlten im Bearbeitungshinweis genauere Angaben zur Art des Pfeffersprays. Es wurde nicht erwartet, dass die Bearbeiterinnen und Bearbeiter wussten, inwiefern hier das Waffengesetz anwendbar war. Sie sollten sich jedoch wenigstens kurz Gedanken dazu machen, ob eine Waffe in Betracht kommt. Wer hier überzeugend – wie inzwischen verschiedene Stimmen, die vor allem den Einsatz bei den Sicherheitsbehörden in den Blick nehmen, vgl. z.B. Eick, Kritische Justiz 2012, 89 (89 f.), und Gerhold/El-Ghazi, Neue Kriminalpolitik 2015, 97 (101) – argumentierte, dass das Pfefferspray mit erheblicher verletzende Wirkung als Selbst-verteidigungsmittel eingesetzt werden soll, konnte es sich leicht machen und die Waffeneigenschaft bejahen. Dies war aber kaum der Fall; so dass alle anderen sich mit der proble-matischen Definition des gefährlichen Werkzeugs auseinan-dersetzen mussten. 15 Grundlegend BGHSt 48, 197, 203 ff.; vgl. auch Küper/ Zopfs (Fn. 4), Rn. 758 m. w. N. 16 § 1 Abs. 2 Nr. 2 lit. a WaffG (i.V.m. Anlage 1 Abschnitt 1 Unterabschnitt 2 Nr. 1.2.2.), vgl. Heinrich, in: Joecks/ Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetz-buch, Bd. 8, 3. Aufl. 2018, § 1 WaffG Rn. 117; Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Straf-gesetzbuch, Bd. 4, 3. Aufl. 2017, § 244 Rn. 7; offengelassen in BGH, Urt. v. 20.9.2017 – 1 StR 112/17. 17 Vermieden werden soll gerade, dass sie unter das Waffen-gesetz fallen und erheblich mehr Restriktionen unterliegen, vgl. Jesse, NStZ 2009, 364. 18 Die Autorin möchte nicht verhehlen, dass sie dieser Trick in der Sache nicht überzeugt; die Details aus dem Bearbei-tungshinweis entsprechen der Realität, wie ein Blick in die einschlägigen Onlineshops schnell zeigt. Damit ist die Be-zeichnung „Tierabwehrspray“ nicht mehr als ein falsches Etikett; die Sprays werden de facto zur Vermittlung von

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bb) Pfefferspray als gefährliches Werkzeug Zu prüfen bleibt, ob es sich beim Pfefferspray um ein gefähr-liches Werkzeug handelt. Wann ein solches im Sinne der Norm vorliegt, ist umstritten. Nicht herangezogen werden kann die Definition des gefährlichen Werkzeugs aus § 224 StGB als „Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaf-fenheit und nach der Art seiner Verwendung als Angriffs- oder Verteidigungsmittel im konkreten Fall geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen“.19 Das nach § 244 StGB ausreichende „Bei-sich-Führen“ lässt nämlich gerade keinen Rückschluss auf die konkrete Verwendung (bzw. den Verwendungsvorsatz) zu. Der Anwendungsbereich für § 244 StGB ist daher gesondert zu bestimmen – wie dies geschehen soll, ist jedoch gerade für diese Norm umstritten.

Am weitesten gehen diejenigen Auffassungen, die eine abstrakt-objektive Sichtweise wählen: Ebenso wie bei der Waffe sei der Begriff nach der objektiven Gefährlichkeit zu bestimmen.20 Hier ist das in der Dose enthaltene Pfefferspray nach seiner konkreten objektiven Beschaffenheit geeignet, einem Opfer erhebliche Körperverletzungen zuzufügen, diese Auffassung würde daher zum Ergebnis kommen, dass das Pfefferspray auch in der vorliegenden Konstellation ein ge-fährliches Werkzeug darstellt. B hatte das Pfefferspray in ihrer Tasche, hat es damit nach dieser Auffassung auch bei sich geführt.

Eine einschränkende Auffassung fordert, dass situations-bezogen Gefährlichkeit bejaht werden kann; d.h. (nur) solche Werkzeuge sind gefährlich, die zum einen objektiv geeignet sind, erhebliche Verletzungen herbeizuführen, situationsbe-zogen aber auch gerade diesen Sinn haben sollen. Eine Ge-fährlichkeitsvermutung wird jedoch nur dann widerlegt, wenn das Bei-sich-Führen als normal oder sozialtypisch betrachtet werden kann und deshalb die „Waffenersatzfunktion“ gerade nicht zugeschrieben werden kann.21 Geht man davon aus, dass das Mit-Sich-Führen von Pfefferspray zur Selbstvertei-digung inzwischen als sozialadäquat betrachtet wird,22 müsste diese Auffassung zum Ergebnis kommen, dass noch keine situationsbezogene Gefährlichkeit vorlag, sofern man der Einlassung der B Glauben schenkt.23 Sicherheitgefühlen verkauft und zur Abwehr von Menschen bei sich geführt; die Konzentration des OC kann zu ganz erheblichen Verletzungen führen. 19 Küper/Zopfs (Fn. 4), Rn. 782. 20 Z. B. Fahl, Jura 2012, 596; vgl. zu den vertretenen Auffas-sungen auch BGHSt 52, 257; BGH NStZ 2012, 571; BGH, Urt. v. 20.9.2017 – 1 StR 112/17. Umfassend sind die Dar-stellungen bei Rengier (Fn. 5), § 4 Rn. 19 ff. und Küper/ Zopfs (Fn. 4), Rn. 789 ff. 21 Schmitz, in: Joecks/Miebach (Fn. 16), § 244 Rn. 15. 22 Entsprechend Rengier (Fn. 5), § 4 Rn. 33; vgl. auch Jesse, NStZ 2009, 364. 23 Bearbeiterinnen und Bearbeiter von Klausuren müssen wegen des Bearbeitungshinweises („lässt sich unwiderlegt dahingehend ein“) und des Grundsatzes in dubio pro reo ihren Überlegungen diesen behaupteten Sachverhalt zugrunde legen. Ob die Behauptung an der rechtlichen Einschätzung dann im Ergebnis etwas ändert, ist damit noch nicht gesagt.

Schließlich gibt es Auffassungen, die davon ausgehen, dass es wegen der genannten Abgrenzungsschwierigkeiten gerade keine einheitliche Definition des „gefährlichen Werk-zeugs“ im Sinne des § 244 StGB geben kann, sondern dass es stets entscheidend auf die konkrete Zweckbestimmung durch den Täter ankommt.24 Auch diese Auffassung würde hier zum Ergebnis kommen, dass wegen der Tatsache, dass B im Moment des Diebstahls gar nicht an das Pfefferspray dachte, sie kein gefährliches Werkzeug bei sich führte.

Wegen der unterschiedlichen Ergebnisse ist ein Streit- entscheid erforderlich. Gegen die zweit- und drittgenannte Auffassung spricht, dass sie sich vom Wortlaut entfernen und letztlich subjektive Kriterien in den objektiven Tatbestand hineinlesen, d. h. einen Verwendungsvorbehalt fordern, die das Merkmal des bloßen Bei-sich-Führens gerade ausschlie-ßen soll. Gegen die zuerst genannte Ansicht spricht grund-sätzlich, dass sie zu weitgehend Alltagsgegenstände einbe-zieht, die mehrere Zwecke haben können. Die Besonderheit ist hier allerdings, dass es sich bei einem Pfefferspray zwar mittlerweile offenbar um ein Accessoire handelt, das zum Ausgehen in die Handtasche gehört, dennoch gerade nicht um einen Mehrzweckgegenstand. Sachgerecht ist es wegen der Sozialadäquanz des Bei-sich-führens dennoch, eine ein-schränkende Auslegung vorzunehmen und in Anlehnung an die hier als zweites genannte Auffassung zu verlangen, dass das Pfefferspray „bewusst gebrauchsbereit“ mitgeführt wird – die Problemlösung wird dann weniger beim Aspekt, was ein gefährliches Werkzeug ist, sondern beim Aspekt, wann es „bei sich geführt“ wird, gefunden.25 Maßgeblicher Gesichts-punkt ist die sich aus der (bewussten) Verfügbarkeit eines derartigen Werkzeugs ergebende Gefahr einer effektiven An- wendung zum Vollendungszeitpunkt, hier also beim Gewahr-samsbruch durch das Einstecken. Im vorliegenden Fall ist die Angabe, dass der B nicht konkret bewusst war, dass sie das Pfefferspray bei sich hatte, plausibel, weil sie es ständig mit sich herumträgt. In dubio pro reo ist hier wegen ihrer Einlas-sung ein „bewusstes Bei-sich-Führen“ im Ergebnis abzu-lehnen.26 2. Ergebnis B ist nicht gem. § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB strafbar.

24 Wessels/Hillenkamp/Schuhr (Fn. 5), Rn. 274 ff.; Küper/ Zopfs (Fn. 4), Rn. 789, 793; Rengier (Fn. 5), § 4 Rn. 38. 25 So wohl auch Joecks/Jäger (Fn. 3), § 244 Rn. 21. Wegen der Subjektivierung ist es auch noch vertretbar, die Frage beim Vorsatz zu prüfen, vgl. für Prüfung beim Vorsatz OLG Schleswig StV 2004, 83. 26 A.A. gut vertretbar, insbesondere mit dem Hinweis, dass der spätere Einsatz zeigt, dass B sich jedenfalls sehr schnell wieder daran erinnern konnte. Die Einlassung der B muss jedoch in der Vorsatzprüfung genau berücksichtigt werden, denn der Vorsatz muss sich eben auch auf das Bei-Sich-Führen erstrecken.

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B. Strafbarkeit der C I. Strafbarkeit gem. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB C könnte sich des Diebstahls in Mittäterschaft gem. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben, wenn ihr die Tathandlung der B, d.h. das Einstecken des Telefons, über § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden kann, sie daher die Tat „gemeinschaftlich“ mit B begangen hat. 1. Tatbestand Wie die mittäterschaftliche Begehungsweise von einer bloßen Gehilfenhandlung abzugrenzen ist, ist umstritten,27 wobei sich die eine Gruppe der Auffassungen stärker auf den ge-meinschaftlichen Tatentschluss und das gemeinsame Tatinte-resse, d.h. auf subjektive Kriterien;28 die andere stärker auf die gemeinschaftliche Tatbestandsverwirklichung und die innegehabte Tatherrschaft der betreffenden Person, d.h. auf objektive Kriterien bezieht.29

Hier nahm die C nicht selbst weg, war aber insofern aktiv an der Tatausführung beteiligt, als sie bei der täuschungsbe-dingten Gewahrsamslockerung eine Rolle spielte und das Telefon „auslieh“. Sie war jedoch nicht diejenigen, die das Geschehen beherrscht hat und gegenüber der Wegnahme-handlung – dem Einstecken –, war ihr Tatbeitrag der C unter-geordnet. C hatte außerdem kein eigenes Tatinteresse; sie war am Handy oder auch nur am Erfolg der Tat (Geschenk für A) nicht weiter interessiert. Auch insofern, d.h. nach den eher subjektiv orientierten Auffassungen kommt hier lediglich eine Gehilfenhandlung in Betracht. 2. Ergebnis C ist nicht gem. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar. II. Strafbarkeit gem. §§ 242 Abs. 1, 27 StGB C könnte sich aber der Beihilfe zum Diebstahl gem. §§ 242 Abs. 1, 27 StGB strafbar gemacht haben, indem sie dem X vorspiegelte, dass sie das Telefon nur für ein Notfalltelefonat ausleihen wolle. 1. Tatbestand a) Objektiver Tatbestand aa) Haupttat Eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat liegt durch den von B begangenen Diebstahl vor. 27 Eine Gesmtdarstellung findet sich z.B. bei Hillenkamp/ Cornelius, 32 Probleme aus dem Strafrecht, Allgemeiner Teil, 15. Aufl. 2017, S. 161 ff. 28 Vor allem die Rechtsprechung folgt dieser Linie, vgl. schon RGSt 2, 160; BGHSt 2, 150; vgl. auch Fischer, Straf-gesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 66. Aufl. 2019, § 25 Rn. 4 ff. 29 Diese Auffassungen sind im Detail vielfältiger, vgl. z.B. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 25 Rn. 13; Joecks/Jäger (Fn. 3), § 25 Rn. 32 ff.; Murmann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2017, § 27 Rn. 8; Einzelheiten waren hier aber nicht notwendig und nicht verlangt.

bb) Hilfeleisten Die Handlung der C müsste sich als Hilfeleistung darstellen. Hilfeleistung wird als Förderung der Haupttat durch Rat oder Tat verstanden.30 Hier ist die skizzierte Handlung der C, die Bitte in der vorgebliche Notfallsituation zu telefonieren, die aktive Förderung der Haupttat durch Täuschung.

Hätte C nicht an der Täuschung mitgewirkt, wäre der Tat-erfolg (jedenfalls so) nicht eingetreten. Der Streit, ob eine Kausalität für den Erfolg notwendig ist oder irgendeine För-derung ausreicht,31 muss daher hier nicht entschieden werden, da die Voraussetzungen auch der engeren Auffassung – Kau-salität für den Taterfolg – gegeben sind. b) Subjektiver Tatbestand C hatte Vorsatz sowohl bezüglich der Haupttat, als auch be- züglich ihres Tatbeitrages, der Hilfeleistung. 2. Rechtswidrigkeit und Schuld Sie handelte rechtswidrig und schuldhaft. 3. Ergebnis C ist wegen Beihilfe zum Diebstahl gem. §§ 242 Abs. 1, 27 StGB strafbar. C. Strafbarkeit des A gem. §§ 242 Abs. 1, 26 StGB A könnte sich gem. §§ 242 Abs. 1, 26 strafbar gemacht ha-ben, indem er die B aufgefordert hat, ihm das Smartphone des X zu „besorgen“. I. Tatbestand 1. Objektiver Tatbestand a) Haupttat Eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat liegt durch den von B begangenen Diebstahl vor. b) Bestimmen zur Tat Die Aufforderung des X müsste sich als Bestimmen im Sinne des § 26 StGB darstellen. „Bestimmen“ ist das Hervorrufen des Tatentschlusses.32 Ohne die die Aufforderung und die genauen Vorgaben des A und wäre die B nicht auf die Idee gekommen, diese Tat mit dem entsprechenden Tatablauf zu begehen – er hat sie daher zur Tat bestimmt. 2. Subjektiver Tatbestand A hatte sowohl Vorsatz bezüglich der Haupttat, als auch bezüglich seines Tatbeitrags, dem Bestimmen zur Tat. II. Rechtswidrigkeit und Schuld Er handelte rechtswidrig und schuldhaft.

30 Joecks/Jäger (Fn. 3), § 27 Rn. 5. 31 Vgl. hierzu z.B. Murmann (Rn. 29), § 27 Rn. 124 ff. 32 Joecks/Jäger (Fn. 3), § 26 Rn. 9.

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III. Ergebnis A ist wegen Anstiftung zum Diebstahl gem. §§ 242 Abs. 1, 26 StGB strafbar. 2. Tatkomplex: An der Bushaltestelle – die Auseinander-setzung zwischen B und X I. Strafbarkeit der B gem. §§ 252, 250 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB33 Indem B dem X das Pfefferspray vorhielt, um ihn von seiner Rückforderung abzubringen, könnte sie sich gem. §§ 252, 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Abs. 2 StGB wegen räuberischen Diebstahls mit Waffen strafbar gemacht haben. 1. Objektiver Tatbestand a) Taugliche Vortat Ein vollendeter Diebstahl liegt, wie oben geprüft, als taugli-che Vortat vor. b) Qualifiziertes Nötigungsmittel B müsste qualifiziert genötigt haben, d. h. Gewalt verübt oder mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gedroht haben. Hier liegt wegen der konkludenten Ankündigung, dem X Pfefferspray ins Gesicht zu sprühen, wenn er nicht von seiner Rückforderung ablässt, eine Drohung mit einer gefährlichen Körperverletzung, d.h. die zweite Tatbestandsvariante vor. c) Auf frischer Tat betroffen Die B müsste die Drohung „bei“ einem Diebstahl, jedoch noch „auf frischer Tat betroffen“, ausgesprochen haben. Wie dieses Merkmal zu verstehen ist, ist umstritten. Auf frischer Tat ist jedenfalls betroffen, wer am Tatort oder nahe des Tatorts und alsbald nach Tatausführung als Täter oder Täterin wahrgenommen wird.34 B ist beim Einstecken des Handys von X beobachtet worden, insofern wurde sie wahrgenom-men bzw. betroffen. Fraglich ist aber, wie weit der „raumzeit-

33 Hier konnten diejenigen, die im 1. Tatkomplex einen Be-trug bejaht hatten, keinen § 252 StGB prüfen – es fehlt an einem Diebstahl. Sie mussten dann ausführlicher auf die in § 252 StGB enthaltene und insofern hier nicht gesondert geprüfte Nötigung gem. § 240 StGB eingehen und die Punkte wurden dort verteilt. Zur Überlegung, ob sich eine Siche-rungserpressung feststellen lässt vgl. Duttge/Burghardt, Jura 2018, 515 (526 f.). Da dies mangels weiterem Vermögens-schaden zu verneinen ist, bliebe das Pfefferspray ohne geson-derte Betrachtung, sollte aber wenigstens ausdrücklich bei der Verwerflichkeit in § 240 StGB erwähnt werden. Achtung: § 241 StGB kann nicht angenommen werden – die Drohung mit dem Pfefferspray ist die Drohung mit einer gefährlichen Körperverletzung, d.h. kein Verbrechen. 34 Sander, in: Joecks/Miebach (Fn. 16), § 252 Rn. 11 m.w.N. Die Frage, ob es ausreicht, dass sich der Dieb oder die Diebin entdeckt, d.h. subjektiv „betroffen“ fühlt (vgl. Bosch, in: Schönke/Schröder [Fn. 3], § 252 Rn. 4), ohne dass dies tat-sächlich der Fall ist, muss hier nicht erörtert werden.

liche Zusammenhang“,35 d.h. Tatortnähe und zeitliche Di-mension ausdehnen ist. Mit Blick auf den Sinn der Norm, das Opfer vor endgültigen Verlust seiner Sache zu schützen, ist anzuerkennen, dass ein ununterbrochener zeitlicher und räumlicher Zusammenhang in Gestalt der sog. „Nacheile“ auch dann ausreichen muss, wenn sich die Tathandlung nach einiger Zeit und entfernt vom Tatort zuträgt. Die zeitliche-materielle Grenze liegt nach dieser Auffassung beim endgül-tigen Verlust der Sache durch Beutesicherung, d.h. der Been-digung des Diebstahls.36

Die Wegnahme ist hier durch das Einstecken durch B ab-geschlossen, die Beute jedoch nicht endgültig gesichert, eine materielle Beendigung der Tat liegt damit noch nicht vor. Täterin und Tatopfer sind nicht mehr am Tatort, aber kom-men zusammen von dort, d.h. es gibt einen ausreichenden räumlichen Zusammenhang. Seit der Tat ist ca. eine halbe Stunde vergangen, aber es hat keine Unterbrechung des Zu-sammenseins von Täterin und Tatopfer gegeben, d.h. auch der zeitliche Zusammenhang ist eng genug. Insgesamt ist eine „frische Tat“ zu bejahen.37 d) Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs Die konkludente Bedrohung erfolgte mit dem Pfefferspray. Hier gilt das oben Gesagte: Objektiv ist das Pfefferspray wegen seiner Eignung, einen Angreifer abzuwehren und ihm ggf. Verletzungen zuzufügen grundsätzlich als gefährliches Werkzeug zu betrachten. Die bei § 244 StGB und entspre-chend bei § 250 StGB38 zu bejahenden Einschränkungen erfolgen über das Merkmal des „Bei-Sich-Führens“, das nach der oben befürworteten Auffassung ein Bewusstsein für das Vorhandensein und die potenzielle Gebrauchsmöglichkeit verlangt. Im Gegensatz zur Konstellation im 1. Tatkomplex hat sich jetzt aber dieses Bewusstsein aktualisiert, möglich-erweise, weil X die B angefasst hat. B hat das Spray nun nicht nur bei sich geführt (§ 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB), sondern sogar gem. § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB aktiv „verwen-det“, hierfür genügt auch der Einsatz zur Drohung.39 2. Subjektiver Tatbestand B handelte vorsätzlich und ausweislich der Sachverhalts- angaben auch gerade um sich im Besitz des gestohlenen

35 BGHSt 28, 224 (230) = BGH NJW 1979, 726. 36 Z.B. Vogel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 8, 12. Aufl. 2010, § 252 Rn. 7; ausführlich zur Frage auch Küper/ Zopfs (Fn. 4), Rn. 155 f. 37 Man hätte hier auch anders argumentieren und zu einem abweichenden Ergebnis kommen können – auffällig war aber, dass viele Bearbeiterinnen und Bearbeiter gar kein Pro- blembewusstsein entwickelten und insbesondere das Konzept der Nacheile nicht kannten. 38 Die Wertungen, was ein gefährliches Werkzeug ist, variie-ren zwischen § 224 StGB und § 244 StGB, nicht aber inner-halb der Gruppe der Eigentumsdelikte, vgl. Küper/Zopfs (Fn. 4), Rn. 789. 39 Joecks/Jäger (Fn. 3), § 250 Rn. 30.

Fortgeschrittenenklausur: Must-Haves – Smartphone und Pfefferspray STRAFRECHT

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Gutes zu erhalten, d.h. mit der notwendigen Beutesicherungs- absicht. 3. Rechtswidrigkeit und Schuld Sie handelte rechtswidrig und schuldhaft. II. Ergebnis B ist wegen schweren räuberischen Diebstahls gem. §§ 252, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB strafbar. 3. Tatkomplex: Beim Abendessen I. Strafbarkeit des A gem. § 259 StGB A könnte sich der Hehlerei gem. § 259 StGB strafbar ge-macht haben, indem er von B das Mobiltelefon entgegen-nahm, das sie zuvor dem X gestohlen hatte. 1. Objektiver Tatbestand a) Tatobjekt A müsste die Hehlereihandlung an einer Sache, die ein ande-rer gestohlen hat, begangen haben. Das Smartphone wurde, wie oben geprüft, dem X von B gestohlen. Fraglich ist dabei aber, ob es sich aus Sicht der A tatsächlich um die Tat eines „anderen“ im Sinne des § 259 StGB handelte, oder ob die Tatsache, dass A zu dieser Tat angestiftet hat, daran etwas ändert. Überwiegend wird davon ausgegangen,40 dass jede Tat, die der Betroffene nicht als „eigene“ begangen hat (d.h. nicht als Täter oder Mittäter) sich als eine fremde Tat dar-stellt, so dass auch der Anstifter zu Vortat Hehler sein kann. Diese Auffassung beruft sich dabei vor allem auf den Wort-laut. Einwenden lässt sich, dass der Anstifter wie der Haupt-täter bestraft wird, für den ja keine Hehlerei in Betracht kommt, und insofern ein zusätzliches Rechtsschutzbedürfnis fraglich ist. Letztlich ist kommt man jedoch am systematische Argument nicht vorbei, dass bei § 257 StGB die Ausnahme der Beteiligten von der Strafbarkeit ausdrücklich geregelt ist, diese Ausnahme sich in § 259 StGB aber gerade nicht fin-det.41 b) Taugliche Tathandlung Von den in § 259 StGB erfassten Tathandlungen, die alle ein einverständliches Verhalten umschreiben, kommt hier die Auffangvariante des „Sich-Verschaffens“ in Betracht. Es liegt vor, wenn eine Person eine selbständige tatsächliche Verfügungsgewalt zu eigenen Zwecken über die gehehlte Sache erhalten soll.42 Das ist bei einer Sache, die als „Ge-schenk“ übergeben wird, der Fall. Durch die Annahme als Geschenk hat sich A damit die Sache verschafft.

40 H.M. seit BGHSt 7, 134, vgl. Maier, in: Joecks/Miebach (Fn. 16), § 259 Rn. 61 m.w.N. 41 Maier (Fn. 40), § 259 Rn. 61. 42 BGHSt 27, 160 (163), Wessels/Hillenkamp/Schuhr (Fn. 5), Rn. 846.

2. Subjektiver Tatbestand A handelte mit Vorsatz und der erforderlichen Bereicherungs-absicht. 3. Rechtswidrigkeit und Schuld Er handelte rechtswidrig und schuldhaft. II. Ergebnis A ist wegen Hehlerei gem. § 259 StGB strafbar. Konkurrenzen und Gesamtergebnis B ist gem. §§ 252, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB wegen schweren räuberischen Diebstahls strafbar, der den zuvor begangen einfachen Diebstahl verdrängt (Spezialität).

A ist gem. §§ 242 Abs. 1, 26 StGB wegen Anstiftung zum Diebstahl und gem. § 259 StGB wegen Hehlerei strafbar. Die Taten stehen als getrennte Ereignisse gem. § 53 StGB in Realkonkurrenz zueinander.

C ist gem. §§ 242 Abs. 1, 27 StGB wegen Beihilfe zum einfachen Diebstahl strafbar.

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E n t s c h e i d u n g s b e s p r e c h u n g

Freie Wahl des Käufers zwischen Nachbesserung und Nachlieferung beim Neuwagenkauf 1. Ein Fahrzeug ist nicht frei von Sachmängeln, wenn die Software der Kupplungsüberhitzungsanzeige eine Warn- meldung einblendet, die den Fahrer zum Anhalten auf-fordert, um die Kupplung abkühlen zu lassen, obwohl dies auch bei Fortsetzung der Fahrt möglich ist. 2. An der Beurteilung als Sachmangel ändert es nichts, wenn der Verkäufer dem Käufer mitteilt, es sei nicht not- wendig, die irreführende Warnmeldung zu beachten. Dies gilt auch dann, wenn der Verkäufer zugleich der Herstel-ler des Fahrzeugs ist. 3. Der Verkäufer eines mit einem Softwarefehler behafte-ten Neufahrzeugs kann der vom Käufer beanspruchten Ersatzlieferung eines mangelfreien Fahrzeugs nicht ent-gegenhalten, diese sei unmöglich geworden (§ 275 Abs. 1 BGB), weil die nunmehr produzierten Fahrzeuge der be- treffenden Modellversion mit einer korrigierten Version der Software ausgestattet seien. 4. Der Wahl der Nacherfüllung durch Ersatzlieferung einer mangelfreien Sache steht – in den Grenzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) – grundsätzlich nicht ent- gegen, dass der Käufer zuvor vergeblich Beseitigung des Mangels (§ 439 Abs. 1 Alt. 1 BGB) verlangt hat. 5. Das Festhalten des Käufers an dem wirksam ausgeüb-ten Recht auf Ersatzlieferung einer mangelfreien Sache ist – ebenso wie das Festhalten des Käufers an einem wirksam erklärten Rücktritt vom Kaufvertrag (BGH, Urteile vom 5. November 2008 – VIII ZR 166/07, NJW 2009, 509 Rn. 23; vom 26. Oktober 2016 – VIII ZR 240/15, NJW 2017, 153 Rn. 31) – nicht treuwidrig, wenn der Mangel nachträglich ohne Einverständnis des Käu-fers beseitigt wird (hier durch Aufspielen einer korrigier-ten Version der Software). 6. Ob die vom Käufer beanspruchte Art der Nacherfül-lung (hier: Ersatzlieferung einer mangelfreien Sache) im Vergleich zu der anderen Variante (hier: Beseitigung des Mangels) wegen der damit verbundenen Aufwendungen für den Verkäufer unverhältnismäßige Kosten verursacht und diesen deshalb unangemessen belastet, entzieht sich einer verallgemeinerungsfähigen Betrachtung und ist auf- grund einer umfassenden Interessenabwägung und Wür-digung aller maßgeblichen Umstände des konkreten Ein-zelfalls unter Berücksichtigung der in § 439 Abs. 3 Satz 2 BGB a.F. (§ 439 Abs. 4 S. 2 BGB) genannten Kriterien festzustellen. 7. Für die Beurteilung der relativen Unverhältnismäßig-keit der vom Käufer gewählten Art der Nacherfüllung im Vergleich zu der anderen Art ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Zugangs des Nacherfüllungsverlangens ab- zustellen. 8. Der auf Ersatzlieferung in Anspruch genommene Ver-käufer darf den Käufer nicht unter Ausübung der Einre-de der Unverhältnismäßigkeit auf Nachbesserung verwei-

sen, wenn der Verkäufer den Mangel nicht vollständig, nachhaltig und fachgerecht beseitigen kann. […] (Amtliche Leitsätze) BGB §§ 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 439 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2, 242, 275 Abs. 1, 439 Abs. 3 a.F. BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17 (OLG Nürnberg, LG Nürnberg-Fürth)1 I. Sachverhalt (vereinfacht) A erwarb mit Kaufvertrag vom 20.7.2012 von B, die PKW herstellt und mit ihnen handelt, für 38.265,01 € einen Neu-wagen vom Typ BMW X3 xdrive20, der dem Kläger im September 2012 geliefert wurde. Das dem damaligen Serien-standard entsprechende Fahrzeug ist mit einem Schaltgetriebe sowie mit einer Software ausgestattet, die bei drohender Über- hitzung der Kupplung eine Warnmeldung einblendet. Ab Januar 2013 erschien mehrfach eine Warnmeldung, die den Fahrer aufforderte, das Fahrzeug anzuhalten, um die Kupp-lung abkühlen zu lassen:

„Kupplungstemperatur Vorsichtig anhalten und Kupplung abkühlen lassen. Der Vorgang kann bis zu 45 Minuten dau-ern. Nach Erlöschen der Meldung ist die Weiterfahrt mög-lich. Die Kupplung ist nicht beschädigt.“

Vom Kläger beanstandete Probleme mit der Kupplung und der Elektronik des Fahrzeugs führten zu mehreren Werk- stattaufenthalten bei B. Nachdem die Warnmeldung im Juli 2013 an zwei Tagen erneut auftrat, verlangte der Kläger mit Anwaltsschreiben vom 11.7.2013 unter Fristsetzung bis zum 30.9.2013 Lieferung einer mangelfreien Ersatzsache. B hatte A mündlich und später auch schriftlich mitgeteilt, dass die Kupplung auch im Fahrbetrieb abkühlen könne; es sei nicht notwendig das Fahrzeug anzuhalten. Während des Rechts-streits gab der Kläger das Fahrzeug am 14.10.2014 im Rah-men des Routinekundendienstes in eine Werkstatt der B. Ohne Beauftragung und Wissen das A wurde ein Software- update aufgespielt, dass die Warnmeldung modifizierte: „Kupplung im Stand oder während der Fahrt abkühlen lassen. Häufiges Anfahren und längeres Fahren unterhalb Schritt- geschwindigkeit vermeiden. Nach Erlöschen dieser Meldung ist die Kupplung abgekühlt und nicht geschädigt.“

A verlangt hält an dem Neulieferungsverlangen fest. Zu Recht? II. Einführung in die Probleme Der Fall handelt von zentralen Problemen des besonderen Schuldrechts, die sich für Klausuren oder Hausarbeiten eig-nen.2 Die Bestimmung des Sachmangels setzt sehr genaues Arbeiten mit dem Sachverhalt voraus: Die Kupplung des 1 Die Entscheidung ist abgedruckt in NJW 2019, 292 und online abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=89553&pos=0&anz=1 (22.7.2019). 2 So auch: Looschelders, JA 2019, 149 (149).

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Fahrzeugs selbst ist nicht defekt, es ist bei Autos in der rele-vanten Vergleichsgruppe normal, dass diese bei extensivem Stop-and-Go heiß werden. Stattdessen ist der Sachmangel in der fehlerhaften, zumindest unvollständigen, Warnmeldung zu erblicken. Diesen Unterschied zu erkennen und den bloßen „Anzeigefehler“ als Sachmangel zu würdigen, obwohl eine Weiterfahrt auch bei heißer Kupplung möglich ist, ist erste Hürde der Falllösung.

Der Bundesgerichtshof bestätigte das Vorliegen eines Mangels und schloss sich überwiegend der käuferfreundli-chen Ansicht der Vorinstanz an. Zentrale Streitpunkte sind, ob die angezeigte Warnmeldung in dieser Form erwartet werden darf, also Grundlage eines Sachmangels nach § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB sein kann, ob A trotz seiner anfänglich verlangten und mittlerweile angewandten Nachbesserung an seinem zwischenzeitlich geäußerten Neulieferungsverlagen erfolgreich festhalten kann und wie es sich auswirkt, dass das Softwareupdate nach Nacherfüllungsfristablauf den Fehler behoben hat – aber ohne Wissen des A aufgespielt wurde. Letztlich könnte die Form der verlangten Nacherfüllung unverhältnismäßig sein, eine Neulieferung ist für B wirtschaft- lich nachteilig, insbesondere weil mittlerweile zu vergleichs-weise geringen Kosten ein Softwareupdate aufgespielt wor-den ist. III. Lösung des BGH Der Fall eignet sich besonders für eine Besprechung im (ver-kürzten) Gutachtenstil, der BGH stellt gut erkennbar Sub-sumtionen heraus, die Struktur der Prüfung ist gut zu verfol-gen und bietet Gelegenheit die Entscheidung gutachterlich aufzubereiten.

A könnte einen Anspruch auf Neulieferung im Wege Nacherfüllung gem. §§ 437 Nr. 1, 439 BGB gegen B haben.

Einen Kaufvertrag haben A und B geschlossen. 1. Sachmangel bei Gefahrübergang Zudem müsste die Kaufsache einen Sachmangel gem. § 434 BGB bei Gefahrübergang im Sinne des § 446 S. 1 BGB auf-weisen. Dieses ist der Fall, wenn zum Gefahrübergangszeit-punkt die Beschaffenheit der Kaufsache negativ von dem abweicht, was der Käufer erwarten durfte.3 Diese Erwartung bemisst sich zuerst subjektiv, also danach, was Parteien hin-sichtlich der Beschaffenheit oder Verwendung vereinbart ha- ben.4 Anschließend kann nach einem objektivierten Fehler-begriff darauf rekurriert werden, was der Käufer gewöhnlicher- weise bei Sachen gleicher oder ähnlicher Art in Abwesenheit einer Vereinbarung erwarten darf.5 Die Beschaffenheit ist die einer Sache unmittelbar anhängende Eigenschaft bzgl. Größe, Gewicht, Material, Nutzbarkeit, Haltbarkeit und sonstiger Qualität. Auf eine lange Dauer kommt es nicht an; ausge- 3 Büdenbender, in: Dauner-Lieb/Langen, Kommentar zum BGB, 3. Aufl. 2016, § 434 Rn. 16. 4 Berger, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 17. Aufl. 2018, § 434 Rn. 8. 5 BGH NJW 2007, 1351; BGH NJW 2009, 2056; BGH NJW 2009, 2807 (2808); OLG Düsseldorf NJW 2006, 2858; OLG Koblenz NJW 2007, 1828; OLG Stuttgart NJW 2007, 612.

klammert bleiben allein kurzfristige Momentaufnahmen, die sich sofort wieder ändern und für den Käufer vernünftiger-weise nicht von Bedeutung sind.6 Die Beschaffenheit der Kaufsache liegt hier in einem Fahrzeug, dass regelmäßig eine irreführende Warnmeldung anzeigt, die den Fahrzeugführer zum Anhalten des Fahrzeuges auffordert, obwohl dieses zur Ursachenbehebung der Kupplungsüberhitzung nicht erforder-lich ist. a) Beschaffenheitsvereinbarung Die erwartbare Beschaffenheit des Fahrzeuges könnte durch Beschaffenheitsvereinbarung im Sinne des § 434 Abs. 1 S. 1 BGB festgelegt worden sein. Dieses ist der Fall, wenn sich die Parteien zumindest konkludent über eine oder mehrere konkrete Eigenschaften der Kaufsache ausgetauscht und ge- einigt haben.7 Ein ausdrücklicher Austausch über die Be-schaffenheit des Wagens hat nicht stattgefunden. Eine Be-schaffenheitsvereinbarung liegt deswegen nicht vor. b) Verwendungszweck Weiterhin könnte ein Verwendungszweck im Sinne des § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB die Soll-Beschaffenheit des Fahrzeugs konkretisieren. Voraussetzung ist, dass beide Parteien über-einstimmend eine gewisse Verwendung festgelegt haben,8 dieses ist vorliegend ebenfalls nicht ersichtlich. c) Gewöhnliche Verwendung Letztlich könnte die Soll-Beschaffenheit durch die gewöhnli-che Verwendung festgelegt sein; liegen weder Beschaffen-heits- noch Verwendungszweckvereinbarung vor, bemisst sich die Sachmangelhaftigkeit der Kaufsache nach objektivierten Kriterien. Ein Sachmangel liegt demnach vor, wenn die Sa-che nicht die gleiche Beschaffenheit aufweist, die der Käufer nach Art der Sache gewöhnlicherweise erwarten kann.9

„Für die gewöhnliche Verwendung eignet sich ein Kraft-fahrzeug grundsätzlich nur dann, wenn es nach seiner Be-schaffenheit keine technischen Mängel aufweist, welche die Zulassung zum Straßenverkehr hindern oder die Gebrauchs-fähigkeit aufheben oder beeinträchtigen […].“10

„Ein Anhalten des Fahrzeugs war indes […] zum Schutz der Kupplung tatsächlich nicht geboten, weil diese auch ab-kühlen kann, wenn die Fahrt fortgesetzt wird. […] Die Auf-forderung zum Anhalten des Fahrzeugs war daher irreführend und beeinträchtigte die gewöhnliche Verwendung des Fahr-zeugs als Fortbewegungsmittel im öffentlichen Straßenverkehr, weil die installierte Software den Fahrer aufforderte, den Fahr-betrieb ohne objektiv gegebenen Anlass zu unterbrechen.“11

„Das Fahrzeug wies – in Ansehung der irreführenden Softwaremeldung – bei Gefahrübergang auch nicht die Be-

6 Büdenbender (Fn. 3), § 434 Rn. 11. 7 Westermann, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 434 Rn. 16. 8 Berger (Fn. 4), § 434 Rn. 12. 9 Westermann (Fn. 7), § 434 Rn. 24. 10 BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17, Rn. 29. 11 BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17, Rn. 31.

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schaffenheit auf, die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer nach Art der Sache erwarten kann.“12

Damit liegt eine Negativabweichung der Fahrzeugbeschaf-fenheit von der üblichen und bei Sachen gleicher Art erwart-baren Sollbeschaffenheit vor. Folglich wäre somit grds. ein Sachmangel im Sinne des § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB gege-ben. d) Fehler ist Teil einer ganzen Fahrzeugserie Möglicherweise könnte der Annahme eines Sachmangels hier jedoch entgegenstehen, dass der Fehler bei der gesamten Fahrzeugserie auftrat und deswegen nach Art der Kaufsache doch zu erwarten gewesen sein könnte. Das gewöhnerlicher-weise Erwartbare könnte somit gerade in einem Fahrzeug mit entsprechender Warnmeldung liegen und letztlich so nicht von der Ist-Beschaffenheit abweichen.

Fraglich erscheint, ob der Vergleichsmaßstab zur Herlei-tung des Erwartbaren auf bloß eine Serie einer Kaufsache beschränkt sein kann. Problematisch erscheint, dass hierdurch fehlerhafte Serienprodukte den Standard so setzen könnten, dass objektiv fehlerhafte Produkte das Erwartbare und Ge-wöhnliche im Sinne des § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB ge-schrieben und deswegen Käufer Sachmangelrechte nicht gel- tend machen könnten.

Es ist deswegen hierbei „nicht lediglich eine auf densel-ben Fahrzeugtyp des Herstellers bezogene fabrikatsinterne Betrachtung abzustellen, sondern ein herstellerübergreifender Vergleichsmaßstab heranzuziehen, der Serienfehler unberück-sichtigt lässt […].“13

Abzustellen ist mithin auf eine hersteller- und serienüber-greifende Vergleichsgruppe von Fahrzeugen.14 Im Vergleich zu diesen Fahrzeugen anderer Hersteller und anderer Serien ist es nicht normal oder gewöhnlich, dass die vorbezeichnete Warnmeldung eingeblendet wird. Dass der Fehler bei einer ganzen Fahrzeugserie aufgetaucht ist, hindert die Annahme eines Sachmangels mithin nicht. e) Entgegenstehen einer mündlichen Richtigstellung Möglicherweise könnte der Annahme des Sachmangels aber entgegenstehen, dass A mehrfach durch Mitarbeiter oder Be- auftragte der B darauf hingewiesen worden ist, dass ein Soft- warefehler vorliegt und ein Anhalten entgegen der Display-anzeige nicht zu erfolgen braucht. Fraglich erscheint, ob es ausreicht die Fehlermeldung richtig zu stellen, an der Anzei-ge im Display aber nichts zu ändern.

„Eine bloß verbale Richtigstellung vermag jedoch nichts daran zu ändern, dass das […] veräußerte Fahrzeug […] der nach § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB erforderlichen Soll- beschaffenheit nicht entsprach, denn Sollbeschaffenheit ist die Lieferung eines Fahrzeugs ohne Einblendung einer irre-leitenden Warnmeldung. Daran ändert es nichts, wenn der Verkäufer, mag er auch der Hersteller des Fahrzeugs sein, dem Käufer mitteilt, die Warnung brauche nicht befolgt zu

12 BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17, Rn. 33. 13 BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17, Rn. 34. 14 So auch bereits BGH NJW 2009, 2056.

werden, denn Maßstab ist insoweit die objektiv berechtigte Käufererwartung […].“15

Demnach steht die bloße Übermittlung einer Richtig- stellung an A, zuerst mündlich, dann auch schriftlich, dem Vorliegen des Sachmangels nicht entgegen. f) Bei Gefahrübergang Weiterhin müsste der Sachmangel auch bei Gefahrübergang im Sinne des § 446 BGB vorgelegen haben. Gem. § 446 S. 1 BGB geht die Gefahr des zufälligen Untergangs mit der Über- gabe der Kaufsache auf den Käufer über. Ferner geht die Gefahr auf den Käufer über, wenn dieser sich im Annahme-verzug befindet, vgl. § 446 S. 3 BGB.16 Hier lag der Mangel bereits bei Übergabe vor. Ein Sachmangel bei Gefahrüber-gang ist gegeben. 2. Möglichkeit der Nacherfüllung Womöglich könnte der Anspruch des A auf Nachlieferung aus §§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB jedoch gem. § 275 BGB ausgeschlossen sein. Dieses ist der Fall, soweit die ge- schuldete Leistung für den Schuldner oder für jedermann un- möglich ist.17 Problematisch erscheint, dass durch ein Routine- softwareupdate alle Fahrzeuge hinsichtlich des Vorliegens der Fehlermeldung korrigiert worden sind und deswegen ein gleiches Fahrzeug zur Nachlieferung nicht mehr zu beschaf-fen sein könnte.

„[…] Der Anspruch auf Ersatzlieferung (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB) richtet sich darauf, dass anstelle der ursprünglich gelieferten mangelhaften Kaufsache nunmehr eine mangel-freie, im Übrigen aber gleichartige und gleichwertige Sache zu liefern ist […]. In Anbetracht dessen sind mit einer korri-gierten Software ausgerüstete Fahrzeuge der hier maßgebli-chen Modellversion vom Ersatzlieferungsanspruch umfasst. Der Umstand, dass der Fehler der Fahrzeugsoftware, wie die [B] behauptet, seit Juli 2013 beseitigt sei, bedeutet lediglich, dass die damit ausgerüsteten Fahrzeuge gegebenenfalls den hier festgestellten Sachmangel nicht mehr aufweisen.“18

Die Nachlieferung einer sachmangelfreien Sache ist mit-hin nicht unmöglich im Sinne des § 275 BGB, der Anspruch ist damit nicht ausgeschlossen. 3 Anspruchsausschluss wegen vorherigem Nachbesserungs-verlangen Es könnte A jedoch verwehrt sein, B auf Nachlieferung in Anspruch zu nehmen. Möglicherweise bindet ihn das vorhe-rige Nacherfüllungsverlangen in Form der Nachbesserung gem. § 439 Abs. 1 Alt. 1 BGB. Dieses wäre der Fall, wenn Nachbesserung und Nachlieferung Wahlschuld wären und nicht in elektiver Konkurrenz zueinander stünden. Dieses ist umstritten.

15 BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17, Rn. 36. 16 Ausführlich zum Gefahrübergang und Sachmangel jüngst Heinemeyer, NJW 2019, 1025 ff. 17 Lorenz, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, 49. Ed., Stand: 1.2.2019, § 275 Rn. 8. 18 BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17, Rn. 41.

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a) Wahlschuld Nach einer Auffassung handelt es sich bei den Alternativen des § 439 Abs. 1 BGB um Wahlschulden im Sinne des §§ 262 f. BGB.19 Bei der Wahlschuld ist die gewählte Leis-tung nach § 263 Abs. 2 BGB als die allein geschuldete anzu-sehen, es kommt zur sog. rückwirkenden Konzentration.20 Folgte man dieser Auffassung, dann wäre die Auswahl einer der Alternativen als Gestaltungserklärung zu verstehen, wel-che die jeweils andere Art der Nacherfüllungsmöglichkeit gem. § 263 Abs. 2 BGB erlöschen ließe. b) Elektive Konkurrenz Nach anderer Auffassung handelt es sich bei § 439 Abs. 1 BGB nicht um eine Wahlschuld, sondern um ein elektives Konkurrenzverhältnis.21 Folgte man dieser Auffassung, wür-de Auswahlfreiheit zwischen den gleichberechtigten Alterna-tiven des § 439 Abs. 1 BGB bestehen. Unabhängig davon sei die Bindung des Käufers an die Grundsätze von Treu und Glauben, also beispielsweise das Verbot widersprüchlichen Verhaltens oder des Rechtsmissbrauchs, das etwa verletzt sein kann, wenn der Käufer den Verkäufer, ohne ihm eine Frist gesetzt zu haben, mit einer veränderten Wahl konfron-tiert.22 So wäre das Nachlieferungsverlangen des A nicht durch die vorherige Forderung der Nachforderung ausge-schlossen, solange dieses mit den Geboten von Treu und Glauben vereinbar ist. c) Stellungnahme Beide Auffassungen gelangen hinsichtlich des Erfolges des Anspruches auf Nacherfüllung des A zu unterschiedlichen Ergebnissen, eine Stellungnahme ist erforderlich.

„Allein die letztgenannte Auffassung entspricht dem Ge-setzeszweck des § 439 Abs. 1 BGB, der dem Käufer eine Befugnis zur Auswahl gewährt und seine Rechte gegenüber dem Verkäufer erweitert. Entsprechend dieser Zielsetzung, die sowohl der unmittelbaren als auch der entsprechenden Anwendung des § 263 Abs. 2 BGB entgegensteht […], hat es der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes als legitim angesehen, den Käufer, der mit der Nacherfüllung das erhalten soll, was er vertraglich zu beanspruchen hat […], entscheiden zu lassen, auf welche Weise das Vertragsziel der Lieferung einer mangelfreien Sache doch noch erreicht wer-den kann […].

Allerdings kann der Käufer unter den besonderen Um-ständen des Einzelfalls mit Rücksicht auf die Gebote von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gehindert sein, von seinem Nachbesserungsverlangen Abstand zu nehmen und Ersatz- lieferung zu verlangen […].

19 Schellhammer, MDR 2002, 301 (301 f.); Büdenbender, AcP 205 (2005), 386 ff. 20 OLG Celle NJW 2013, 2004 ff.; Westermann (Fn. 7), § 439 Rn. 4 m.w.N. 21 Saenger, in: Schulze u.a., Kommentar zum BGB, 10. Aufl. 2019, § 439 Rn. 13; Schroeter, NJW 2006, 1761 (1762). 22 Westermann (Fn. 7), § 439 Rn. 5.

Dies ist jedoch nicht anzunehmen, wenn der Verkäufer die vom Käufer zunächst gewählte Nachbesserung nicht fach- gerecht zuwege gebracht hat und aus diesem Grund die ver-kaufte Sache zur Zeit der Ausübung des Nachlieferungs- verlangens nicht vertragsgerecht war. In einer solchen Fall- gestaltung ist es umgekehrt dem Verkäufer unter dem Ge-sichtspunkt von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, den Käufer an der ursprünglich getroffenen Wahl festzuhal-ten […].“23

Mithin ist der zweitgenannten Auffassung zu folgen, wo-nach die Alternativen des § 439 Abs. 1 BGB in elektiver Konkurrenz zueinander stehen. Es ist A damit nicht verwehrt, Nachlieferung zu verlangen weil er zuvor Nachbesserung verlangt hat. 4. Anspruchsausschluss aufgrund des aufgespielten Software- updates A könnte nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) daran gehin-dert sein, seinen Anspruch geltend zu machen. Dieses wäre der Fall, wenn er sich durch sein Nacherfüllungsverlangen besonders treuwidrig verhalten hätte. Ein solches Verhalten könnte darin zu sehen sein, dass A an dem Nachlieferungs-verlangen festhält, obwohl das Fahrzeug bereits mit einer korrigierten Softwaremeldung ausgestatten worden ist und ihn so derzeit nicht bei der Fahrt beeinträchtigt.

„Dem Verlangen […] nach einer Ersatzlieferung steht grundsätzlich nicht entgegen, dass der Softwarefehler […] während des Rechtsstreits behoben worden sei. Denn § 439 Abs. 1 BGB schützt entgegen der Ansicht der Revision nicht allein das Interesse, eine mangelfreie Sache zu erhalten, son-dern – den Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ent-sprechend […] – auch das Wahlrecht des Käufers zwischen Nachbesserung und Ersatzlieferung.

Der [A] könnte allerdings unter dem Gesichtspunkt treu-widrigen Verhaltens (§ 242 BGB) gehindert sein, an der durch das wirksam ausgeübte Verlangen nach Lieferung einer mangelfreien Sache erlangten Rechtsposition festzuhalten, sofern er mit einer Mängelbeseitigung durch Aktualisierung der Fahrzeugsoftware einverstanden gewesen wäre.“ 24

„[…] die bloße Hinnahme der Softwareaktualisierung [begründet aber] weder ein ausdrückliches noch ein still-schweigendes Einverständnis des Klägers mit der Beseiti-gung des Sachmangels.25

Hier wusste A nichts von der Vornahme der Mängel- beseitigung, sein Einverständnis hat er nie erklärt. Mithin hat A die Softwareaktualisierung mangels Kenntnis weder ver- anlasst noch war er mit ihr stillschweigend Einverstanden, er hat sie bloß hingenommen. Das Verlangen des A, weiter an seinem Wahlrecht aus § 439 Abs. 1 BGB festzuhalten, ist daher nicht treuwidrig und folglich nicht nach § 242 BGB ausgeschlossen.

23 BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17, Rn. 46 ff. 24 BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17, Rn. 53 f. 25 BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17, Rn. 55.

BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17 (OLG Nürnberg, LG Nürnberg-Fürth) Brockmann _____________________________________________________________________________________

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5. Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung Zuletzt könnte B die Nacherfüllung möglicherweise nach § 439 Abs. 4 S. 1 BGB verweigern dürfen. Dies ist der Fall, wenn die gewählte Art der Nacherfüllung nur mit unverhält-nismäßigen Kosten möglich ist.26 Fraglich ist, wie es sich auswirkt, dass der Mangel inzwischen behoben ist und keine weiteren Kosten für die nichtgewählte Art der Nacherfüllung, die Nachbesserung, anfallen würden. Problematisch erscheint hierbei, auf welchen Zeitpunkt hinsichtlich der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Kosten abzustellen ist – schließ-lich konnten von dieser potentiellen Unverhältnismäßigkeit weder A noch B zum Zeitpunkt des Vorliegens des Sach-mangels, zum Zeitpunkt des Nacherfüllungsverlangens oder zum Ablauf der Nacherfüllungsfrist etwas wissen.

„Für die Feststellung der Unverhältnismäßigkeit der vom Käufer gewählten Art der Nacherfüllung ist daher grundsätz-lich der Zugang des Nacherfüllungsverlangens maßgebend. Allerdings kann unter Umständen auch auf einen späteren Zeitpunkt abzustellen sein […]. So ist der Anspruch des Käu-fers auf Nacherfüllung zwar nicht an eine vorherige Fristset-zung geknüpft. Hat der Käufer dem Verkäufer aber gleich-wohl eine Frist zur Nacherfüllung bestimmt, wird es in der Regel interessengerecht sein, für die Beurteilung der Unver-hältnismäßigkeit der beanspruchten Art der Nacherfüllung auf den Ablauf der gesetzten Nacherfüllungsfrist abzustel-len.“27

Vorliegend liegt der Zeitpunkt der Mängelbehebung so-wohl nach dem Zeitpunkt des Nacherfüllungsverlangens, als auch nach dem Fristablauf zur Nacherfüllung. Zu beiden Zeitpunkten stand eine potentielle Unverhältnismäßigkeit noch nicht in Rede, die Fehlerbehebung war noch nicht mög-lich. Nach dem relevanten Betrachtungszeitpunkt liegt des-wegen keine Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung im Sinne des § 439 Abs. 4 S. 1 BGB vor. 6. Ergebnis A hat einen Anspruch auf Lieferung eines neuen Geländewa-gens vom Typ BMW X3 xdrive20 gem. §§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB gegen B. IV. Bewertung der Entscheidung Das Urteil ruft ins Gedächtnis, dass der Sachmangelbegriff in seiner Alternative des § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB viele, nicht immer auf den ersten Blick ersichtliche, Möglichkeiten abdeckt. Eine irreführende Warnmeldung, so sie das Verhal-ten des Fahrers beeinflussen kann, ist ebenso Sachmangel, wie eine (tatsächlich) defekte Kupplung; entscheidend ist die Negativabweichung vom Erwartbaren und das Überschreiten einer gewissen Erheblichkeitsschwelle.28 Dass es der Wahl der Nacherfüllung durch Ersatzlieferung einer mangelfreien Sache in den Grenzen von Treu und Glauben nicht entgegen-steht, dass der Käufer zuvor vergeblich Nachbesserung ver-

26 Höpfner, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, 49. Ed., Stand: 1.4.2019, § 439 Rn. 130. 27 BGH, Urt. v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17, Rn. 72. 28 Kaletsch, NJW 2019, 713 (716).

langt hat, leuchtet ein. Dies sollte aber in der Klausur auch ebenso einleuchtend niedergeschrieben werden können, ide-alerweise im Format eines Meinungsstreits mit überzeugen-den Argumenten. Gleiches gilt für die im Rahmen der Unmöglichkeit der Nacherfüllung angestellten Erwägungen: Natürlich kann es nicht sein, dass ein behobener Serienfehler dazu führt, dass eine Nacherfüllung durch Neulieferung un-möglich wird, wenn auslösendes Moment des § 439 Abs. 1 BGB gerade der mittlerweile behobene Serienmangel ist! Lehrreich kann die Entscheidung besonders hinsichtlich des relevanten Entscheidungszeitpunktes der Unverhältnismäßig-keit der Nacherfüllung im Sinne des. § 439 Abs. 4 S. 1 BGB sein. Die Entscheidung ist nachvollziehbar, ad hoc in der Klausurlösung ohne entsprechende Vorkenntnis aber nicht unbedingt (re-)produzierbar.

Das Urteil zeigt damit außerordentliche Klausur- und Hausarbeitsrelevanz für Lehrveranstaltungen im Besonderen Schuldrecht. Jedes der angesprochenen Probleme für sich besitzt bereits gewisse Prüfungsrelevanz, die Entscheidung birgt deswegen viel Potential gänzlich oder zumindest aus-zugsweise abgeprüft zu werden.

Dr. Tim Brockmann, Hannover

BGH, Urt. v. 15.11.2017 – 2 StR 128/17 (LG Wiesbaden) Böse _____________________________________________________________________________________

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ZJS 4/2019 323

E n t s c h e i d u n g s b e s p r e c h u n g

Beweisverwertungsverbot bei „legendierten Kontrollen“ 1. Der zollrechtlich zulässigen Durchsuchung eines Gegen-standes steht nicht entgegen, dass zum Zeitpunkt der Fahrzeuguntersuchung bereits ein Anfangsverdacht einer Straftat gegen den Angeklagten vorlag, der auch ein Vor-gehen nach §§ 102, 105 StPO ermöglicht hätte. Es besteht kein Vorrang strafprozessualer Vorschriften gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht, vielmehr stehen Gefahren- abwehr und Strafverfolgung als staatliche Aufgaben mit unterschiedlicher Zielrichtung gleichberechtigt neben- einander. 2. Die Verwendung der aus einer solchen Maßnahme gewonnenen Beweismittel richtet sich nach § 161 Abs. 2 S. 1 StPO. Ihr steht nicht entgegen, dass die zollrechtliche Kontrolle des Fahrzeugs nach § 10 ZollVG ohne richterli-chen Durchsuchungsbeschluss zulässig ist. Entscheidend ist, dass ein Ermittlungsrichter bei hypothetischer Be-trachtung einen entsprechenden richterlichen Durchsu-chungsbeschluss erlassen hätte. (Leitsätze der NStZ-Schriftleitung) StPO §§ 102, 105, 161 ZollVG § 10 BGH, Urt. v. 15.11.2017 – 2 StR 128/17 (LG Wiesbaden)1 I. Einleitung Der Aufgabenbereich der Polizei umfasst sowohl die Auf- klärung und Verfolgung von Straftaten (§ 163 StPO) als auch deren Verhütung im Rahmen der polizeilichen Gefahren- abwehr (§ 1 Abs. 1 PolG NRW). Diese Bündelung präventi-ver und repressiver Aufgaben kann im Einzelfall die Frage aufwerfen, ob eine konkrete polizeiliche Maßnahme der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung zuzuordnen ist. In engem Zusammenhang damit steht die abstrakte Fragestel-lung, in welchem Verhältnis die Wahrnehmung präventiver und repressiver Aufgaben zueinanderstehen, mit anderen Worten, ob ein Vorrang der strafprozessualen gegenüber den polizeirechtlichen Befugnissen besteht (oder umgekehrt). Sofern man die betreffende Maßnahme als präventiv qualifi-ziert und dieses Vorgehen für zulässig hält, stellt sich in ei-nem zweiten Schritt die Frage, ob die auf diese Weise erlang-te Information in einem Strafverfahren verwendet und als Beweismittel verwertet werden darf. Um diese beiden Fragen geht es bei der zu besprechenden Entscheidung. Ausgangs-punkt ist dabei indes nicht eine polizeiliche Maßnahme, son-dern eine zollrechtliche Kontrolle eines Fahrzeugs, die zur Sicherstellung von Drogen führte; dies macht jedoch für die

1 Die Entscheidung ist abgedruckt in NStZ 2018, 296 sowie NStZ-RR 2018, 84 und online abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=0c0016aa7d2af85bf5a12266776f17c2&nr=80748&pos=0&anz=1&Blank=1.pdf.

vorliegende Fragestellung keinen Unterschied, da auch die Zollbehörden insoweit gleichermaßen präventive (§ 1 Abs. 3 ZollVG) und repressive Aufgaben wahrnehmen (§§ 386, 404 AO i.V.m. § 372 AO i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG; §§ 24, 25 ZFdG).2 Die Besonderheit der vorliegenden Konstellation der „legendierten Kontrollen“ liegt vielmehr darin, dass bei der zollrechtlichen Untersuchung des Fahrzeugs nicht offen-gelegt wird, dass bereits ein strafrechtliches Ermittlungs- verfahren geführt wird; es stellt sich damit die Frage, ob und inwieweit dieser Umstand die Zulässigkeit der Maßnahme und die Verwertung des auf diese Weise erlangten Beweis-materials beeinflusst. II. Sachverhalt Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Im Rahmen eines gegen eine international agierende Rauschgift-bande geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wur-de im Zuge einer gegen den späteren Angeklagten A ange-ordneten Überwachung seines Mobiltelefons bekannt, dass dieser als Kurier für einen Lieferanten aus den Niederlanden tätig war. Als A auf einer Kurierfahrt aus den Niederlanden nach Deutschland zurückkehrte, veranlasste W, der als Beam-ter des Zollfahndungsdienstes an dem strafprozessualen Er-mittlungsverfahren beteiligt war, aufgrund der aus der Telefon- überwachung erlangten Erkenntnisse, dass das Fahrzeug des A auf der Autobahn von den Zollbeamten P und H angehalten und im Rahmen der zollamtlichen Überwachung durchsucht wurde (§ 10 Abs. 1, Abs. 2 ZollVG). Dabei wurden im Luft-filtergehäuse des Motorraums des Fahrzeugs zwei Päckchen Kokain mit einem Gewicht von jeweils 500 g aufgefunden und sichergestellt. In der Hauptverhandlung nahm das Land-gericht Wiesbaden in Bezug auf das sichergestellte Kokain ein strafprozessuales Verwertungsverbot an, da mit der Durch-suchung des Fahrzeugs auf der Grundlage der (präventiven) zollrechtlichen Befugnis der für eine strafprozessuale Durch-suchung vorgesehene Richtervorbehalt (§ 105 StPO) willkür-lich umgangen worden sei, und sprach den Angeklagten des- halb vom Vorwurf der Beihilfe zum Handeln mit Betäubungs- mitteln frei. III. Entscheidung Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob der BGH den Freispruch auf, weil das sichergestellte Kokain entgegen der Auffassung des Landgerichts als Beweismittel verwertbar ge- wesen sei. Dieses Ergebnis wird in zwei Schritten begründet, indem der BGH zunächst darlegt, dass die Durchsuchung auf der Grundlage der zollrechtlichen Befugnisse rechtmäßig ge- wesen sei, und sodann auf die Verwertbarkeit der auf diese Weise (rechtmäßig) erlangten Erkenntnisse eingeht.

Für die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung des Motor-raums ist nach Auffassung des BGH allein die in Anspruch genommene Befugnis (§ 10 ZollVG) maßgeblich. Insoweit sei auch das Landgericht zu dem zutreffenden Ergebnis ge-langt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der gesetz-lichen Ermächtigung vollständig vorgelegen hätten; anders 2 Siehe zur Doppelfunktion der Zollbehörden Böse, Wirt-schaftsaufsicht und Strafverfolgung, 2005, S. 497 f. m.w.N.

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als eine strafprozessuale Durchsuchung unterliege die zoll-amtliche Überwachung keinem Richtervorbehalt. Die Aus-übung der präventiven Befugnis sei auch nicht durch das Vorliegen eines strafprozessualen Anfangsverdachts gesperrt, da kein Vorrang der strafprozessualen Vorschriften bestehe, sondern die staatlichen Aufgaben der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung gleichberechtigt nebeneinander bestünden.3

Die nach § 10 ZollVG rechtmäßig erlangten Erkenntnisse seien auch im Strafverfahren gegen A verwertbar. Zur Be-gründung verweist der BGH auf § 161 Abs. 2 S. 1 StPO. So- fern eine strafprozessuale Ermittlungsmaßnahme nur bei Ver- dacht bestimmter Straftaten zulässig ist, dürfen danach die auf Grund einer entsprechenden Maßnahme nach einem an-deren Gesetz (in diesem Fall § 10 ZollVG) erlangten perso-nenbezogenen Daten zu Beweiszwecken im Strafverfahren nur zur Aufklärung solcher Straftaten verwendet werden, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme nach der StPO hätte angeordnet werden dürfen. Diese Voraussetzungen seien er-füllt, da die durch die zollamtliche Kontrolle erlangten Er-kenntnisse dem Nachweis einer „schweren Straftat“ im Sinne von § 100a Abs. 2 Nr. 7 StPO gedient hätten, zu deren Auf-klärung auch eine strafprozessuale Durchsuchung nach §§ 102, 105 StPO hätte angeordnet werden dürfen (hypotheti-scher Ersatzeingriff). Dass eine richterliche Anordnung tat- sächlich nicht vorgelegen habe, sei im Rahmen der vorzu-nehmenden hypothetischen Betrachtung nicht von Bedeutung.4 Ein Rückgriff auf hypothetische Erwägungen sei schließlich auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil mit der zollrecht- lichen Durchsuchung der Richtervorbehalt für die entspre-chende strafprozessuale Ermittlungsmaßnahme rechtsmiss- bräuchlich umgangen worden sei, denn mit der Durchsu-chung und Sicherstellung habe verhindert werden sollen, dass Betäubungsmittel in das Bundesgebiet eingeführt und in Umlauf gebracht würden, so dass mit der Maßnahme „jeden-falls auch der Zweck der Gefahrenabwehr“ verfolgt worden sei.5 IV. Analyse und kritische Würdigung Die Entscheidung führt die jüngere Rechtsprechung zu „le-gendierten Kontrollen“ fort, denn bereits zuvor hatte der 2. Strafsenat die auf der Grundlage strafprozessualer Er-kenntnisse initiierte Durchführung einer Durchsuchung auf präventiv-polizeilicher Grundlage und die anschließende Ver- wertung der sichergestellten Drogen als Beweismittel im Strafverfahren für zulässig erklärt.6 Diese Rechtsprechung ist im Schrifttum zum Teil heftig kritisiert worden. Diese Kritik richtet sich einerseits dagegen, dass die Durchsuchung über die polizeilichen Befugnisse im Rahmen der Gefahrenabwehr gerechtfertigt wird (1.), zum anderen gegen die Verwertung der auf diese Weise erlangten Erkenntnisse im Strafprozess (2.).

3 BGH NStZ 2018, 296 (297). 4 BGH NStZ 2018, 296 (297). 5 BGH NStZ 2018, 296 (297). 6 BGH NJW 2017, 3173 (3175 ff.).

1. Durchsuchung im Rahmen der zollamtlichen Überwachung Der erste Einwand gegen die Durchführung „legendierter Kontrollen“ richtet sich gegen die Heranziehung präventiver Befugnisse, um die Durchsuchung des Fahrzeugs zu rechtfer-tigen: Da die Durchsuchung auf der Grundlage strafprozessu-aler Erkenntnisse durchgeführt worden sei, habe die Gewin-nung von Beweismitteln für das Strafverfahren im Vorder-grund gestanden, so dass die Maßnahme nicht auf polizei-rechtliche (im hiesigen Kontext: zollrechtliche) Befugnisse gestützt werden dürften, sondern vielmehr allein auf die ein-schlägige strafprozessuale Ermittlungsbefugnis (§§ 102, 105 StPO).7 Mit dieser Kritik wird auf die „Schwerpunkttheorie“ des BVerwG Bezug genommen, wonach bei doppelfunktio-nalen Maßnahmen, die zugleich Zwecken der Gefahrenab-wehr und der Strafverfolgung dienten, entscheidend ist, wel-cher Zweck mit der Maßnahme nach ihrem Gesamteindruck (Schwerpunkt) verfolgt wird8.9

a) Um diesem Einwand nachzugehen, sind zwei Aspekte im Zusammenhang mit der Durchsuchung strikt voneinander zu trennen, nämlich einerseits deren Einordnung als präventi-ve oder repressive Maßnahme und andererseits (sofern es sich um eine präventive Maßnahme handelt) deren Recht- mäßigkeit nach Maßgabe der zollrechtlichen Befugnisse und eines gegebenenfalls bestehenden Vorrangs strafprozessualer Befugnisse. Bei der Schwerpunktformel geht es um den ers-ten Aspekt, denn das BVerwG wollte auf diese Weise sicher-stellen, dass über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme einheit-lich und durch das sachnähere Gericht entschieden wird.10 Mit der Schwerpunktformel sollen indes nur tatsächliche Unsicherheiten bei der Qualifizierung der Maßnahme gelöst werden, die daraus herrühren, dass die Polizei gegenüber dem Betroffenen nicht den Grund ihres Einschreitens angibt.11 Mit anderen Worten, auf den Schwerpunkt der Maßnahme kommt es nicht an, wenn der Grund für die Kontrolle gegenüber dem

7 Kempf, in: Barton/Eschelbach/Hettinger/Kempf/Krehl/Salditt (Hrsg.), Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 673 (679); Lange-Bertalot/Aßmann, NZV 2017, 572 (573); Lenk, NVwZ 2018, 38 (40); Zöller, StV 2019, 419 (427). 8 BVerwG NJW 1975, 893 (895); BVerwG NVwZ 2001, 1285 (1286). 9 Lenk, NVwZ 2018, 38 (40); Zöller, StV 2019, 419 (427). 10 BVerwG NJW 1975, 893 (894 f.); BVerwG NVwZ 2001, 1285 (1286). 11 BVerwG NJW 1975, 893 (895): „In aller Regel ist es für den Betroffenen nicht schwer, zu erkennen, ob die Polizei im konkreten Fall eine – begangene – Straftat erforschen (Straf-verfolgung) oder den Eintritt eines Schadens, etwa die – zu- künftige – Begehung einer strafbaren Handlung, verhindern oder eine bereits eingetretene Störung der öffentlichen Si-cherheit oder Ordnung beseitigen (Gefahrenabwehr) will. Außerdem wird man davon ausgehen dürfen, daß die Polizei dem Betroffenen – wie im vorliegenden Fall – den Grund ihres Einschreitens von sich aus oder auf Verlangen angibt. Im übrigen [Hervorhebung vom Verf.] kommt es darauf an, wie sich der konkrete Lebenssachverhalt einem verständigen Bürger in der Lage des Betroffenen bei natürlicher Betrach-tungsweise darstellt.“

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Betroffenen angegeben oder aus den Umständen erkennbar wird. Wird also zu Beginn der Fahrzeugkontrolle gegenüber dem Betroffenen darauf hingewiesen, dass diese im Rahmen der zollamtlichen Überwachung erfolgt, und dabei gegebenen-falls auch auf die zollrechtliche Befugnis verwiesen, so han-delt es sich um eine präventive Kontrollmaßnahme. Dem- gegenüber war es für den späteren Angeklagten zu diesem Zeitpunkt nicht erkennbar, dass gegen ihn bereits wegen einer Straftat ermittelt wurde, so dass sich die Durchsuchung seines Fahrzeugs nach dem äußeren Ablauf für ihn nicht als straf-prozessuale Maßnahme, sondern als präventive Kontrolle im Rahmen der zollamtlichen Überwachung darstellte.12 Der Hinweis, dass der präventive Zweck, die im Fahrzeug ver-steckten Drogen aus dem Verkehr zu ziehen, auch mit einer strafprozessualen Durchsuchung erreicht worden wäre13, än- dert an der Einordnung der Kontrolle nichts, wenn man diese nach dem tatsächlichen Verlauf vornimmt.14

b) Zu einem anderen Ergebnis gelangt man indes, wenn man die Schwerpunkttheorie normativ auflädt und die Befug-nisse der Polizei- und Zollbehörden dahingehend einschränkt, dass sie ihre Befugnisse nur zu dem Zweck ausüben dürfen, auf dem der Schwerpunkt der jeweiligen Tätigkeit liegt: Die-nen die Ermittlungen in erster Linie der Strafverfolgung, so wäre ein Rückgriff auf präventive Befugnisse ausgeschlossen (und umgekehrt). Dieses Verständnis geht jedoch weit über die von der Rechtsprechung für die Bestimmung des Rechts-wegs entwickelte Schwerpunktformel hinaus15, die es nach der Auffassung des BVerwG keineswegs ausschließt, dass eine polizeiliche Maßnahme zugleich auf polizeirechtliche und strafprozessuale Vorschriften gestützt wird.16 Mit der beschriebenen Deutung der Schwerpunktformel ginge zudem eine Beschneidung der polizeilichen Handlungsspielräume ein- her, die in den einschlägigen gesetzlichen Grundlagen nicht angelegt ist und mit Blick auf die Verteilung der Gesetz- gebungskompetenzen zwischen Bund (Strafprozessrecht) und Ländern (Polizeirecht) höchst problematisch wäre, da weder die Strafprozessordnung als Bundesgesetz die landesrechtli-chen Befugnisse der Polizei zur Gefahrenabwehr begrenzen kann noch umgekehrt die Landespolizeigesetze die strafpro-

12 Siehe dagegen Kempf (Fn. 7), S. 673 (679); Lange-Berta- lot/Aßmann, NZV 2017, 572 (573), die jeweils darauf abstel-len, dass die legendierte Kontrolle integraler Bestandteil des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ist. Da dies für den Betroffenen nicht erkennbar ist, wird dieser Umstand nicht bei der Einordnung der Maßnahme, sondern bei der Frage be- deutsam, ob ein Rückgriff auf die präventiven Befugnisse sich als missbräuchliche Umgehung der strafprozessualen Vor-schriften darstellt, siehe dazu unten d). 13 In diesem Sinne Börner, StraFo 2018, 1 (3); Lange-Bertalot/ Aßmann, NZV 2017, 572 (575); Schiemann, NStZ 2017, 657. 14 I.E. ebenso Nowrousian, NStZ 2018, 254, der allerdings als entscheidend ansieht, dass die durch eine verdeckte Kontrolle ermöglichte Ermittlung der Hintermänner weitergehende Maß-nahmen zur Gefahrenabwehr ermöglicht. 15 Ebenso Löffelmann, JR 2017, 596 (598). 16 BVerwG NVwZ 2001, 1285 (1286).

zessualen Ermittlungsbefugnisse einschränken können.17 Erst recht widerspräche es der eigenständigen Regelung polizei-rechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Ermittlungsbefug-nisse, wenn man mit dem Bestehen eines strafprozessualen Anfangsverdachts bzw. der Begründung der Beschuldigten-stellung von einem Vorrang der Strafverfolgung ausgehen wollte, der einen Rückgriff auf polizeirechtliche Befugnisse von vornherein ausschließt.18 Dies wäre insbesondere un- vereinbar mit den präventiven Befugnissen, deren Eingriffs-voraussetzungen inhaltlich einem strafprozessualen Verdacht entsprechen (§ 10 Abs. 3 ZollVG: zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das vorschriftswidrige Mitführen von Wa- ren) und damit, wollte man sich der oben genannten Vorrang- these anschließen, keinen Anwendungsbereich mehr hätten.19 Der BGH hat daher zu Recht einen Vorrang strafprozessualer Vorschriften gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht abge-lehnt.20 Dementsprechend hat der Gesetzgeber im Steuerrecht sogar ausdrücklich angeordnet, dass die Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde im Besteuerungs-verfahren und im Strafverfahren sich nach den für das jewei-lige Verfahren geltenden Vorschriften richten (§ 393 Abs. 1 S. 1 AO), und damit einem Vorrang des Steuerstrafverfahrens eine Absage erteilt.21

c) Geht man somit davon aus, dass ungeachtet der bereits laufenden strafprozessualen Ermittlungen gegen A eine Kon-trolle seines Fahrzeugs im Rahmen der zollamtlichen Über-wachung grundsätzlich zulässig ist, so gilt dies natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die Maßnahme zumindest auch präventiven Zwecken dient. Da mit der Durchsuchung des Fahrzeugs und der anschließenden Sicherstellung der Drogen das Ziel verfolgt wurde, das Rauschgift aus dem Verkehr zu ziehen, hat der BGH diese Voraussetzung mit Recht bejaht. Darüber hinaus müssten die gesetzlichen Voraussetzungen der maßgeblichen Eingriffsbefugnis vorgelegen haben. Insoweit ist in den Entscheidungsgründen von einer zollrechtlichen Kontrolle gem. § 10 Abs. 3 ZollVG die Rede. Diese Befugnis regelt allerdings nur die Durchsuchung von Personen (§ 10 Abs. 3 S. 1 ZollVG), während die Prüfung von Fahrzeugen und Gepäck bzw. Ladung, die auch die Durchsuchung um-fasst22, anderweitig geregelt ist (§ 10 Abs. 1 S. 5, Abs. 2 ZollVG). Für die Durchsuchung des Fahrzeugs ist daher die

17 Schenke, NJW 2011, 2838 (2841 f.); siehe auch im vorlie-genden Zusammenhang Brodowski, JZ 2017, 1124 (1126); Löffelmann, JR 2017, 596 (597 f.). 18 Gubitz, NStZ 2016, 128; Mosbacher, JuS 2016, 706 (709); Mosbacher, JuS 2018, 129 (130); Müller/Römer, NStZ 2012, 543 (546); für eine kumulative Rechtmäßigkeitsprüfung nach Gefahrenabwehr- und Strafprozessrecht: Schefer, Die Vortäu- schung eines Zufallsfundes im Strafverfahren, 2019, S. 201 ff. 19 BGH NJW 2017, 3173 (3176). 20 Siehe bereits BGH NJW 2017, 3173 (3176); zustimmend Brodowski, JZ 2017, 1124 (1126); Löffelmann, JR 2017, 596 (597 f.); Nowrousian, NStZ 2018, 254 (255). 21 Siehe dazu Böse (Fn. 2), S. 469 ff. m.w.N. 22 Häberle, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Neben-gesetze, Kommentar, 224. Lfg., Stand: März 2019, § 10 ZollVG Rn. 5.

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letztgenannte Befugnis maßgeblich. Da die Kontrolle nicht im grenznahen Raum erfolgte (§ 10 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 ZollVG), ist diese nur zulässig, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass in dem betreffenden Fahrzeug der zollamtlichen Überwachung unterliegende Waren mitgeführt werden (§ 10 Abs. 2 ZollVG). Ein solcher Grund setzt keinen individualisierten Anfangsverdacht voraus, sondern ist bereits dann gegeben, wenn nach den Erfahrungen der Zollverwal-tung oder aufgrund entsprechender Hinweise an bestimmten Verkehrswegen oder bei bestimmten Personengruppen in ver- stärktem Maße mit einem prüfungsbedürftigen Sachverhalt zu rechnen ist.23 Dass die Zollbeamten, von denen die Kon-trolle durchgeführt wurde, keine genaue Kenntnis von den Hintergrundermittlungen gegen die Rauschgiftbande hatten, steht also der Rechtmäßigkeit der Maßnahme nicht entgegen, da sich aus dem Hinweis des W bereits ein ausreichender Grund für die Durchführung der Kontrolle ergab. Letztlich kommt es darauf indes nicht an, da die zollrechtliche Kon-trolle von W angeordnet wurde, dem die gegen A bestehen-den Verdachtsmomente nach dem Stand der Ermittlungen bekannt waren. Die Durchsuchung des Fahrzeugs war daher von der zollrechtlichen Befugnis gedeckt und somit grund-sätzlich rechtmäßig.

d) Gegen eine Heranziehung der zollrechtlichen Durch- suchungsbefugnis wird schließlich angeführt, dass auf diese Weise die strafprozessualen Vorschriften zur Durchsuchung, insbesondere der Richtervorbehalt (§ 105 Abs. 1 StPO), um-gangen würden. Wenngleich der BGH diese Frage erst als Voraussetzung eines möglicherweise bestehenden Beweis-verwertungsverbotes prüft24, betrifft sie richtigerweise bereits die Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung.25 Mit dem Begriff der Umgehung wird dabei sinngemäß zum Ausdruck gebracht, dass die Polizei- bzw. Zollbeamten die präventive Befugnis zu dem Zweck missbrauchen, sich den formalen und materi-ellen Eingriffsvoraussetzungen des Strafverfahrensrechts zu entziehen und damit den gesetzlichen Schutz des Beschuldig-ten zu verkürzen.26 Folgt man der vom BGH vertretenen Auf- fassung, dass die Aufgaben der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung gleichrangig sind und die insoweit bestehen-den Befugnisse parallel ausgeübt werden können, so hat das Umgehungsargument indes einen schweren Stand, denn nach dieser Auffassung ist nur folgerichtig, dass für die Rechtferti-gung der Maßnahme je nach verfolgtem Zweck unterschied-liche Anforderungen gelten. Ein Missbrauch läge daher nur dann vor, wenn mit der Maßnahme nicht der Zweck verfolgt wird, zu dessen Verwirklichung die betreffende Befugnis begründet worden ist. Dementsprechend hat der BGH einen Missbrauch mit der knappen Begründung verneint, dass die

23 Häberle (Fn. 22), § 10 ZollVG Rn. 7, mit Hinweis auf die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 13/5737, S. 8. 24 Siehe auch BGH NJW 2017, 3173 (3177 f.). 25 Albrecht, HRRS 2017, 446 (451 f.); Schefer, Vortäuschung (Fn. 18), S. 188 ff. m.w.N. 26 Börner, StraFo 2018, 1 (3); Kempf (Fn. 7), S. 673 (681); Lenk, StV 2017, 692 (696); Löffelmann, JR 2017, 596 (598 f.); Mitsch, NJW 2017, 3124 (3125 f.); Schefer (Fn. 18), S. 229; Zöller, StV 2019, 419 (427).

Kontrollmaßnahme „jedenfalls auch“ der Gefahrenabwehr diente.27

Den strafprozessualen Vorschriften könnte nur dann eine weitergehende Bedeutung zukommen, wenn sie den Beschul-digten im Strafverfahren in besonderer Weise schützen sollen und der Sinn und Zweck der Schutznorm es gebietet, ihn auch auf präventive Ermittlungsmaßnahmen zu erstrecken.28 In Bezug auf den Richtervorbehalt ist dies jedoch nicht der Fall, denn dieser dient dem präventiven Rechtsschutz der von der Durchsuchung betroffenen Person, bei der es sich um den Beschuldigten (§ 102 StPO), aber auch um einen Dritten (§ 103 StPO) handeln kann. Als Betroffener, der von der Durchsuchung zu unterrichten ist (§§ 35, 107 StPO), ist viel- mehr die durchsuchte Person bzw. der Gewahrsamsinhaber in Bezug auf die durchsuchten Sachen oder Räumlichkeiten anzusehen.29 Dass mit der Durchsuchung Beweise erhoben werden, die in einem späteren Verfahrensstadium gegen den Beschuldigten verwertet werden, ist insoweit nicht ausrei-chend.30 Dementsprechend dient der Richtervorbehalt dem Schutz der Grundrechte der von der Durchsuchung betroffe-nen Person (vgl. Art. 13 Abs. 2 GG), knüpft aber nicht an den Beschuldigtenstatus an. Es besteht daher insoweit auch kein Bedürfnis, den Beschuldigten vor den Auswirkungen einer polizeirechtlichen Durchsuchung auf seine Verfahrensrechte zu schützen.

Ein besonderes Schutzbedürfnis könnte sich aber daraus ergeben, dass der Betroffene mit dem Rückgriff auf präven-tiv-polizeiliche (bzw. zollrechtliche) Befugnisse darüber im Unklaren gelassen wird, dass gegen ihn bereits ein strafrecht-liches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist31, und er daher (zumindest im Strafverfahren) nicht verpflichtet ist, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken (Nemo tenetur se ipsum accusare).32 Um die Aussagefreiheit des Beschul- digten im Strafverfahren zu schützen, dürfen die steuerrecht-lichen Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren nicht mit Hilfe von Zwangsmitteln durchgesetzt werden, sofern der Steuerpflichtige dadurch gezwungen würde, sich selbst we-gen einer Steuerstraftat zu belasten (§ 393 Abs. 1 S. 2 AO); das Zwangsmittelverbot wird überdies durch eine entspre-chende Belehrungspflicht ergänzt (§ 393 Abs. 1 S. 4 AO). Bei Kontrollen im Rahmen der zollamtlichen Überwachung ist ein solcher Schutz nicht vorgesehen, da diese in der Regel im Vorfeld eines Anfangsverdachts stattfinden (siehe oben IV. 1. c). Ist ein solcher Verdacht aber bereits gegeben, so besteht gleichermaßen ein Bedürfnis, die kontrollierte Person davor zu schützen, dass ihr Recht, selbstbelastende Angaben

27 BGH NStZ 2018, 296 (297). 28 In diesem Sinne Mitsch, NJW 2017, 3124 (3126). 29 Mosbacher/Claus, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafprozessordnung, Kommentar, 3. Aufl. 2018, § 35 Rn. 4; Wohlers/Jäger, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, GVG und EMRK, Bd. 2, 5. Aufl. 2016, § 107 Rn. 4. 30 Siehe dagegen Mitsch, NJW 2017, 3124 (3125). 31 Börner, StraFo 2018, 1 (3); Kempf (Fn. 7), S. 673 (680); Zöller, StV 2019, 419 (427). 32 Lange-Bertalot/Aßmann, NZV 2017, 572 (573).

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zu verweigern, nicht unterlaufen wird, indem sie zur Mitwir-kung an der Kontrolle aufgefordert wird (vgl. § 10 Abs. 1 S. 6 ZollVG). Zwar ist eine Belehrungspflicht im Rahmen der zollamtlichen Überwachung, anders als im Besteuerungs-verfahren, nicht ausdrücklich vorgesehen; die fehlende Offen-legung des gegen A geführten Ermittlungsverfahrens er-scheint aber gleichwohl bedenklich, da dieser ungeachtet sei- nes Beschuldigtenstatus zu Beginn der Kontrolle gezielt über mitgeführte Betäubungsmittel befragt wird, ohne ihn über seine Rechte als Beschuldigter zu unterrichten, und damit die entsprechenden Schutzvorschriften im Strafverfahren unter-laufen werden (§§ 163a Abs. 4 i.V.m. §§ 136, 136a StPO).33 Aufgrund der besonderen Gefährdungslage für die Rechte des Beschuldigten, die mit der Doppelfunktion der Polizei- und Zollbehörden einhergeht, sind die strafprozessualen Vor-schriften zum Schutz der Aussagefreiheit bei einer Befragung des Beschuldigten im Zusammenhang mit einer Ausübung präventiver Befugnisse zu beachten, d.h. der Beschuldigte ist über seine Aussagefreiheit zu belehren.34 Unter diesem As-pekt ist das Umgehungsargument mithin berechtigt; die mit einer legendierten Kontrolle geschaffene Umgehungsgefahr betrifft allerdings nicht die Durchsuchung als solche, sondern nur die Befragung der kontrollierten Person und deren aktive Mitwirkung bei der Fahrzeugkontrolle. Ähnliche Probleme stellen sich bei der (strafprozessualen) Vernehmung, die sich an die Sicherstellung der im Fahrzeug versteckten Drogen anschließt; da die Vernehmung dem Beschuldigten Gelegen-heit geben soll, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, ist ihm die zur Last gelegte Tat vollständig mitzuteilen, d.h. die Information des Beschuldigten muss sich auch auf den tat-einheitlich begangenen Vorwurf der Einfuhr von Betäubungs-mitteln erstrecken und darf nicht aus ermittlungstaktischen Gründen beschränkt werden.35 2. Verwertung der sichergestellten Drogen im Strafverfahren Hält man die Durchsuchung des Fahrzeugs nach § 10 ZollVG für zulässig, so stellt sich die Frage, ob die auf diese Weise erlangten Beweismittel (das sichergestellte Kokain) als Be-weismittel im Strafverfahren gegen A verwertet werden darf. Der BGH hat diese Frage ebenfalls bejaht.

a) Mit der Übermittlung von Beweismaterial und der da-rauf bezogenen personenbezogenen Daten wird in das infor-mationelle Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) der betroffenen Person eingegriffen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG bedarf insoweit nicht nur die Übermittlung, sondern auch die Entgegennahme (und an-schließende Verwendung) der Information zur Strafverfolgung

33 Mosbacher, JuS 2018, 129 (131); vgl. allgemein Böse (Fn. 2), S. 512 f. 34 Vgl. allgemein zur verfahrensübergreifenden Geltung der strafprozessualen Vorschriften zum Schutz der Aussagefrei-heit: Böse (Fn. 2), S. 502 ff. (508 ff.). 35 Albrecht, HRRS 2017, 446 (455 f.); Brodowski, JZ 2017, 1124 (1128); Krehl, StraFo 2018, 265 (270). Diese Frage wurde vom BGH bislang offengelassen, vgl. BGH NJW 2017, 3173 (3178).

einer gesetzlichen Grundlage („Zwei-Türen-Modell“).36 Die Weiterleitungsbefugnis der Zollbehörden ergibt sich insoweit aus § 12 S. 1 ZollVG, die Befugnis der Staatsanwaltschaft, diese Information entgegenzunehmen, ergibt sich aus der Ermittlungsgeneralklausel (§ 161 Abs. 1 S. 1 StPO).37 Dem-gegenüber hat der BGH die Verwertung der sichergestellten Drogen auf § 161 Abs. 2 S. 1 StPO gestützt (siehe oben III.). Sofern eine strafprozessuale Ermittlungsmaßnahme nur bei Verdacht bestimmter Straftaten zulässig ist, dürfen danach die auf Grund einer entsprechenden Maßnahme nach einem anderen Gesetz (in diesem Fall § 10 ZollVG) erlangten per-sonenbezogenen Daten zu Beweiszwecken im Strafverfahren nur zur Aufklärung solcher Straftaten verwendet werden, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme nach der StPO hätte angeordnet werden dürfen (hypothetischer Ersatzeingriff). Im Schrifttum wurde mit Recht darauf hingewiesen, dass die Voraussetzungen dieser Norm bei einer Durchsuchung nicht gegeben sind, da eine strafprozessuale Durchsuchung nicht nur bei einem Verdacht bestimmter (d.h. besonders schwerer) Straftaten zulässig ist (vgl. z.B. § 100a Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2, Abs. 2 StPO), sondern grundsätzlich zur Aufklärung und Verfolgung jedweder Straftaten angeordnet werden kann.38 Auf Beweismittel, die durch eine zollrechtliche Durchsu-chung erlangt worden sind, ist § 161 Abs. 2 S. 1 StPO somit gar nicht anwendbar. Als „Türriegel“39 (im Sinne einer Ver-wendungsbeschränkung) steht er damit einer Verwertung des erlangten Beweismittels nicht entgegen.

b) Selbst wenn man den in § 161 Abs. 2 S. 1 StPO nor-mierten Maßstab des hypothetischen Ersatzeingriffs anwen-den wollte, wären die dafür geltenden Voraussetzungen ge-geben und eine Verwertung zulässig. Dem BGH ist darin zuzustimmen, dass es insoweit allein auf die materiellen Eingriffsvoraussetzungen ankommt, also darauf, ob eine Durchsuchung auch auf der Grundlage der §§ 102, 105 StPO hätte angeordnet werden können.40 Im Schrifttum wird dies für unzureichend gehalten, da der tatsächlich (gegenüber der polizeilichen Maßnahme) gewährte Rechtsschutz dem hypo-thetischen Rechtsschutz entsprechen muss, wie er nach Maß-gabe der StPO zu gewährleisten ist.41 Diese Anforderungen haben im Wortlaut des § 161 Abs. 2 S. 1 StPO indes keinen Niederschlag gefunden, der allein auf einen materiellen Maß-stab (Art/Schwere der Straftat) verweist. Sie lassen sich aber auch über den Sinn und Zweck des hypothetischen Ersatz- eingriffs nicht begründen, der verhindern soll, dass mit der Verwendung der nach § 10 ZollVG erhobenen Information zur Strafverfolgung das gegenüber strafprozessualen Grund-

36 BVerfGE 130, 151 (184); siehe dazu im vorliegenden Zu-sammenhang Brodowski, JZ 2017, 1124 (1127); Zöller, StV 2019, 419 (421). 37 Zöller StV 2019, 419 (421, zur Ermittlungsgeneralklausel). 38 Brodowski, JZ 2017, 1124 (1127); Löffelmann, JR 2017, 596 (602); Nowrousian, NStZ 2018, 254 (255); Zöller, StV 2019, 419 (426). 39 Vgl. den treffenden Ausdruck von Zöller, StV 2019, 419 (421). 40 BGH NJW 2017, 3173 (3177); NStZ 2018, 296 (297). 41 Mitsch, NJW 2017, 3124 (3126).

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rechtseingriffen geltende informationelle Schutzniveau unter-laufen wird; diese Gefahr besteht nicht, wenn die materiellen Eingriffsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der Umwidmung der erhobenen Information vorliegen.42 Für den hypothetischen Ersatzeingriff ist daher nur erforderlich, dass die Erhebung auch nach Maßgabe der StPO zulässig (gewesen) wäre; auf die tatsächliche Einhaltung formeller Voraussetzungen kommt es dagegen bei einer hypothetischen (!) Betrachtung nicht an.43 Wollte man auf formelle Anforderungen (Richtervorbe-halt) und deren tatsächliche Beachtung abstellen, so liefe das darauf hinaus, die Polizei- und Zollbehörden dazu anzuhal-ten, die strafprozessualen Vorschriften vorsorglich auch bei Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu beachten44, was der Eigenständigkeit und Gleichrangigkeit der beiden Bereiche zuwiderliefe (siehe oben IV. 1. b). Dementsprechend wird im Schrifttum de lege ferenda gefordert, die formellen Eingriffs-voraussetzungen im Polizei- und Strafverfahrensrecht anzu-gleichen.45 Indes kann es gute Gründe dafür geben, präventi-ve Maßnahmen keinem Richtervorbehalt zu unterwerfen: So kann das Interesse an einer effektiven Gefahrenabwehr insbe-sondere auch Kontrollen im Vorfeld eines Anfangsverdachts rechtfertigen (§ 10 Abs. 1, 2 ZollVG, siehe oben IV. 1. c). Ein Richtervorbehalt hätte in diesem Fall nur den Effekt, die Durchführung verdachtsunabhängiger, stichprobenartiger Kon-trollen zu erschweren, ohne im Rahmen des präventiven Rechtsschutzes eine über die Prüfung des konkreten Tatver-dachts begründete Kontrolle und Begrenzung des Eingriffs leisten zu können. V. Fazit Der Rechtsprechung des BGH zur Zulässigkeit „legendierter Kontrollen“ auf der Grundlage präventiver Befugnisse ist in- soweit zuzustimmen, als solche Maßnahmen ungeachtet eines bereits eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zulässig sind und die daraus erlangten Erkenntnisse im Straf-verfahren grundsätzlich verwertbar sind. Ungeachtet dessen birgt ein Vorgehen, mit dem das parallel geführte strafrechtli-che Ermittlungsverfahren verheimlicht wird, besondere Ge-fahren für die Rechtsstellung des Beschuldigten, insbesonde-re für seine Aussagefreiheit, denen durch eine entsprechende Anwendung der strafprozessualen Schutzvorschriften zu be- gegnen ist (siehe oben IV. 1. d). Weitere Probleme können sich ergeben, wenn auf der Grundlage des Drogenfundes gegen die kontrollierte Person ein (neues) Strafverfahren ein- geleitet und die bereits geführten strafprozessualen Ermitt-lungen gegenüber der Staatsanwaltschaft und dem Ermitt-lungsrichter nicht offengelegt werden. Der BGH hat in einer früheren Entscheidung zu Recht betont, dass die Staats- anwaltschaft ihre Aufgabe, ein justizförmiges Strafverfahren zu gewährleisten, nur erfüllen kann, wenn sie von der Polizei

42 Brodowski, JZ 2017, 1124 (1127). 43 Brodowski, JZ 2017, 1124 (1127). 44 In diesem Sinne Jäger, JA 2018, 551 (553), der auch bei präventiven Maßnahmen dafür plädiert, „intern“ den nach der StPO erforderlichen richterlichen Durchsuchungsbeschluss einzuholen. 45 Brodowski, JZ 2017, 1124 (1128).

(bzw. dem Zoll) umfassend und vollständig über die Erhe-bung des erlangten Beweismaterials informiert wird; aus den gleichen Gründen ist dem Ermittlungsrichter, der über den Erlass eines Haftbefehls entscheidet, ein vollständiger Sach-verhalt zu unterbreiten, da er anderenfalls seine Kontrollfunk-tion nicht wahrnehmen kann.46 Die Grundsätze der Akten-wahrheit und Aktenvollständigkeit sind zugleich Grund- voraussetzung für ein faires rechtsstaatliches Strafverfahren, das auch dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger Zugang zu sämtlichen für seine Verteidigung relevanten Informatio-nen gewährt (§ 147 StPO).47 Der BGH hat einen Verstoß gegen diese Grundsätze in einem Fall verneint, in dem die betreffenden Informationen mehrere Wochen vor Anklage- erhebung zur Akte gelangt und dem Verteidiger unverzüglich übermittelt worden sind.48 Mit diesen Anforderungen hat die Rechtsprechung zwar nicht das Ende der „legendierten Kon-trollen“ eingeläutet49, sie aber rechtsstaatlichen Grenzen unter- worfen, die allerdings noch weiterer Präzisierung bedürfen.50

Prof. Dr. Martin Böse, Bonn

46 BGH NJW 2017, 3173 (3178 f.); Albrecht, HRRS 2017, 446 (458); Kempf (Fn. 7), S. 673 (681 ff.). 47 Albrecht, HRRS 2017, 446 (456); Brodowski, JZ 2017, 1124 (1128); Kempf (Fn. 7), S. 673 (683 f.); Lenk, StV 2017, 692 (698 f.); Schefer (Fn. 18), S. 119 ff.; einschränkend Nowrousian, NStZ 2018, 254 (256 ff.). 48 BGH NJW 2017, 3173 (3179). 49 So Börner, StraFo 2018, 1 (5). 50 Krehl, StraFo 2018, 265 (273).

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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g Rechtskraftumfang bei abgewiesener Zahlungsklage/Miet- minderung und Leistungsverweigerungsrecht 1. Wird eine Klage auf Zahlung von Miete ganz oder teil- weise mit der Begründung abgewiesen, die Miete sei auf-grund von Mängeln gemindert, erwachsen – als bloße Vor- fragen – weder die Ausführungen zum Bestehen von Mängeln noch die vom Gericht angesetzten Minderungs-quoten in Rechtskraft. 2. Weigert sich der Mieter, die Beseitigung von Mängeln durch den Vermieter, dessen Mitarbeiter oder von ihm beauftragte Handwerker zu dulden, ist er ab diesem Zeit-punkt grundsätzlich zu einer weiteren Minderung nicht mehr berechtigt und entfällt ein etwaiges Zurückbehal-tungsrecht in der Weise, dass einbehaltene Beträge sofort nachzuzahlen sind und von den ab diesem Zeitpunkt fäl-ligen Mieten ein Einbehalt nicht mehr zulässig ist. Dies gilt auch dann, wenn der Mieter die Mangelbeseitigung unter Berufung darauf verweigert, dass er im Hinblick auf einen anhängigen Rechtsstreit über rückständige Miete (hier: Prozess mit dem Rechtsvorgänger des Vermieters) den bestehenden mangelhaften Zustand aus Gründen der „Beweissicherung“ erhalten will. (Amtliche Leitsätze) ZPO § 322 Abs. 1 BGB § 320 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18 (LG Dresden, AG Dresden)1 I. Sachverhalt Die Beklagten (M1 und M2) waren seit 1998 Mieter einer Dachgeschosswohnung. Zuletzt schuldeten sie eine monatliche Gesamtmiete in Höhe von 785 €. Die Vermieter wechselten während der Dauer des Mietverhältnisses mehrfach. Zuletzt erwarb die Klägerin (V3) das Hausgrundstück und wurde Vermieterin.

Zwei frühere Vermieter (V1 und V2) nahmen M1 und M2 klageweise auf Mietpreiszahlung in Anspruch. Beide Klagen wurden zumindest teilweise abgewiesen, weil die Miete auf-grund von Wohnungsmängeln gemindert war.

Im Einzelnen begehrte V1 mit ihrer Klage Mietpreisnach-zahlungen für den Zeitraum von Januar 2003 bis April 2008. In der Begründung des hierzu am 10.12.2010 ergangenen und dann rechtskräftig gewordenen Urteils wurde eine Mietmin-derung i.H.v. 25 % für die Zeit von Mai bis September sowie von 35 % für die Zeit von Oktober bis April eines jeden Jah-res festgestellt.

1 Die Entscheidung ist abgedruckt in WuM 2019, 309 und online abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&az=VIII%20ZR%2012/18&nr=95971 (29.7.2019).

In der Zahlungsklage der V2, mit der Mietpreisnachzah-lungen für den Zeitraum von November 2010 bis September 2012 geltend gemacht wurden, wurde mit rechtskräftigem Urteil vom 1.2.2017 entschieden, dass auch hier nicht die volle vereinbarte Miete verlangt werden kann. Das Gericht führte in seiner Begründung ebenfalls aus, dass der Mietpreis wegen Mängeln gemindert ist, und zwar in einer Höhe von 10 % für die Monate Mai bis September sowie von 20 % für die Monate Oktober bis April eines jeden Jahres.

Auch an V3 zahlten M1 und M2 nicht die gesamte ver-traglich vereinbarte Miete. In der Zeit von März 2014 bis Mai 2017 beriefen sie sich sowohl auf Mietminderung und da- rüber hinaus auch auf ein Leistungsverweigerungsrecht. Zu-sätzlich zu dem Minderungsbetrag hielten M1 und M2 in den Wintermonaten jeweils 99,82 € und in den Sommermonaten 256,82 € zurück. Im März 2016 verweigerten M1 und M2 eine Mängelbeseitigung durch V3. Sie begründeten dies da-mit, dass zu dieser Zeit über die Zahlungsklage der V2 noch nicht entschieden war und bei einer Mängelbeseitigung Be-weismittel über den Zustand der Wohnung zerstört würden.

V3 sprach mehrere schriftliche außerordentliche Kündi-gungen aus, unter anderem am 27.7.2016. Sie begehrt die Räumung und Herausgabe der Wohnung. II. Problemstellung V3 verlangt von M1 und M2 Räumung und Herausgabe der Wohnung gem. § 546 Abs. 1 BGB.

Ein solcher Anspruch setzt gem. § 546 Abs. 1 BGB die Beendigung des Mietverhältnisses voraus. Als Beendigungs-tatbestand kommt hier die außerordentliche Kündigung we-gen Zahlungsverzugs gem. § 543 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 3 lit. b BGB in Betracht. M1 und M2 müssten also mit der Mietzahlung in Höhe eines Betrags in Verzug sein, der die Miete für zwei Monate erreicht. Maßgeblich ist demnach die Beantwortung der Frage, ob M1 und M2 womöglich nur eine geminderte Miete (§ 536 Abs. 1 S. 2 BGB) zahlen mussten bzw. die Mietzahlung bis zur Mängelbeseitigung verweigern durften (§ 320 Abs. 1 BGB).

Im Urteil des BGH werden in diesem Rahmen zwei Prob-leme von allgemeiner Bedeutung erörtert. Zunächst geht es darum, ob in der Klage der V3 das Gericht an die Feststel-lungen über Mängel und Höhe der Mietminderung aus den Urteilen gegen V1 und V2 gebunden ist (1). Zudem bezieht der BGH Stellung zum Verhältnis von Mietminderung gem. § 536 Abs. 1 BGB und dem Leistungsverweigerungsrecht aus § 320 BGB (2). 1. Bindung an rechtskräftige Urteile Wenn die Entscheidung über einen Streitgegenstand in Rechts- kraft erwachsen ist, darf dieser Streitgegenstand nicht noch einmal eingeklagt werden.2 Die erneute Klage wäre unzuläs-sig.3 Demnach bewirkt die Rechtskraft eine Endgültigkeit, die 2 BGH NJW 2014, 314 (314 Rn. 13 m.w.N.); Musielak, in: Musielak/Voit, Kommentar zur ZPO, 16. Aufl. 2019, § 322 Rn. 1; Saenger, in: Saenger, Kommentar zur ZPO, 8 Aufl. 2019, § 322 Rn. 12. 3 BGH NJW 2014, 314 (314 Rn. 13).

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nur in seltenen Fällen durchbrochen werden kann, vgl. §§ 578 ff. ZPO. Zudem vermag der rechtskräftige Teil einer Ent-scheidung auch Gerichte in nachfolgenden Prozessen zu binden.4

Weil in dem der hier betrachteten Entscheidung zugrunde liegenden Prozess teilweise andere Parteien beteiligt waren, als in den vorausgegangenen Prozessen (die V3 selbst war nur in dem hier zu betrachtenden Rechtsstreit Partei), stellt sich die Frage, wieso ein Urteil zwischen V1 oder V2 und den Mietparteien überhaupt für und gegen V3 wirken kann (subjektive Rechtskraft, § 325 ZPO). Außerdem ist es frag-lich, wie weit die vorangegangenen Urteile in Rechtskraft erwachsen sind (materielle Rechtskraft, § 322 ZPO). a) Subjektive Rechtskraft Grundsätzlich wirken rechtskräftige Urteile gemäß § 325 Abs. 1 Var. 1 ZPO nur für und gegen die Parteien des Rechts- streits.5 § 325 Abs. 1 Var. 2 ZPO macht von diesem Grund-satz eine Ausnahme, in dem er die Wirkung des rechtskräfti-gen Urteils auf die Rechtsnachfolger der Parteien erstreckt. Rechtsnachfolger in diesem Sinne ist auch, wer als Erwerber von Wohnraum gem. § 566 Abs. 1 BGB an die Stelle des Ver- mieters tritt.6 Welche Feststellungen des Urteils sich aber auf Rechtsnachfolger erstrecken, hängt freilich davon ab, wie weit die materielle Rechtskraft reicht.7 b) Materielle Rechtskraft Wenn in einem Rechtsstreit über eine Frage entschieden wurde, ist das Gericht in einem späteren Prozess, in dem es auf diese Frage als Vorfrage ankommt, an die vorangegange-ne Entscheidung gebunden, soweit diese an der Rechtskraft im Sinne des § 322 Abs. 1 ZPO teilnimmt.8 Deshalb war im vorliegenden Prozess relevant, welche Entscheidungen aus den vorangegangenen Prozessen gegen V1 und V2 in Rechts- kraft erwachsen sind und dadurch, falls sie bei der Prüfung des Räumungs- und Herausgabeanspruchs als Vorfrage rele-vant sind, das Gericht binden.9

Gem. § 322 Abs. 1 ZPO sind Urteile der Rechtskraft in-soweit fähig, als über den durch die Klage erhobenen An-spruch entschieden ist.

Nach dem Wortlaut des § 322 Abs. 1 ZPO erwächst also nur die Entscheidung über den erhobenen Anspruch in Rechts-kraft. Die Rechtskraft der Entscheidung erstreckt sich dem-

4 BGH NJW 1993, 3204 (3205). 5 Gottwald, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2016, § 325 Rn. 1 sowie § 322 Rn. 1; Gruber, in: Beck’scher Online-Kommentar zur ZPO, 32. Ed., Stand: 1.3.2019, § 325 Rn. 1. 6 Gruber (Fn. 5), § 325 Rn. 15; Lehr, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Mietrecht, 16. Ed., Stand: 1.3.2019, § 566 BGB Rn. 65. 7 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 28. 8 Musielak (Fn. 2), § 322 Rn. 10. 9 BGH NJW 2003, 3058 (3059 m.w.N.).

nach nicht auf die in den Entscheidungsgründen bejahten oder verneinten Vorfragen bzw. Normvoraussetzungen.10 2. Minderung und Leistungsverweigerungsrecht Der Vermieter ist gem. § 535 Abs. 1 S. 2 BGB verpflichtet, die Mietsache in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch ge- eigneten Zustand zu überlassen und diesen Zustand während des Mietverhältnisses zu erhalten. Falls die Tauglichkeit der Mietsache wegen eines Mangels zum vertragsgemäßen Ge-brauch aufgehoben oder diese Tauglichkeit gemindert ist, greift die rechtsvernichtende Einwendung11 gem. § 536 Abs. 1 BGB. Zweck dieser Norm ist vor allem, die Äquiva-lenz von Mietpreis und Gebrauchsmöglichkeit herzustellen.12 Die Minderung tritt gem. § 536 Abs. 1 BGB kraft Gesetzes ein, sofern die Voraussetzungen der Norm vorliegen.13 Der Mieter muss also nur einen geminderten Mietpreis zahlen.

Dem Mieter steht daneben die Einrede des nicht erfüllten Vertrags gem. § 320 BGB zu.14 Denn der Vermieter ist, wie schon aufgezeigt, verpflichtet, die Mietsache während der Mietzeit in einem vertragsgemäßen Zustand zu erhalten, § 535 Abs. 1 S. 2 BGB. Um Druck auszuüben, damit der Vermieter einen Mangel beseitigt, kann der Mieter über die Minderung hinaus die Zahlung des Mietpreises verweigern.15 Hierbei ist freilich § 320 Abs. 2 BGB zu beachten, wenn der Vermieter zumindest einen Teil seiner Leistung erbracht hat16 (wenn bspw. bei Wohnungsmängeln der Mangel nicht die vertragsgemäße Nutzung der gesamten Wohnung verhindert). Das Leistungsverweigerungsrecht kann dann je nach Einzel-fall begrenzt werden.17

Wo die Mietminderung nach § 536 Abs. 1 BGB also in erster Linie darauf abzielt, die Gegenleistung wegen einer Tauglichkeitsminderung anzupassen, zielt das Leistungs- verweigerungsrecht gem. § 320 BGB darauf ab, den Vermie-ter zur Erfüllung seiner vertraglichen Pflicht aus § 535 Abs. 1 S. 2 BGB anzuhalten.

10 BGH NJW-RR 2013, 757 (758 Rn. 6); BGH NJW-RR 1999, 376 (377); Gottwald (Fn. 5), § 322 Rn. 91; Gruber (Fn. 5), § 322 Rn. 27. 11 Weidenkaff, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 78. Aufl. 2019, § 536 Rn. 1. 12 Häublein, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 536 Rn. 1; Eisenschmid, in: Schmidt-Futterer, Kom-mentar zum Mietrecht, 13. Aufl. 2017, § 536 BGB Rn. 3. 13 Häublein (Fn. 12), § 536 Rn 27. 14 BGH NJW 2015, 3087 (3090 Rn. 49); Teichmann, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 17. Aufl. 2018, § 536 Rn. 2; Weidenkaff (Fn. 11), § 536 Rn. 6; Bieber, NZM 2006, 683 (686). 15 Zum Ganzen: BGH NJW 2015, 3087 (3090, Rn. 49 ff.); auch die Mietminderung kann praktisch gesehen natürlich Leistungsdruck auf den Vermieter ausüben, siehe hierzu Häublein (Fn. 12), § 536 Rn. 1. 16 BGH NJW 2015, 3087 (3090 Rn. 50). 17 BGH NJW 2015, 3087 (3091 f. Rn. 59; eine Zusammen-stellung der verschiedenen hierzu vertretenen Meinungen geben Rn. 51 bis 58 desselben Urteils).

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III. Die Entscheidung des BGH Nach der Entscheidung des BGH hat V3 gegen M1 und M2 einen Anspruch auf Räumung und Herausgabe der Mietwoh-nung gem. §§ 546 Abs. 1, 985 BGB.18 Das Mietverhältnis wurde nach Auffassung des BGH spätestens durch die Kün-digung vom 27.7.2016 beendet und konnte auf den Kündi-gungsgrund des § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 lit. b BGB gestützt werden.19

Der BGH stellt fest, dass M1 und M2 alleine aufgrund der Zahlungen, die unter Berufung auf ein Leistungsverweige-rungsrecht gem. § 320 Abs. 1 BGB ausgeblieben waren, den eine außerordentliche Kündigung legitimierenden Betrag in Höhe von zwei Monatsmieten über mehrere Termine gem. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 lit. b BGB erreicht haben.20 Für das Erreichen dieses Betrags ist auch für den Fall des Vorliegens einer Mietminderung die vertraglich vereinbarte Gesamtmiete maßgeblich.21

So wird die Prüfung, ob das Leistungsverweigerungsrecht gem. § 320 BGB M1 und M2 zustand bzw. weggefallen ist zum Dreh- und Angelpunkt der Entscheidung. Fällt das zu-nächst bestehende Leistungsverweigerungsrecht weg, werden sofort alle bis dahin verweigerten Zahlungen fällig.22 Wäre dies der Fall, kann der Kündigungsgrund gem. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 lit. b BGB bejaht werden.

Auf Zahlungen, die aufgrund (behaupteter) Minderung gem. § 536 Abs. 1 S. 2 BGB ausgeblieben sind, käme es gar nicht mehr an.

Obwohl der BGH im Ergebnis davon ausgeht, dass das Leis-tungsverweigerungsrecht zwischenzeitlich weggefallen war23, macht das Gericht noch Ausführungen zur Bindungswirkung der Mängelfeststellung und der Höhe der Minderung im Pro-zess von V124 gegen M1 und M2.

Hierzu führt der BGH zunächst aus, dass die Wirkung der rechtskräftigen Urteile für und gegen V3 gem. §§ 265, 325 Abs. 1 Var. 2 ZPO nur so weit reichen kann wie die materiel-le Rechtskraft gem. § 322 Abs. 1 ZPO selbst.25 Urteile sind aber gem. § 322 Abs.1 ZPO der Rechtskraft nur insoweit fähig, als über den durch die Klage erhobenen Anspruch entschieden ist. Die Rechtskraft beschränkt sich demnach auf den unmittelbaren Streitgegenstand, also die konkrete Rechts-folge, die aufgrund eines bestimmten Lebenssachverhalts im Urteil ausgesprochen wird.26

In den vorangegangen Prozessen war über Ansprüche auf Mietzahlung gem. § 535 Abs. 2 BGB gestritten worden. An

18 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 17. 19 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 17. 20 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 23. 21 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 21; BGH NJW 2018, 939 (940 Rn. 19). 22 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 23. 23 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 32 24 Wegen der Mängel, die im Prozess der V2 gegen M1 und M2 in Streit standen, waren auch in diesem Verfahren hinrei-chende Feststellungen getroffen worden, vgl. BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 26. 25 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 28. 26 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 30.

der Rechtskraft dieser Urteile nimmt also gem. § 322 Abs. 1 ZPO die Entscheidung teil, ob und wenn ja in welcher Höhe Ansprüche auf Mietzahlung bestehen. Die Feststellung von Wohnungsmängeln und die Höhe der Mietpreisminderung aufgrund dieser Mängel sind demgegenüber bloße Vorfragen.27 Auch wenn hierzu in den Entscheidungsgründen Ausführun-gen gemacht wurden, nehmen diese nicht an der Rechtskraft und so auch nicht an der Bindungswirkung der Entscheidung teil.

Ein Leistungsverweigerungsrecht gem. § 320 Abs. 1 BGB wegen Nichterfüllung der Vermieterpflicht gem. § 535 Abs. 1 S. 2 BGB vermochte die ausgebliebenen Mietzahlungen nicht zu legitimieren. Nach den Ausführungen des BGH ist das Leistungsverweigerungsrecht im März 2016 weggefallen, als M1 und M2 eine Mängelbeseitigung auf Veranlassung der V3 nicht gestatteten.28

Der BGH wiederholt zunächst den Grundsatz, wonach das Leistungsverweigerungsrecht gem. § 320 Abs. 1 BGB als Druckmittel neben der Mietminderung eingesetzt werden kann, um den Vermieter zur Mängelbeseitigung (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB) anzuhalten.29 Mit dieser Funktion als Druckmittel ist es aber unvereinbar, dem Mieter ein Leistungsverweigerungs-recht auch dann noch zuzugestehen, wenn er die Mängelbe-seitigung durch den Vermieter verweigert. Denn eine Aus-übung von Druck ist nicht mehr angebracht, wenn der Ver-mieter den Mangel nicht beseitigen kann, sei es weil der Mangel auf andere Weise beseitigt wurde oder weil der Mie-ter die Beseitigung verhindert.30 Wenn das Leistungsverwei-gerungsrecht auf diese Weise seinen Zweck verloren hat, werden alle verweigerten Beträge „grundsätzlich sofort zur Zahlung fällig.“31

Der BGH erachtete die Ablehnung der Mängelbeseitigung auch nicht deshalb für berechtigt, weil M1 und M2 Beweise für ein Verfahren sichern wollten, in dem es auf das Vorhan-densein der Mängel ankam. Das Gericht schließt sich inso-fern den Ausführungen der erstinstanzlichen Entscheidung an, wonach die Mängel im Verfahren auch mit Lichtbildern oder durch Zeugenvernehmung der die Beseitigung vorneh-menden Handwerker bewiesen werden können.32 IV. Fazit Im Urteil stellten sich Grundfragen aus dem Prozess- und dem Mietrecht.

Bei (zumindest teilweisen) klageabweisenden Urteilen er- wachsen der Subsumtionsschluss und der „ausschlaggebende Abweisungsgrund“33 in Rechtskraft. Bei einer abgewiesenen Zahlungsklage umfasst die Rechtskraft also bloß die Fest- stellung, dass dem Kläger im Zeitpunkt der letzten mündli-chen Verhandlung kein Zahlungsanspruch gegen den Beklag-

27 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 31. 28 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 32. 29 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 42. 30 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 40 f. 31 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 41. 32 BGH, Urt. v. 10.4.2019 – VIII ZR 12/18, Rn. 52. 33 BGH NJW 1993, 3204 (3205).

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ten zustand.34 So fügt sich der Schluss des BGH, die Rechts-kraft bei einer Klage auf Mietzahlung erfasse nicht die Fest-stellung von Mängeln und das Maß der Minderung, konse-quent ein. Aus der Klage der V1 gegen M1 und M2 erwuchs lediglich in Rechtskraft, dass Zahlungsansprüche in bestimm-ter Höhe bestehen bzw. nicht bestehen.

Auch die Aberkennung eines Leistungsverweigerungs-rechts ab dem Zeitpunkt der nicht gestatteten Mängelbeseiti-gung überzeugt. Eine ähnliche Wertung ist für die Minderung in § 536c Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BGB zu erblicken. Diese Vor-schrift lässt die Berechtigung des Mieters entfallen, Minde-rung geltend zu machen, wenn der Vermieter aufgrund unter-lassener Mängelanzeige nicht Abhilfe schaffen konnte. Ver-hindert der Mieter die Beseitigung eines Mangels, kann er sich ab dem Zeitpunkt, zu dem der Mangel voraussichtlich behoben gewesen wäre, nicht mehr auf die Minderung beru-fen (§ 242 BGB).35 Diese Entscheidung zum Wegfall des Leistungsverweigerungsrechts bei Wohnungsmängeln ergänzt diese Wertungen. 36

Wiss. Mitarbeiter Julian Kanert, Chemnitz

34 BGH NJW 1981, 1517 (1517); BGH NJW 1993, 3204 (3205). 35 BGH NJW 2015, 2419; Schüller, in: Beck’scher Online-Kommentar zum MietR, 15. Ed., Stand:1.3.2019, § 536 Rn. 15. 36 Zur unberechtigten Zutrittsverweigerung zwecks Mängel-beseitigung: BGH NJW 2010, 3015, Rn. 46 und 48.

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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Tötungs- und Gefährdungsvorsatz Gefährdungsvorsatz und Schädigungsvorsatz haben zwar unterschiedliche Bezugspunkte. Da die Gefahr begrifflich aber nichts anderes beschreibt als die naheliegende Mög-lichkeit einer Schädigung, bleibt beim Vorliegen eines auf die Gefahr des Todes bezogenen Vorsatzes kein Raum mehr für die Verneinung des kognitiven Elements eines bedingten Tötungsvorsatzes. (Leitsatz des Verf.) StGB §§ 306b Abs. 2 Nr. 1, 212, 16 Abs. 1, 22, 23 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18 (LG Münster)1 I. Einführung Die Entscheidung spricht anhand eines Brandstiftungsfalles das auch in der universitären Fallbearbeitung oft relevante und diffizile Thema der Abgrenzung des konkreten Gefähr-dungsvorsatzes vom Tötungsvorsatz an. Es taucht regelmäßig dort auf, wo konkrete Gefährdungsdelikte (wie etwa die §§ 221 Abs. 1, 306a Abs. 2, 306b Abs. 2 Nr. 1, 315c, 315b StGB) begangen werden, sofern die Annahme eines Vorsat-zes naheliegt und die gedanklichen Vorstellungen des Täters nicht bereits vom Sachverhalt unzweideutig beschrieben wer- den. Während uns diese Konstellation bei den gewöhnlichen Fallgestaltungen des § 315c StGB kaum einmal begegnet,2 dürfte § 315b Abs. 1 StGB ein typisches Beispiel liefern, etwa beim Zufahren auf einen im Wege stehenden Polizei- beamten. Den dabei gerne gewählten Mittelweg (Annahme eines Lebensgefährdungs-, aber Verneinung eines Tötungs-vorsatzes) hatte auch die Strafkammer in dem hier zu bespre-chenden Brandstiftungsfall gewählt und deshalb die Straf- bestimmung des § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB bejaht, aber kein versuchtes Tötungsdelikt angenommen. Die darauf ergangene Entscheidung des Senats stellt nun freilich in Frage, ob es vor dem Hintergrund des in der Rspr. gängigen Vorsatzverständ-nisses überhaupt möglich ist, in einer solchen Weise zu diffe-renzieren, was zu Ende gedacht sogar die grundsätzliche Existenzberechtigung vorsätzlicher Lebensgefährdungsdelik-te in Zweifel zieht. II. Sachverhalt Der zur Tatzeit 18 Jahre alte (und damit Heranwachsende), depressive Angeklagte hatte, um einen Wohnungsumzug mit seiner Mutter in eine andere Stadt und die damit verbundenen 1 Die Entscheidung ist online abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=09f8cfab207b9dfc27e5454401b153f9&nr=92561&pos=0&anz=1 (5.7.2019). 2 Die Annahme, jemand fahre betrunken und nehme dabei eine konkrete Fremdgefährdung, d.h. einen Unfall mit zwangs-läufig eigener Gefährdung billigend in Kauf, erscheint nicht unbedingt lebensnah.

psychischen Belastungen zu verhindern, die dort bereits in einem viergeschossigen Mehrfamilienwohnhaus im zweiten Obergeschoss angemietete Wohnung in Brand gesetzt.3 Dazu hatte er großflächig Benzin in der Wohnung verteilt und an- gezündet, was unerwartet zu einer Explosion führte, wodurch sich der Brand überaus schnell entwickelte und dem Ange-klagten selbst zeitweilig den Fluchtweg versperrte. Er konnte jedoch letztlich dem Feuer entkommen, zog sich dabei aber Verbrennungen zweiten Grades an Gesicht und Händen zu.4 Infolge des Brandes wurden Dachgeschoss und Dachstuhl des Hauses vollkommen zerstört; es entstand ein Gesamtschaden von 620.000 €.5

Während einer der weiteren im Hause wohnenden Mieter unverletzt ins Freie gelangen konnte, waren vier Personen, darunter eine 69 Jahre alte lungenkranke und pflegebedürfti-ge Frau, wegen der Hitze und Rauchentwicklung nicht mehr in der Lage, durch das Treppenhaus zu entkommen. Sie flo-hen auf einen Balkon im zweiten Obergeschoss, wo sie sich mit nassen Waschlappen notdürftig vor dem Rauch schützten, bis sie schließlich von der Feuerwehr geborgen werden konn-ten. Die genannte 69-Jährige trug jedoch eine Rauchgas- vergiftung sowie psychische Störungen davon.6

Die beim AG Bocholt angesiedelte auswärtige Jugend-kammer des LG Münster (vgl. § 78 GVG7) hatte den Ange-klagten daraufhin wegen besonders schwerer Brandstiftung (§ 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit fahrlässiger Her- beiführung einer Sprengstoffexplosion (§ 308 Abs. 1 und 6 StGB) sowie fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verur-teilt.8 Sie war davon ausgegangen, der auf Grund seiner De-pression vermindert schuldfähige Angeklagte hätte erkannt, dass Hausbewohner infolge der Brandlegung und insb. der Rauchentwicklung in Lebensgefahr geraten könnten, dies aber in Kauf genommen, um sein Tatziel zu erreichen. Hin-gegen hat sie bei ihm keine billigende Inkaufnahme des tat-sächlichen Eintretens körperlicher Schäden oder gar des Todes festzustellen vermocht.9 III. Die Entscheidung des Senats Gegen die Entscheidung hatten sowohl der Angeklagte als auch zu seinen Ungunsten die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt, die beide auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung an eine andere Straf- kammer des LG Münster führten.10 Im Kern rügt der Senat die Widersprüchlichkeit der oben wiedergegebenen Sach-

3 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 3. 4 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 5. 5 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 6. 6 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 6. 7 Auf Grund der Verordnungsermächtigung in § 78 Abs. 1 S. 1 GVG hat das Land NRW durch die VO über die Bildung auswärtiger Strafkammern v. 28.10.2008 (GV NRW 2008, 685) auswärtige Strafkammern des LG Münster beim AG Bocholt sowie des LG Kleve beim AG Moers eingerichtet. 8 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 1. 9 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 4, 7. 10 BGH, Urt. v. 26.6.2018 – 1 StR 79/18, Rn. 1.

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verhaltsfeststellungen zur subjektiven Tatseite.11 Die Vernei-nung eines Tötungs- und Verletzungsvorsatzes vertrage sich im konkreten Fall nicht mit der Bejahung eines Lebens- gefährdungsvorsatzes. Im Ergebnis musste daher die Revisi-on der Staatsanwaltschaft Erfolg haben, weil sie angesichts des bejahten Gefährdungsvorsatzes zu Recht rügen konnte, dass dann richtigerweise auch ein Tötungsvorsatz hätte ange-nommen werden müssen. Die Revision des Angeklagten musste folgerichtig mit dem spiegelbildlichen Argument durchdringen, umgekehrt hätte angesichts der Verneinung ei- nes Tötungsvorsatzes nicht ohne weiteres ein Lebensgefähr-dungsvorsatz festgestellt und wegen § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB verurteilt werden dürfen. 1. Die getrennte Behandlung der beiden Revisionen Beide Rechtsmittel steuerten mithin auf die gleiche Frage zu; dennoch behandelt der Senat sie separat und an verschiede-nen Stellen seiner Entscheidung.12 Dies hat mehrere Gründe: Zunächst stellt die in dieser Entscheidung vorzufindende Konstellation von Revisionsrügen, die auf denselben Teil- aspekt eines Urteils zielen, eher eine Ausnahme dar; oft rügt beispielsweise die eine Seite den Schuldspruch, die andere aber das Strafmaß. Oder es werden unterschiedliche prozes- suale Rügen erhoben. Im Regelfall ist deren getrennte Be-handlung daher schon sachlogisch angezeigt. Das ist nun hier nicht so. Dennoch behält der Senat selbst in unserem Fall die separate Behandlung der beiden Revisionen zu Recht bei. Ein Grund hierfür findet sich in den potenziell unterschiedlichen Wirkungen eingelegter Revisionen. Nur auf eine Revision der Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Angeklagten kann es im Ergebnis zu einer Strafverschärfung kommen, während für die Revisionseinlegung durch den Angeklagten das Verbot der reformatio in peius gilt (§ 358 Abs. 2 StPO). Erwiese sich die Revision der Staatsanwaltschaft also als erfolglos, so begründete dies eine insoweit sichere Situation für den An-geklagten: Es kann für ihn jedenfalls nicht noch schlimmer kommen! Vor diesem Hintergrund spielen zudem die stren-gen formalen Anforderungen an Revisionseinlegung und -begründung eine Rolle (§§ 341, 344 f. StPO), deren Missach-tung zur Unzulässigkeit einer der beiden Revisionen oder einzelner ihrer Revisionsrügen führen kann. Schlussendlich bleibt noch die Kostenfrage zu bedenken, weil § 473 StPO in- soweit auf Erfolg oder Misserfolg der einzelnen Rechtsmittel abhebt. Daher werden im Revisionsverfahren13 die Rügen verschiedener Revisionsführer, obwohl sie in einer einzigen Entscheidung abgehandelt werden, stets getrennt voneinander behandelt und beschieden. So geschieht es auch im Urteil des Senats; allerdings erschöpfen sich wegen der letztlich identi-schen sachlichen Begründung der Entscheidung die Ausfüh-rungen zur Revision des Angeklagten weitgehend in Verwei-

11 BGH, Urt. v. 26.6.2018 – 1 StR 79/18, Rn. 10. 12 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 8 ff., 15 f. 13 Im Berufungsverfahren, in welchem i.d.R. ohnehin eine komplette Überprüfung stattfindet, wird die Trennung weni-ger streng durchgeführt; im Tenor allerdings werden auch dort die einzelnen Berufungen – schon wegen der Kosten- folgen – getrennt abgehandelt.

sen auf die Ausführungen zur Revision der Staatsanwalt-schaft.14 2. Gefährdungs- und Tötungsvorsatz a) Differenzierung auf kognitiver Ebene Der Senat beginnt seine Ausführungen zum (Tötungs-)Vor- satz mit der in der Rspr. üblichen Definition des dolus even-tualis und ihrer Unterscheidung zwischen kognitivem und voluntativem Element: Der Täter müsse den Tod (der Haus-bewohner) als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seiner Brandlegung erkannt und diese gebilligt oder sich zumindest um des erstrebten Zieles willen (der Vernichtung der Woh-nung und damit der Verhinderung des Umzugs) mit einem Todeseintritt abgefunden haben.15 Die sachverständig berate-ne Jugendkammer hatte vor dem Hintergrund einer kogniti-ven Verengung bei dem Angeklagten, hervorgerufen durch eine schwere depressive Episode, angenommen, der Ange-klagte habe zum Tatzeitpunkt die Möglichkeit einer Verlet-zung oder gar Tötung anderer Personen nicht erkannt. Wohl aber sei ihm bewusst gewesen, Feuer und Rauch könnten zu einer Lebensgefahr für die übrigen Hausbewohner führen, was er billigend in Kauf genommen hätte.16 Diese differen-zierte Betrachtung auf kognitiver Ebene hält der Senat für logisch nicht tragfähig, denn eine Gefahr beschreibe begriff-lich nichts anderes als die Möglichkeit einer Schädigung. Wer Gefährdungsvorsatz bejahe, könne daher schlechterdings das kognitive Element des bedingten Tötungsvorsatzes nicht mehr verneinen.17 Diese Argumentation überzeugt. Tatsäch-lich wird die (konkrete) Gefahr – bei Abweichungen im De-tail – heute überwiegend als eine Situation beschrieben, in welcher die Sicherheit einer bestimmten Person so stark be-einträchtigt erscheint, dass es nur noch vom Zufall abhängt, ob es zu einer Verletzung kommt oder nicht.18 Im Vergleich dazu bezieht sich das kognitive Element eines korrespondie-renden Erfolgsdeliktes auf die Möglichkeit einer Verletzung.19 Wenn aber ex ante betrachtet in einer Gefahrensituation der Eintritt einer Verletzung nur noch von unkalkulierbaren Um-ständen abhängt, so kann dies zwanglos mit der Möglichkeit einer Verletzung gleichgesetzt werden.20 Wer folglich die konkrete Gefährdung erkennt, hat notgedrungen auch das andere, nämlich die Schadensmöglichkeit erkannt. Da zudem der bedingte Tötungsvorsatz nicht das Bewusstsein von einer besonders hohen Gefahr für das Rechtsgut verlangt, sondern 14 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 16. 15 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 10; insoweit ständige Rspr. seit BGHSt 7, 363 (368 f.); vgl. BGH NStZ 2008, 93; BGH NStZ-RR 2016, 204. 16 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 12. 17 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 13. 18 BGH NJW 1995, 3131; BGH NStZ 2013, 167; Hecker, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 30. Aufl. 2019, § 315c Rn. 33; eingehend Küper/Zopfs, Strafrecht, Be- sonderer Teil, 10. Aufl. 2018, Rn. 249 ff. 19 Die höhere Anforderungen stellende sog. Wahrscheinlich-keitstheorie von Hellmuth Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 250 ff., kann heute als überwunden gelten. 20 Radtke, NStZ 2000, 88 (89).

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es bereits genügt, wenn eine „mögliche, nicht ganz fernlie-gende Folge“21 im Raum steht, so lassen sich Gefährdungs- und Verletzungsvorsatz auch nicht nach dem Grade einer Schadenswahrscheinlichkeit abschichten. Vielmehr genügt für einen Verletzungsvorsatz bereits eine vorgestellte Schadens-wahrscheinlichkeit, die sogar niedriger als das liegen kann, was gemeinhin zur objektiven Annahme konkreter Gefahr gefordert wäre. b) Differenzierung auf voluntativer Ebene Wenn sich folglich die Annahme eines Gefährdungsvorsatzes bei gleichzeitiger Verneinung eines Tötungsvorsatzes nicht auf kognitiver Ebene begründen lässt, so stünde auf der Basis der Vorsatzdefinition der Rspr. allein noch die voluntative Ebene zu einer solchen Differenzierung zur Verfügung. Es bliebe also zu fragen, ob das Billigen einer Gefährdung bei gleichzeitiger Nichtbilligung des Erfolgseintritts vorstellbar erscheint. Diese Thematik brauchte der Senat nicht mehr anzuschneiden; sie wird sich aber der zur neuen Entschei-dung berufenen Jugendkammer stellen. Zunächst ließen sich die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte von Gefährdung und Erfolg ins Feld führen. Die Billigung einer Gefährdung, so ließe sich argumentieren, brauche nicht mit einer Billigung eines tatsächlichen Erfolgseintrittes einherzugehen und der Täter könne daher zwar die Gefährdung akzeptieren und zugleich auf den tatsächlichen Nichteintritt der unerwünsch-ten Folge vertrauen. Bei näherem Hinsehen allerdings stellen sich auch insoweit Bedenken ein. So wäre Gegenstand des voluntativen Aspekts eines Gefährdungsvorsatzes das Sich- abfinden mit der Rechtsgutsgefährdung. Nach den obigen Überlegungen zur kognitiven Seite bedeutete dies indessen ebenfalls das Sichabfinden mit einer Situation, in der eine Rechtsgutsverletzung ebensogut möglich erscheint wie ihr Ausbleiben und in der dem Täter vor allem keine aus seiner Sicht verlässliche Erfolgsvermeidungshandlung zur Verfü-gung steht. Wer aber eine für ihn unvermeidbare Möglichkeit eines Erfolgseintritts akzeptiert und in Kauf nimmt, der muss logischerweise auch den Fall in Kauf nehmen, dass sich diese Möglichkeit in einem Erfolgseintritt realisiert. Das bloße Hoffen auf ein Ausbleiben des Erfolges kann der Täter jeden-falls dann auch nicht mehr als Argument für sich reklamie-ren. Denn wenn es nur noch vom Zufall abhängt, ob es zum Schaden kommt oder nicht, dann ist ein ernsthaftes, nicht nur vages Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolges (wie es stets in diesem Zusammenhang für die Ablehnung des Vor-satzes verlangt wird22) schon begrifflich nicht mehr möglich. Damit aber wäre zwangsläufig bereits die Schwelle zur In-kaufnahme des Erfolges selbst überschritten. Folglich führt die Argumentation des Senates letztlich dazu, auch auf volun-tativer Ebene nicht mehr sinnvoll zwischen der Billigung einer Gefahr und einer Billigung des Erfolges unterscheiden zu können.

21 BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 10. 22 Vgl. BGH NJW 2018, 1621 (1623); BGH NStZ-RR 2016, 79 (80); ebenso Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 23.

3. Folgerungen Es ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Auf der Basis der bisherigen Vorsatzrechtsprechung besäßen konkrete (Le-bens-)Gefährdungsdelikte in der Variante vorsätzlicher Ge-fährdung (z.B. § 315b Abs. 1 StGB) neben entsprechenden versuchten Erfolgsdelikten (z.B. nach den §§ 212, 22, 23 StGB) keinen eigenständigen Anwendungsbereich und damit auch keine Existenzberechtigung mehr, weil ihre Verwirkli-chung stets mit der Verwirklichung dieser schwereren Straf-taten zusammenfiele; lediglich entsprechende Fahrlässigkeits-varianten solcher Gefährdungsdelikte (etwa § 315c Abs. 4 StGB) blieben überhaupt noch isoliert anwendbar. Zugleich erweist sich damit, wie fragwürdig die Vorsatz-/Fahrlässig- keitsabgrenzung anhand identischer kognitiver Elemente und angesichts der offenbar ebenfalls untauglichen voluntativen Kriterien ist.

Die Entscheidung des Senats leitet daher zu geradezu existenziellen Fragen über: Kann und sollte man nun die konkreten Gefährdungsdelikte mit vorsätzlicher (insb. Leib- oder Lebens-)Gefährdungskomponente de lege ferenda ver-abschieden? Oder ist es stattdessen an der Zeit, sich auf ande-re Methoden zur Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit zu besinnen? Nun ist hier kein Raum, derartige Grundfragen des Strafrechts erschöpfend zu erörtern. Es soll aber immer-hin angedeutet werden, dass Tendenzen zu einem normativen Verständnis des Vorsatzes, „welche die lähmende Alternative von kognitiven und volitiven Ausrichtungen der Vorsatzlehre hinter sich gelassen haben“23, möglicherweise einen Ausweg böten. Solche Tendenzen sind im Übrigen auch in der Rspr. zu beobachten. Beispielsweise hat derselbe 4. Strafsenat in seiner bekannten Entscheidung zum Berliner Raser-Fall aus-drücklich darauf abgestellt, „die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung [sei] wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willenselement des bedingten Vorsatzes.“24 Richtete man nämlich unter Würdigung der äußeren Umstände des Einzelfalls, insb. der Risikohöhe und der Fähigkeiten des Täters zur Beherrschung der Situation, die Entscheidung über Vorsatz oder Fahrlässigkeit wertend daran aus, ob es plausibel erscheint, der Täter habe sich für (oder gegen) das Rechtsgut entschieden, weil er noch auf einen glücklichen Ausgang vertrauen durfte25 (oder eben nicht), so ließen sich möglicherweise derartige Ungereimthei-ten vermeiden, wie sie die Entscheidung der Jugendkammer prägen. Soweit ersichtlich, deuten die Tatumstände auf der Basis einer solchen normativen Betrachtung eher auf eine Vorsatzannahme hin: Wer in einem von etlichen Menschen bewohnten Haus mit einer größeren Menge eines Brand- beschleunigers wie Benzin einen Brand mit dem Ziel legt, eine Wohnung unbewohnbar zu machen, der kann kaum noch mit der Einlassung Gehör finden, er habe damit nicht zu-

23 Hassemer, in: Dornseifer/Horn/Schilling/Schöne/Struensee/ Zielinski (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 289 (295). 24 BGH NJW 2018, 1621 (1623); ähnlich zudem in der vor-liegenden Entscheidung, vgl. BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, Rn. 10. 25 Roxin (Fn. 22), § 12 Rn. 31.

BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18 (LG Münster) Heghmanns _____________________________________________________________________________________

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gleich die Tötung eines anderen Bewohners, zumal in darüber liegenden Wohnungen, in Kauf genommen. IV. Bewertung Der Senat selbst hat seine Entscheidung weder zur Aufnahme in die amtliche Entscheidungssammlung noch zur Veröffent-lichung vorgesehen – zu Unrecht, wie ich finde, denn sie bietet Anlass, zu Grundsatzfragen der Abgrenzung von Vor-satz und Fahrlässigkeit vorzudringen. Entwickelt man die Gedanken des Senates konsequent weiter, so erweist sich nämlich, wie künstlich und zudem wenig tauglich die Diffe-renzierung der Tätervorstellungen in kognitive und voluntati-ve Elemente ist, wenn es zu entscheiden gilt, ob noch (be-wusst) fahrlässig oder schon (bedingt) vorsätzlich gehandelt wurde. Da sich zudem die Vorstellungen des Täters in der Tatsituation nicht empirisch feststellen lassen, er selbst aber als Beschuldigter kaum wirklich verlässliche Angaben dazu machen wird, läuft die Vorsatzfeststellung ohnehin auf eine subjektive Wertung seitens des Richters hinaus. Daher ist es – auch für die Fallbearbeitung – am Ende nur konsequent, den Vorsatz normativ anhand der Gefahrenhöhe zu bestim-men. „Wer also einem anderen aus kurzer Entfernung ein Messer durch die Brust stößt, wird mit dem Einwand, er habe auf einen glücklichen Ausgang vertraut, nicht gehört.“26

Prof. Dr. Michael Heghmanns, Münster

26 Roxin (Fn. 22), § 12 Rn. 32.

Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht Haupt _____________________________________________________________________________________

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ZJS 4/2019 337

B u c h r e z e n s i o n

Habersack, Mathias/Verse, Dirk A., Europäisches Gesell-schaftsrecht, Einführung für Studium und Praxis, 5. Aufl., C.H. Beck, München 2019, 630 S., 99,- €. I. Einleitung Seit der Abstimmung der Bürger des Vereinigten Königreichs am 24.6.2016 über einen Austritt aus der Europäischen Union ist die Berichterstattung in den Medien durchgehend von diesem Thema geprägt. Besonders relevant war hierbei im-mer wieder die Frage nach dem Verbleib von Unternehmen, insbesondere solcher der Finanzbranche, die bisher von Lon-don aus ihr Geschäft in der gesamten Europäischen Union betrieben haben.

Die Lösung dieser Problematik bestimmt sich nicht an-hand der nationalen Rechtsordnungen, sondern nach dem europäischen Recht, insbesondere dem europäischen Gesell-schaftsrecht. Gleiches gilt etwa für die grenzüberschreitende Tätigkeit von anderen EU-basierten Unternehmen jeglicher Art. Immer wieder kommen hierbei Fragen zum Beispiel nach dem für diese Fälle anwendbaren Recht und dem Um-gang mit Diskriminierungen von Unternehmen aus anderen Mitgliedsländern auf.

All diese Themengebiete und noch viele weitere verwand-te behandelt die zu Beginn des Jahres 2019 in 5. Auflage erschienene Publikation von Mathias Habersack und Dirk A. Verse mit dem Titel „Europäisches Gesellschaftsrecht“. Rechtsstand der Bearbeitung ist November 2018. II. Zum Inhalt Begründet im Jahr 1998 von Mathias Habersack hat sich das Werk mittlerweile zu einem Gemeinschaftsprojekt des Münchner Professors Mathias Habersack und dem Heidel-berger Professor Dirk A. Verse entwickelt.

Die Autoren möchten sich mit ihrem Werk sowohl an Studierende als auch an Praktiker des Gesellschaftsrechts wenden. Kein leichtes Unterfangen, gehen doch die Interes-sen dieser beiden Gruppen für gewöhnlich auseinander. Der Studierende wird sich im Regelfall auf universitäre Leistun-gen, wie Klausuren und Hausarbeiten vorbereiten wollen. Neben vielen anderen Themengebieten, die im Studium zu erlernen sind, bleibt für die Vorbereitung auf die speziellen Themengebiete, wie es das europäische Gesellschaftsrecht zum Beispiel ist, oft nur wenig Zeit. Der Praktiker hingegen bringt zumeist schon ein gewisses Vorwissen mit und muss sich mit Spezialproblemen auseinandersetzen. Antworten hierzu sollen möglichst schnell aufgefunden werden.

Doch wie soll man diese beiden Interessen in einem Buch zusammenführen? Die Autoren jedenfalls haben hierfür einen sehr guten Weg gefunden!

Sie greifen ihr Vorhaben in drei Teilen an: Wichtige Grundlagenarbeit leisten die Autoren im ersten Teil. Auf et- was mehr als 90 Seiten werden Grundfragen zur Rechts- angleichung und Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des europäischen Gesellschafsrechts behandelt. Der Einstieg wird hier auch denjenigen ermöglicht, die sich erstmals mit dieser Thematik beschäftigen. Für viele Leser ganz grundlegende

Begriffe wie der der Niederlassungsfreiheit werden nicht einfach als bekannt vorausgesetzt, sondern in angemessenem Umfang und unter Nennung der jeweils relevanten Normen erläutert. Ebenso werden die später noch im Detail behandel-ten europäischen Richtlinien und die supranationalen Gesell-schaftsformen in ihren Grundzügen dargestellt. Allgemein fällt auf, dass die Autoren stets auf eine Darstellung eng an den relevanten Gesetzesmaterialien bedacht sind. Immer wie- der sind zum Beispiel Richtlinien und Gesetzesauszüge abge-druckt.

Sind diese Grundlagen verstanden oder schon vorher vor-handen gewesen, so kann der Leser sich dem zweiten Teil der Darstellung widmen. Dieser beschäftigt sich mit den gesell-schaftsrechtlichen Richtlinien, die als das Herzstück des europäischen Gesellschaftsrechts betrachtet werden können. Die Verordnung hat sich nämlich, wie die Autoren zutreffend erkannt haben, nicht als Regelungsinstitut durchgesetzt. Auf knapp 400 Seiten werden – mit einem umfassenden aber auch hilfreichem Fußnotenapparat ausgestattet – Themengebiete wie etwa die handelsrechtliche Publizität, Umwandlungs-maßnahmen und Rechnungslegungsvorschriften behandelt. Dabei wird jedes einzelne Kapitel konsequent mit einem umfangreichen Schrifttumsverzeichnis eingeleitet, welches das Auffinden weiterer relevanter Literatur deutlich verein-facht. Streitige Punkte werden von den Autoren umfassend und klar herausgearbeitet und ebenso mit hinreichend Nach-weisen belegt. Dies und das bereits erwähnte Schrifttums- verzeichnis sind natürlich gerade bei der Erstellung von Haus- und Seminararbeiten besonders hilfreich.

Der letzte und somit dritte Teil widmet sich schließlich den supranationalen Rechtsformen, mithin der EWIV (Euro-päische wirtschaftliche Interessenvereinigung), SE (Europäi-sche Gesellschaft), SCE (Europäische Genossenschaft) und SPE (Europäische Privatgesellschaft). Die bekannteste und am weitesten verbreitete von diesen ist die SE. Diese nimmt folgerichtig – hier wurde wieder insbesondere auf die Be-dürfnisse der Praxis Rücksicht genommen – den meisten Platz der Darstellung ein. Alle vier Rechtsformen werden im weitgehend gleichen Schema erläutert: Nach einer Erläute-rung der jeweiligen Grundlagen, werden die Rechtsnatur und die Gründung dargestellt. Dem folgend geht es um Fragen der Organisation und Haftung. Die identische Vorgehenswei-se ermöglicht eine Vergleichbarkeit der verschiedenen Rechts- formen untereinander.

Ausführungen zur in der Planung befindlichen SUP (Ein-personengesellschaft) finden sich zwar in den Ausführungen zur Einpersonengesellschaft (§ 10) nicht jedoch bei den Erläuterungen zu den supranationalen Rechtsformen. Dies könnte zwar damit begründet werden, dass es diese Rechts-form noch nicht gibt – dann ist es jedoch nicht überzeugend, die SPE bei den supranationalen Rechtsformen darzustellen. Das Projekt der SPE wurde schließlich auch nicht verwirk-licht. III. Stellungnahme

Angetreten um – so das Vorwort zur ersten Auflage – die Lücke zwischen dem deutschen und europäischen Gesell-schaftsrecht zu schließen, hat sich das Buch von Haber-

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sack/Verse zu einem „Schwergewicht“ im Bereich der Veröf-fentlichungen im Europäischen Gesellschaftsrecht entwickelt. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf den erheblichen Umfang von 630 Seiten, sondern auch hinsichtlich der erfolgreichen Aufbereitung und Darstellung eines sehr umfangreichen Themengebietes. Betrachtet man die zu verarbeitende Masse an Informationen, so relativiert dies den erheblichen Umfang an Seiten.

Den Autoren ist es gelungen, ein didaktisch ansprechen-des Werk zum europäischen Gesellschaftsrecht erfolgreich neu zu bearbeiten und zu aktualisieren. Zudem stellt es eine gut brauchbare Arbeitshilfe für den Praktiker dar, der sich mit Einzelproblemen beschäftigen muss.

Positiv hervorzuheben ist auch die Aufbereitung in sprach- licher sowie stilistischer Weise. Auf unnötige Verkomplizie-rungen wird verzichtet, vielmehr sticht der stets gut lesbare Satzbau und die verständliche Wortwahl hervor.

Zwar wird nicht jeder Leser das Buch von der ersten bis zur letzten Seite lesen, dies stellt jedoch aufgrund des stets übersichtlichen Aufbaus auch kein Problem dar. Vielmehr lassen sich einzelne Themenfelder und hierzu passende Er-läuterungen schnell auffinden.

Bleibt letztendlich die Frage: Was kann an diesem Buch kritisiert werden? Wie gesehen, nicht viel! Erfreulich wäre es aber gewesen, dem in dieser Rezension einleitend benannten hochaktuellen Thema des Brexits mehr Raum zukommen zu lassen. Zwar werden die einzelnen Themen – zum Beispiel die Diskriminierung von Unternehmen aus anderen Mitglieds- ländern – behandelt, ein engerer Bezug zum Brexit wäre jedoch empfehlenswert gewesen. Gerade für die aktuelle Beratung in der Praxis wäre dieser Themenbereich besonders interessant gewesen.

Zuletzt bleibt nur, so wie bereits in vielen anderen Rezen-sionen zur Vorauflage zu lesen war,1 zu empfehlen, nicht wieder mehrere Jahre mit einer Neuauflage zu warten. Ver- gingen von der 3. zur 4. Auflage etwa fünf Jahre so sind es von der 4. zur 5. Auflage schon mehr als sieben geworden. Gerade bei einem stetig im Wandel befindlichen Rechtsgebiet wie dem vorliegenden ist dies schlicht zu lang und sollte verkürzt werden.

Insgesamt kann der Habersack/Verse auch in der 5. Auf-lage uneingeschränkt empfohlen werden und wird seinem Anspruch als umfangreiche Darstellung des europäischen Gesellschaftsrechts und seiner Kombination aus Lehrbuch und Textsammlung gerecht. Erfreulich ist auch die hoch- wertige Aufmachung des gesamten Buches. Zwar bewegt es sich mit 99,00 € nicht gerade im studentischen Budget, dürfte jedoch ohnehin in Kürze in den meisten juristischen Univer-sitätsbibliotheken vorhanden sein. Bei der Auseinanderset-zung mit Problemen des europäischen Gesellschaftsrechts sollte dieses Buch jedenfalls nicht fehlen!

Diplom-Jurist (Univ.) Tino Haupt, Würzburg/Frankfurt am Main

1 Vgl. z.B. Wohlrab, GPR 2015, 218 (219).

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Ein Einstieg in Niklas Luhmanns Rechtssoziologie: Leben, Werk, Gedankenwelt Von Wiss. Mitarbeiter Jan-Peter Möhle, Bielefeld* Der Name Niklas Luhmann (1927–1998) kommt in jeder rechtssoziologischen Vorlesung vor. Luhmanns Gedanken prägen die Rechtssoziologie des 20. Jahrhunderts stark. Nicht immer wird sein theoretisches Werk dabei hinreichend gewürdigt. Zu komplex wirken viele seiner Schriften, zu kon-tingent seine theoretischen Ansätze für eine „Methodenvorle-sung“. Kontingent, denn sie denken mit und setzen voraus, dass alles anders sein könnte, für den Moment nichts aber anders ist.1 Und Luhmann würde diesen häufig kritisch ge-meinten Hinweis keinesfalls als Vorwurf verstanden wissen. Vielmehr würde er – zur kriegsgeprägten Generation gehörig – zustimmen: „[…] 1945 noch zur Wehrmacht einberufen […] stand [ich] mit meinem Banknachbarn an einer Brücke, zwei Panzerfäuste in vier Händen. Dann machte es Zisch, ich drehte mich um, da war kein Freund und keine Leiche, da war nichts. Seitdem denke ich Kontingenz.“2 Luhmanns An-sätze wirken nicht nur kontingent. Sie sind es. Trotzdem bie-ten seine Schriften einen spannenden Zugang zu Recht und insbesondere interdisziplinärer Forschung am Recht. Es lohnt sich also für jeden Juristen, Niklas Luhmann und seine rechtssoziologischen Ansätze zu kennen. I. Leben Luhmann stammte aus einem wohlhabenden, aber nicht aka-demischen Haushalt.3 Er studierte von 1946 bis 1949 Rechts- wissenschaft in Freiburg im Breisgau. Nach dem juristischen Referendariat, einer abgebrochenen Dissertation und Auslands- aufenthalten arbeitete er als Verwaltungsbeamter an der Hoch- schule der Verwaltung in Speyer. 1966 wurde er promoviert und habilitierte sich an der Rechts- und Staatswissenschaftli-chen Fakultät der Universität Münster in den Fächern Sozi-alwissenschaften bzw. Soziologie. Unter der Einflussnahme von Helmut Schelsky wurde er 1968 einer der ersten Profes-soren an der soziologischen Fakultät der neuen Reform- universität Bielefeld. Dort lehrte er – neben der Annahme vieler Gastprofessuren überall auf der Welt – bis zu seiner Emeritierung 1993. Seit 2005 gibt es in Bielefeld zu seinen Ehren die sog. „Niklas-Luhmann-Gastprofessur“. Nicht nur in soziologischen Seminaren fragen vereinzelte Stimmen, ob Luhmanns Einfluss es nicht rechtfertigen würde, die Bielefel-

* Jan-Peter Möhle ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl von Herrn Prof. Dr. Gusy an der Universität Bielefeld. Er studier-te Rechtswissenschaft und Soziologie an den Universitäten Bielefeld und Neuchâtel/CH. Sein Dank gilt Herrn Niklaas Bause, M.A. für die kritische Diskussion und Herrn Stud. iur. Jonas Blaszkowski für Anmerkungen und Durchsicht. 1 Luhmann, in: Luhmann, Politische Planung, 5. Aufl. 2007, S. 35 (44): „Alles könnte anders sein und fast nichts kann ich ändern.“. 2 Luhmann, zitiert in: Müller/Lorenz, Niklas Luhmann – Philosophie für Einsteiger, 2016, S. 8. 3 Zu biographischen Hinweisen auch Baecker, in: Jahraus u.a. (Hrsg.), Luhmann-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, 2012, S. 1 ff.

der Universität in Niklas-Luhmann-Universität umzubenen-nen. II. Luhmanns soziologisches Werk im Rechtskontext Luhmanns Lebenswerk lässt sich – um das Verständnis zu erleichtern, aber zugegebenermaßen grob verkürzt – in drei wesentliche, sich teils überlappende Arbeitsschritte einteilen.4 Bereits 1970 begann Luhmann sich in der ersten dieser drei Phasen in Aufsatzform in der Schriftenreihe zur soziologi-schen Aufklärung5 mit Einwänden gegen seine Vorstellung von der funktional differenzierten modernen Gesellschaft zu beschäftigen. Er befasste sich im ersten Teil der „Soziologi-schen Aufklärung“ mit dem Einwand, modernes Recht sei ideologisches Recht und vor allem ökonomisch geprägt.6 In einer zweiten Phase beschrieb Luhmann die einzelnen funkti-onalen Teilbereiche der Gesellschaft, z.B. Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion7 und unter anderem auch das Recht in seinem Werk „Das Recht der Gesellschaft“.8 Er bezeichnete diese funktionalen Teilbereiche als Gesellschaftssysteme.9 Erst in einem dritten Abschnitt verknüpfte Luhmann alle Erkenntnisse in dem zweibändigen Werk zur „Gesellschaft der Gesellschaft“ zu seinem theoretischen Gesamtkonzept.10 Immer wieder befasste sich Luhmann mit einzelnen Aspekten und der soziologischen Beobachtung des Rechts, zum Bei-spiel in „Grundrechte als Institution“ (1965), seinem Werk zur „Rechtssoziologie“ (1972), der Auseinandersetzung mit „Rechtssystem und Rechtsdogmatik“ (1974) oder den Ge-danken zur „soziologische[n] Beobachtung des Rechts“ (1986). Auch „Die juristische Rechtsquellenlehre aus sozio-logischer Sicht“ (1973) und der Aufsatz zum „Recht als sozi-ales System“ (1986) sind soziologische Auseinandersetzun-gen mit dem Recht. Die Aneinanderreihung von Luhmanns Publikationen in den (hier postulierten) drei Phasen wirkt induktiv, wohlüberlegt und fast so, als läge ihr eine gesetzli-che Systematik zu Grunde. III. Recht als soziales System – die Grenzen soziologischer Betrachtung Soziologie hat den Anspruch, soziale Realität zu erklären. Man könnte meinen, Soziologie trete deshalb belehrend auf.

4 Vgl. zu Ansätzen eines solchen Schemas: Müller/Lorenz (Fn. 2), Grafik auf S. 55. 5 Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 1–6, 1970–1995. 6 Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 1, 1970, S. 178–203. 7 Vgl. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1994; ders., Die Politik der Gesellschaft, 1999 (Hg. posthum); ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990; ders., Die Religion der Gesellschaft, 2000 (Hg. posthum). 8 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993. 9 Luhmann, in: Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 2, 1975, S. 9–20 (11); siehe auch: ders., Soziale Systeme, 1987. 10 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1 und 2, 1997.

VARIA Jan-Peter Möhle

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Soziologen könnten versuchen, dem Recht seine gesellschaft-lichen Funktionen zu erklären. Sie könnten das Recht als „Recht der Oberschicht“ ungleichheitszentriert untersuchen. Oder sie könnten empirische Widersprüche zwischen Rechts-anspruch und Rechtsrealität aufdecken. Nichts davon macht Niklas Luhmann. Interessant an seiner allgemeinen Soziolo-gie und Rechtssoziologie ist, dass sie zuvorderst eigene Grenzen aufzeigt.

Zu Beginn von Luhmanns wissenschaftlicher Karriere in den 1960er Jahren keimten die alten Diskussionen um die Brauchbarmachung der Sozialwissenschaften im Recht erneut auf.11 Zwei extreme Sichtweisen beherrschten die Diskussi-on.12 Luhmann ließen die ausgetauschten Argumente unbe-eindruckt. Denn die Systemtheorie ermöglichte es ihm, die Ursache der Verständigungsprobleme zwischen Recht und Soziologie offenzulegen und nicht nur die Wirkung zu be-werten. Nach Luhmanns Ansicht ist die moderne Gesellschaft funktional differenziert in soziale Systeme. Systeme sind sinnhaft aufeinander bezogene Handlungen, die von ihrer Umwelt abgrenzbar sind.13 Sie sind Merkmalssammlungen, deren Entfallen den systemischen Gesamtsystemcharakter in Frage stellen würde.14 Da sich alle Handlungen, wie z.B. Gerichtsentscheidungen, Herausbilden einer sog. „herrschen-den Meinung“ durch Diskussion oder die Anklage der Staats-anwaltschaft sinnhaft aufeinander beziehen, ist auch das Rechtssystem ein solches Gesellschaftssystem.15 Das Recht hilft dabei, Erwartungen zu sichern, Enttäuschungen zu steu-ern16 und steht gleichrangig neben Politik, Wirtschaft, Wis-senschaft und vielen anderen Gesellschaftssystemen. Sozio-logie hingegen ist Teil des Wissenschaftssystems.

Dem Systemgedanken wohnt das inne, was Luhmann „Autopoiesis“ oder Selbstreferenz nennt: Jedes System be-steht aus aufeinander bezogener Kommunikation. Zur eige-nen Aufrechterhaltung muss es sich von der Umwelt abgren-zen. Das Rechtssystem grenzt sich z.B. vom Politiksystem in die eine Richtung ab, wenn es darauf verweist, dass die Aus-gestaltung einer Norm „politische Entscheidung“ sei oder in die andere Richtung mit dem Verweis, dass „die Grundrech-te“ einem politischen Vorhaben entgegenstehen. Und es grenzt sich z.B. von der Wirtschaft ab, wenn es einem im Wirtschaftssystem mächtigen, da reichen Banker, den Ver-such untersagt, mit diesem Geld in Gerichtsverfahren Ein-

11 Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, 1910, S. 275: Gute Gesetzgebung sei unmöglich „ohne Kenntnis der Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten des sozialen Lebens, welches sie regeln will, das ist so selbstverständlich, dass hier von einem Problem gar nicht die Rede sein kann.“. 12 Naucke, Juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, 1972, S. 9 f.; auf der einen Seite z.B. Krawietz, RuP 1970, 154: Recht kann nur sozialwissenschaftlich fundiert Recht sein. Auf der anderen Seite z.B. Achterberg, JZ 1970, 281–283, der von der soziologischen Krücke der Rechtswissen-schaft spricht und die „Soziologisierung des Rechts“ ablehnt. 13 Luhmann (Fn. 9 – Soziologische Aufklärung II), S. 1. 14 Luhmann, Soziale Systeme, 1987, S. 15. 15 Luhmann, ZfRSoz 1999, 3. 16 Baer, Rechtssoziologie, 3. Aufl. 2017, S. 94.

fluss auf gerichtliche Entscheidungen zu nehmen. Jedes Sys-tem unterscheidet sich von seiner Umwelt also dadurch, dass es nach eigenen sog. binären Codes funktioniert. Im System anschlussfähige Kommunikation wird so von Kommunikati-on in der Umwelt abgegrenzt. Positives „Recht und Unrecht“ ist der Code des Rechtssystems.17 Externe Kommunikation ist nur anschlussfähig, wenn sie an systeminterne Codes anknüpft (sog. strukturelle Kopplung). Wenn z.B. ein Lan-despolitiker in einer Bürgerstunde die Forderung formuliert, „Grenzen besser sichern zu wollen“, so wird diese Forderung im Rechtssystem keine Resonanz finden, weil sich ein unzu-ständiger Politiker ohne Bezug zum positiven Recht äußert. Wenn zuständige Ausschüsse aber z.B. ankündigen, Rege-lungen zu ändern, weil sie diese als nicht mehr zeitgemäß erachten, horcht das Rechtssystem auf: Denn es geht hier um „Recht und Unrecht“.

Die Soziologie ist hingegen Teil des Wissenschaftssys-tems. Sie ist somit Umwelt für das Rechtssystem. Die binären Codes zeigen, dass Soziologie nicht unmittelbaren Einfluss auf rechtliche Sachverhalte nehmen kann. Der Jurist betrach-tet auf der einen Seite zur Vorhersage von Entscheidungen Normen (Recht und Unrecht), der Soziologe andererseits sieht sich Sozialmerkmale des Falles an (wahr und unwahr).18 Luhmann verneint die Frage der Beeinflussbarkeit konse-quent: „Rechtssoziologie nützt – sich selbst. […] Ein Nutzen für die Rechtspraxis ist von der Soziologie kaum zu erwarten. Gerade als Soziologe […] [kann] man gar nicht anders ant-worten.“19 An anderer Stelle ist sein konsequenter Schluss: „[...] Nur das Recht kann sagen, was Recht und was Unrecht ist […]“.20 Luhmann ist häufig vorgeworfen worden, er un-terbinde interdisziplinäre Zusammenarbeit.21 Dieser Schluss wäre aber verkürzt und fatal zugleich. Er übersieht das Poten-tial von Luhmanns Theorie. Was also kann Luhmann als Soziologie zum Recht sagen? IV. Perspektiven einer systemtheoretischen Betrachtung des Rechts Luhmann sensibilisiert alle Beteiligten, dass eine interdiszi- plinäre Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Recht, wie auch jede andere interdisziplinäre Zusammenarbeit, von be- stimmten Bedingungen abhängt, die erst mit der Theorie selbstreferenzieller, autopoietischer Systeme, also mit der Systemtheorie, einsichtig seien.22 Erst mit Berücksichtigung dieser Bedingungen ist Zusammenarbeit möglich. Grund- aussage ist aber: Interdisziplinäre Verständigung ist möglich!

Soziologie beobachtet das Rechtssystem extern, sie fremdbeschreibt. Recht selbst kann sich nur intern, also selbstbeschreibend beobachten. Diese Gegenüberstellung von 17 Vgl. Luhmann (Fn. 8), S. 165–213 (165 ff.). 18 Luhmann (Fn. 8), S. 541. 19 Luhmann, Soziologische Beobachtung des Rechts, 1986, S. 44 f. 20 Luhmann, ZfRSoz 1999, 4. 21 Vgl. z.B. Bechtler, Soziologischer Rechtsbegriff, 1977, S. 157 m.w.N.; Schelsky, Die Soziologen und das Recht, 1980, S. 93–94; Wrase, ZfRSoz 2006, 293. 22 Luhmann (Fn. 19), S. 11.

Ein Einstieg in Niklas Luhmanns Rechtssoziologie ALLGEMEINES

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interner und externer Beobachtung bietet viel Potential für die juristische Arbeit. Sie kann Korrektiv sein für rechtliche Betriebsblindheit. Wie aber kann eine solche Gegenüberstel-lung aussehen? Anhand eines Beispiels, das nicht von Niklas Luhmann stammt, aber eingängig erscheint, lassen sich die beiden Blickwinkel gut darstellen.

Angenommen, ein Rentner mit einem Barvermögen von zehn Millionen Euro verstirbt und hinterlässt zwei Erben. Der traurige, aber rechtlich triviale Fall kann nun aus beiden Blickwinkeln betrachtet werden, wobei ich den soziologi-schen Blickwinkel als fiktiv verstanden wissen möchte. Die rechtliche (Selbst-)Beschreibung des Falls ist – stark verkürzt – folgende: Die positivrechtlichen Regelungen normieren, dass, sofern keine abweichenden Regelungen durch Testa-ment o.ä. getroffen sind, die Regelungen der gesetzlichen Erbfolge der §§ 1922 ff. BGB greifen. Sind die Erben z.B. Abkömmlinge des Erblassers, so sind sie hiernach gleich- berechtigte Erben erster Ordnung (§ 1924 Abs. 1 BGB). Praktisch besonders relevant ist die Erbschaftssteuer. Gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG fallen Kinder des Erblassers in die Steuerklasse 1, haben also einen nicht zu versteuernden Frei-betrag von 400.000 EUR (§ 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG). Der Restbetrag wird bei einem Vermögen von unter 13 Millionen Euro in Erbschaftssteuerklasse I mit 19 Prozent versteuert. Von den geerbten 5 Millionen Euro pro Kind zahlt ein jedes somit 874.000 Euro an Erbschaftssteuer. Es behält also mehr als vier Millionen Euro. Dies ist positives Recht. Dies ist legal. Denkbar wäre nun, dass Soziologie untersucht, wie sich das Erbrecht auf die Vermögensverteilung in der Gesellschaft auswirkt. Soziologie könnte zum Beispiel zu dem kontrasti-ven Ergebnis kommen, dass das geltende Erbrecht soziale Ungleichheit bestärke und gesellschaftliche Schichtung för-dere.23 Dies klingt in einer leistungsorientierten Gesellschaft erklärungsbedürftig, denn Recht beabsichtigt, Chancengleich- heit herzustellen (Art. 3 Abs. 1 GG). Die reine soziologische Erkenntnis, dass das derzeitig geltende Erbrecht Ungleichhei-ten fördert, wird keine Diskussionen im Rechtssystem be-gründen. Jede direkte Steuerung des Rechts durch soziologi-sche Erkenntnis ist ausgeschlossen. Das soziologische Wis-sen erlangt aber Bedeutung im Recht dort, wo es „den Filter der juristischen Verwendungstauglichkeit passier[t] […]“.24 Externe Beobachtung ist für das Rechtssystem in der Regel unangenehm.25 Ein möglicher Vorwurf der Soziologie an das Rechtssystem lautet: Du, Recht, gibst vor, vernünftige Rege-lungen zu erlassen, erlässt aber keine vernünftigen Regelun-gen. Die Konfrontation des Rechtssystems mit den soziologi-schen Beobachtungsergebnissen zwingt das Rechtssystem also zur Selbstdarstellung, zur Wiederherstellung von Stabili-tät. Wenn das Recht sich in einer leistungsorientierten Gesell-schaft als vernünftig darstellt, so müsste das Rechtssystem im obigen Fall erklären, warum das ungleichheitsbedingende

23 Vgl. insoweit mit Bezug zu Art. 3 Abs. 1 GG: BVerfG, Urt. v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12; insb. Rn. 1–7 (Verfas-sungswidrigkeit der Privilegierung von Betriebsvermögen, §§ 13a, 13b ErbStG). 24 Hoffman-Riem, ZfRSoz 2001, 3 (18). 25 Roellecke, JZ 1999, 213 (213).

positive (Erb-)Recht dennoch vernünftig ist. Das Rechts- system kann nun zwar die soziologischen Erkenntnisse exter-ner Beobachtung als unzutreffend darstellen. Es kann aber schwerlich die externen Beobachtungen gänzlich unkommen-tiert lassen. Auch wenn das Rechtssystem durch die juristi-schen Methoden die Deutungshoheit über positivrechtliche Fragestellungen hat, z.B. im Erbrecht die Frage, wer erbt wie viel, selbstbeschreibt es sich nur. Die extern beobachtende Soziologie kann hingegen aufzeigen, dass das, was das Rechtssystem als Recht beschreibt, „dem Beobachter als Un- recht, zum Beispiel als Ausdruck einer Klassengesellschaft oder mangelnde Aufklärung über vernünftige Gründe er-scheint.“26 Die Ergebnisse externer Beobachtung haben somit Fortschrittspotential für gesamtgesellschaftliche Entwicklun-gen. Sie sind Ansatzpunkt für die Ausarbeitung der Bedin-gungen effektiver Zusammenarbeit zwischen Recht und So-ziologie. V. Die doppeldeutigen Konsequenzen der Sichtweise Luh- manns für das Rechtssystem Luhmanns theoretische Überlegungen sind für das Rechts- system ambivalent: Einerseits ist das Rechtssystem eigen-ständiges System, autopoietisch und selbstreferenziell. Es hat die autonome Deutungshoheit über die Frage nach Recht und Unrecht und somit eine gesellschaftlich starke Stellung. An-dererseits deckt Luhmann auf, dass diese Erkenntnis relativ ist. Soziologie betrachtet das Rechtssystem aus einem exter-nen Blickwinkel, den das Recht selbst nicht einnehmen kann. Bei Konfrontation mit anschlussfähigen externen Erkenntnis-sen muss das Rechtssystem reagieren, um seine Deutungs- hoheit zurückzugewinnen. Diese Erkenntnis offenbart die Ver- letzlichkeit des Rechtssystems. Je positivistischer das Rechts-system agiert, umso besser funktioniert die Stabilisierung normativer Erwartungen. Rechtspositivismus kann aber durch externe soziologische Erkenntnisse gestört werden. Diese Störung bietet Chancen für gesellschaftlichen Fortschritt. Kaum ein Jurist würde der These widersprechen, Recht sei funktional, denn es stabilisiert Strukturen der modernen Ge-sellschaft. Recht verfolgt Maximen, die der Mehrheitsgesell-schaft mehr oder weniger bewusst sind. Es stellt einen Inte-ressenausgleich vor dem Hintergrund eines Höchstmaßes an Heterogenität mit einem Mindestmaß an Gleichheit unter größtmöglicher Verwirklichung spezifischer gesellschaftlicher Ziele sicher (Demokratie, kein Autoritarismus u.ä.). Das und wie diese Ziele durch Erzeugen von Resonanz empirisch ver- wirklicht werden und gesamtgesellschaftlich am besten ver-wirklicht werden könnten, kann sozial-funktionalistische So- ziologie aufzeigen. Auch wenn es auf den ersten Blick zerstö-rerisch erscheint, ist der wohl größte rechtssoziologische Verdienst von Niklas Luhmann, dass er aufzeigt, wie inter-disziplinäre Zusammenarbeit zwischen Recht und Soziologie funktioniert und welche Grenzen sie hat.

26 Luhmann (Fn. 19), S. 15.