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„DIE DREI W“ Zu einem Opernplan Alban Bergs JULIA WECHSLER Obwohl Alban Berg in vielen Gattungen komponierte und Meisterwerke der Vokal- und Instrumentalmusik schuf, blieb er in der Geschichte vor allem als Opernkomponist lebendig. Sogar die Inschrift auf der Gedenktafel in Wien XIII, Trauttmansdorffgasse 27, lautet: „Alban Berg, Komponist der Oper ‚Wozzeck‘ wohnte in diesem Hause“. Die Oper brachte Berg Anerkennung und Weltruf ein – der Autor des Wozzeck war auch jenen ein Begriff, die keine einzige Note aus diesem Werk gehört hatten und ganz und gar nicht als Vereh- rer der modernen Musik galten. Und die Oper stand am Ende seines Schaf- fensweges, als geistiges Vermächtnis des Komponisten, das aber offen blieb. Dennoch gibt es in der Musikgeschichte nicht viele unvollendete Werke, die so oft aufgeführt werden wie Lulu. Zwei Opern – das ist nicht wenig für Berg, der langsam komponierte und nur 50 Jahre alt wurde. Jedoch ist es nicht viel, wenn wir die große Zahl sei- ner nicht verwirklichten Pläne bedenken. Sie eröffnen uns eine der wenig er- forschten, aber interessantesten Seiten der künstlerischen Biographie Alban Bergs und lassen sogar seine gut bekannten Opera in einem anderen Licht er- scheinen. Berg begann die Suche nach dem Stoff für seine zweite Oper sofort nach der Vollendung des Wozzeck 1922, aber erst sechs Jahre später, im Sommer 1928, wählte er die Tragödien Erdgeist und Die Büchse der Pandora von Frank Wedekind, die er der Lulu-Oper zugrunde legte. Die lange Zeit des Suchens war aber keineswegs fruchtlos. Berg schrieb in diesen Jahren her- vorragende Instrumentalwerke – das Kammerkonzert und die Lyrische Suite – und komponierte eine neue Fassung des Liedes „Schließe mir die Augen beide“ zum 25jährigen Jubiläum der Universal Edition. Doch zu keiner Zeit gab er den Gedanken an seine neue Oper auf; das bezeugt eine Reihe von Opernplänen, vor allem Der Dibbuck nach der dramatischen Legende von

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Julia Wechsler

„DIE DREI W“

Zu einem Opernplan Alban Bergs

JULIA WECHSLER

Obwohl Alban Berg in vielen Gattungen komponierte und Meisterwerke derVokal- und Instrumentalmusik schuf, blieb er in der Geschichte vor allem alsOpernkomponist lebendig. Sogar die Inschrift auf der Gedenktafel in WienXIII, Trauttmansdorffgasse 27, lautet: „Alban Berg, Komponist der Oper‚Wozzeck‘ wohnte in diesem Hause“. Die Oper brachte Berg Anerkennungund Weltruf ein – der Autor des Wozzeck war auch jenen ein Begriff, die keineeinzige Note aus diesem Werk gehört hatten und ganz und gar nicht als Vereh-rer der modernen Musik galten. Und die Oper stand am Ende seines Schaf-fensweges, als geistiges Vermächtnis des Komponisten, das aber offen blieb.Dennoch gibt es in der Musikgeschichte nicht viele unvollendete Werke, dieso oft aufgeführt werden wie Lulu.

Zwei Opern – das ist nicht wenig für Berg, der langsam komponierte undnur 50 Jahre alt wurde. Jedoch ist es nicht viel, wenn wir die große Zahl sei-ner nicht verwirklichten Pläne bedenken. Sie eröffnen uns eine der wenig er-forschten, aber interessantesten Seiten der künstlerischen Biographie AlbanBergs und lassen sogar seine gut bekannten Opera in einem anderen Licht er-scheinen.

Berg begann die Suche nach dem Stoff für seine zweite Oper sofort nachder Vollendung des Wozzeck 1922, aber erst sechs Jahre später, im Sommer1928, wählte er die Tragödien Erdgeist und Die Büchse der Pandora vonFrank Wedekind, die er der Lulu-Oper zugrunde legte. Die lange Zeit desSuchens war aber keineswegs fruchtlos. Berg schrieb in diesen Jahren her-vorragende Instrumentalwerke – das Kammerkonzert und die Lyrische Suite– und komponierte eine neue Fassung des Liedes „Schließe mir die Augenbeide“ zum 25jährigen Jubiläum der Universal Edition. Doch zu keiner Zeitgab er den Gedanken an seine neue Oper auf; das bezeugt eine Reihe vonOpernplänen, vor allem Der Dibbuck nach der dramatischen Legende von

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„Die drei W„

Ansky und das Glashüttenmärchen Und Pippa tanzt! von Gerhart Haupt-mann.1

Einen besonderen Platz in diesem Zusammenhang nimmt die Operntrilogie„Die drei W“ ein – vielleicht das größte von Bergs Projekten. Die Idee ent-stand offensichtlich 1923, als Berg schon die Arbeit am Kammerkonzert be-gonnen hatte. Als erster Teil der Trilogie wurde die bereits komponierte OperWozzeck vorausgesetzt, der zweite hieß Vincent, der dritte Wolfgang.

Bergs Nachlaß in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbi-bliothek in Wien enthält einen Plan für die Trilogie (Abbildung 1, Faksimileund Übertragung; Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Alban BergStiftung Wien). Dieses in vieler Hinsicht bemerkenswerte Dokument erregtekein besonderes Interesse in der Forschung. Der von Rosemary Hilmar ver-faßte Katalog der Handschriften Alban Bergs widmet ihm ein paar Zeilen, indenen der Plan als „kurios“ bezeichnet wird.2 Dennoch sind solche Kuriosabisweilen der Beachtung wert, denn hier kommen jene Eigenschaften derkünstlerischen Individualität unverstellt zum Ausdruck, die in den vollendetenWerken oft ausgeglichen, nivelliert erscheinen. Dies gilt auch für die Trilogie„Die drei W“.

Der Plan ist im Zusammenhang mit Bergs späterem Ruf als Schöpfer mu-sikalisch-architektonischer Formen sehr aufschlußreich. Ihrer Konstruktionnach ähnelt die Trilogie einem ausführlich durchdachten großformalen Bau,der die Prinzipien der Symmetrie und des dynamischen Gleichgewichts ver-eint. Er verblüfft nicht nur durch ein sorgfältig kalkuliertes Teilungsverhältnis,sondern auch durch die Korrelation mit anderen Kompositionen Bergs, als ober in die Landschaft seines ganzen Schaffens „hineingeschrieben“ wäre. DemPlan zufolge bilden die durch symphonischen Epilog, Zwischenspiel und Pro-log (jenseits von deren lokaler Bedeutung) verbundenen Teile der Trilogieeine gewisse Einheit. Der Epilog erklingt am Ende der Oper Wozzeck (die be-rühmte Trauermusik in III/4–5), das Zwischenspiel in der Mitte der Oper Vin-cent, das Vorspiel geht der Oper Wolfgang voran. Die Akt- und Szenenzahlbefindet sich in einem strengen Verhältnis zueinander und nimmt von einer

1 Siehe dazu T. Ertelt, Alban Bergs ›Lulu‹. Quellenstudien und Beiträge zur Analyse,Wien 1993 (= Alban Berg Studien III), S.11–33. Rosemary Hilmar äußert die Vermutung,daß Berg auch an eine Vertonung von Goethes Faust dachte; vergleiche den von ihr zusam-mengestellten Katalog Alban Berg 1885–1935. Ausstellung der Österreichischen National-bibliothek, Wien 1985, S. 89.

2 F. Grasberger und R. Stephan (Hrsg.), Katalog der Musikhandschriften, Schriftenund Studien Alban Bergs im Fond Alban Berg und der weiteren handschriftlichen Quellenim Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek, vorgelegt und erläutet von R. Hilmar,Wien 1980 (= Alban Berg Studien I/1), S. 8, 20 und 25; vergleiche auch Alban Berg 1885–1935, a. a. O., S. 76, Nr. 210.

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„Die drei W„

Abb. 1: Alban Berg, Plan der Trilogie „Die drei W“, Faksimile und Übertragung(Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, F 21 Berg 70/I f.2)

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Oper zur anderen ab. Als wichtiger verbindender Faktor dient auch die spie-gelsymmetrische Anlage des mittleren Teiles: der zweite Akt von Vincent istder Krebs des ersten. Bergs Vorliebe für die Spiegelsymmetrie verwandeltesich mit der Zeit immer mehr in eine fixe Idee. Vom Kammerkonzert an zei-gen alle seine Werke diese oder jene Variante der Spiegelform; der frühesteAnsatz dazu findet sich offensichtlich in dem Opernplan zu Vincent. Amnächsten kommt ihm hinsichtlich der Struktur die Oper Lulu. Zunächst beab-sichtigte Berg, die Spiegelform für die ganze Oper zu verwenden, später bliebsie nur in der Filmmusik des II. Akts erhalten (das zentrale Zwischenspiel, dasdie Oper in zwei symmetrische Hälften teilt, die dem Auf- und Abstieg derHauptfigur entsprechen).3

Nicht weniger typisch für Berg ist auch die Anspielung auf ein geheimesProgramm, das der Trilogie zugrunde liegt. Alle drei Opern sind mit program-matischen Untertiteln versehen: Wozzeck – „Knecht“, Vincent – „Freund“,Wolfgang – „Herr“. Daß die Freimaurergrade mit fast denselben Worten be-zeichnet werden, hilft hier nicht viel weiter. Die Bezeichnungen „Knecht“,„Freund“ und „Herr“ könnten vielleicht darauf hinweisen, daß Berg in diesemWerk die Etappen seiner schöpferischen und persönlichen Entwicklung nach-zeichnen (oder vorzeichnen!) wollte.

Der autobiographische Hintergrund des Wozzeck ist gut bekannt. DessenPlan fiel auf Bergs Armeedienst während des Ersten Weltkrieges, und derKomponist betonte mehrmals die Ähnlichkeit mit der Hauptperson der Oper.„Steckt doch auch ein Stück von mir in seiner Figur“, schrieb Berg an seineFrau, „seit ich ebenso abhängig von verhaßten Menschen, gebunden, kränk-lich, unfrei, resigniert, ja gedemütigt, diese Kriegsjahre verbringe.“4

Die Bezeichnung „Knecht“ dürfte sehr genau Bergs damaligen Zustandcharakterisieren; in seinen Briefen aus dieser Zeit ist mehrfach von seiner„Knechtschaft“ die Rede.

Aber das Wort „Knecht“ meint auch „Diener“. Mit dieser Bedeutung erhältdie programmatische Anspielung einen anderen Sinn – zumindest die erstenbeiden Untertitel („Knecht“ und „Freund“) fügen sich dem Paradigma der Be-ziehungen Bergs zu seinem Lehrer Arnold Schönberg ein. Am Anfang war dieLehrzeit, als Berg zum „Aposteldienst“ seinem Meister gegenüber bereit war,obwohl er an seinem despotischen und autoritären Charakter sehr zu leidenhatte. Der erwachsene Schüler, der an der Schwelle der künstlerischen Reife

3 Vergleiche S. Rode, Alban Berg und Karl Kraus: Zur geistigen Biographie des Kom-ponisten der „Lulu“, Frankfurt/Main u. a. 1988, S. 255 f.

4 A. Berg, Briefe an seine Frau, hrsg. von H. Berg, München Wien 1965, S. 376,Nr. 287.

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stand, aber als Komponist fast unbekannt war, gewann das Recht, sich Schön-bergs Freund zu nennen. Später verdunkelte Bergs Ruhm, den der Komponistdes Wozzeck zu genießen begann, diese Freundschaft mit einem Schatten derRivalität.

Die Anspielung auf ein geheimes Programm in der Trilogie ist auch in an-derer Hinsicht interessant. Der von Berg erträumte Aufstieg vom „Knecht“zum „Herrn“, der erst nach Jahren in Erfüllung ging, als der Autor des Woz-zeck Weltruhm erworben hatte, stellt anschaulich den Prozeß des Komponie-rens der eigenen Biographie als ein Kunstwerk dar. Mit dieser für die Jahr-hundertwende charakteristischen Einstellung scheint Berg seinem Idol PeterAltenberg zu folgen, der dazu aufrief, „sein eigener Zuschauer“ im Theaterdes Lebens zu sein.5 Gleichzeitig beruht Bergs Lebensschöpfung auf einemtiefen psychologischen Wesenszug, den Theodor W. Adorno sehr einfühlsamund bildhaft charakterisierte. In seinen Erinnerungen an Alban Berg liest man:„[...] mit einiger zuschauerhaften Kühle stand er seinem konkreten Dasein,sogar der eigenen Leidenschaft gegenüber. [...] Das Maß, in dem er von sichselbst distanziert war, wirkte zuweilen, als reflektierte er sich historisch aufjeder Stufe, wie er denn nach Reichs Mitteilung mit dem Gedanken an seineBiographie umging. [...] Gern sprach und schrieb er von sich, lieber von sei-ner Musik. Aber dem fehlte jede Spur von Eitelkeit; es klang, als fühlte ersich kaum identisch mit sich, eher als hätte er über den von ihm geschätztenKomponisten Alban Berg zu berichten.“6

Auch im Plan der Operntrilogie erscheint Berg als sein eigener Biograph.Er entwarf hier, als ob er seinen künftigen Exegeten den Schlüssel liefernwollte, eine Skizze seines ganzen Lebenswerks. Als Bindeglieder, die zwi-schen den Bestandteilen der Trilogie eingeordnet werden, treten das Kammer-konzert op. 8 und die Chöre a capella op. 10 nach Karl Kraus auf, eine ArtNachspiel bildet das „letzte Werk op. 12“7 . Dieses von dem noch nicht altenKomponisten (Berg war damals kaum 40) verfaßte Konzept sollte sichbeinahe als prophetisch erweisen, wenn auch das Leben den Lebensplan korri-gierte. Neben dem schon vollendeten Wozzeck wurde nur das Kammerkonzert– eine Gabe für den „Freund und Lehrer“ – geschrieben. Eine stürmische Lie-besbeziehung mit Hanna Fuchs rief ein ungeplantes Opus – die Lyrische Suite

5 S. Rode, Alban Berg und Karl Kraus, a. a. O., S. 32–33.6 Th. W. Adorno, Berg, Der Meister des kleinsten Übergangs, in: Die musikalischen

Monographien, Frankfurt/Main 1985 (= Gesammelte Schriften, Bd. 13), S. 344.7 Bekanntlich verzichtete Berg seit dem Kammerkonzert auf Opuszahlen; er schämte

sich seiner der Zahl der Werke nach niedrigen Produktivität. Vergleiche V. Scherliess, Al-ban Berg in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1975, S. 9.

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– ins Leben. Anstatt der A-capella-Chöre schuf Berg ein anderes Vokalwerk –die Arie Der Wein. Das Ergebnis des langjährigen Suchens nach dem zweitenOpernstoff war Lulu, übrigens unvollendet, das „letzte Werk“ wurde das Vio-linkonzert. Und dennoch muß man zugeben, daß Berg die Zahl seiner Werkefast richtig vorausgesagt hat.

Leider ist nicht viel von dem grandiosen Konzept der Trilogie erhalten. Esgibt keine Notenskizzen zum zweiten und dritten Teil, und wir wissen nicht,was für ein Sujet für die Oper Wolfgang vorgesehen war. Aber einiges überVincent ist immerhin bekannt. Geplant war eine Oper über den berühmtenholländischen Maler Vincent van Gogh, dessen Werk und Persönlichkeitinsbesondere Berg ein lebendiges Interesse entgegenbrachte. In der WienerBibliothek des Komponisten befinden sich in großer Anzahl Bücher über vanGogh, die mit Bemerkungen versehen sind und Anzeichen gründlicher Lektü-re aufweisen. Darunter sind die Briefe van Goghs sowie die Monographieüber den Künstler von Julius Meier-Graefe.8 Berg, der in Fragen der bilden-den Kunst gut orientiert war, schien eine geistige Verwandtschaft mit diesemKünstler, einem Vorläufer des Expressionismus, zu empfinden, und noch mehrinteressierte ihn das persönliche Verhältnis zwischen Vincent van Gogh undPaul Gauguin. Sein Interesse für dieses Thema ist leicht verständlich: an derschwierigen Beziehung zu dem Freund und Lehrer Arnold Schönberg, denBerg vergötterte, litt er ein Leben lang. In einem Moment der Verzweiflungkam Berg auf den Gedanken, daß Prädestination über ihn herrsche. „Weiß ichdoch, daß alles was ich im Interesse Schönbergs unternehme, fehlschlagenmuß, oder so in Erfüllung gehn muß, daß Schönberg in Zorn geraten muß.Weil es mein Verhängnis ist!“ meinte Berg in einem Brief an Webern.9 In derOper Vincent beabsichtigte Berg, das Phänomen der Künstlerfreundschaft –der tragisch beendeten Freundschaft zwischen van Gogh und Gauguin – zuthematisieren. Vielleicht wollte er damit einen Versuch unternehmen, auch ei-nen Knoten der Widersprüche in seiner Beziehung zu Schönberg zu lösen, dieein Problem seines ganzen Lebens waren.

In Bergs Nachlaß gibt es noch zwei weitere Dokumente, die die Oper Vin-cent betreffen – eine Szenenskizze und einen knappen Plan der Oper. Sie re-präsentieren zwei verschiedene Phasen der Arbeit. Die Szenenskizze (Abbil-dung 2.1 und 2.2) ist auf einem Doppelblatt ausgeführt, das auch einen Brief-entwurf mit dem Datum 27. 1. 1923 enthält. Der Brief, der mit den Worten

8 V. van Gogh, Briefe, Berlin 41911; J. Meier-Graefe, Vincent van Gogh. Mit fünfzigAbbildungen und dem Faksimile eines Briefes, München 1912.

9 Berg an Webern, 13. 6. 1915, Typoskript des Briefwechsels Schönberg–Webern–Berg, Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Berlin (SIM PK).

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„Die drei W„

„Mein liebster Freund, endlich erfahre ich Deine Adresse“ beginnt, ist anSchönberg gerichtet.10 Innerhalb des Konvoluts befindet sich noch ein Blatt,das ebenfalls helfen kann, die Skizzen zu datieren. Es handelt sich um die ge-druckte Einladung zum Treffen der Teilnehmer des Tonkünstlerfestes, das imJuni 1924 in Frankfurt am Main stattfand.11

Der erste Entwurf zeugt davon, daß Berg das Szenarium seiner Oper selbstverfassen wollte. Folio 14 enthält Notizen, die bei der Lektüre von Literaturüber van Gogh gemacht wurden. Berg vermerkte Stichwörter und wies jedes-mal auf die entsprechenden Seiten hin. Dabei studierte er nicht nur die ein-bändige, sondern auch die zweibändige Ausgabe der Monographie von Meier-Graefe, mit der ausführlichen Biographie van Goghs.12 Folio 15', als „Sce-nen“ betitelt, ist ein flüchtiger Entwurf einiger Szenen. Hier finden sich auchHinweise auf weitere literarische Quellen: Noa Noa und Briefe Gauguins.13

Aufgrund dieser Skizze, die nicht vollständig zu entziffern ist, kann mansich ein Bild über den Kreis der Inhaltsmotive der geplanten Oper machen:Stationen aus Vincents Biographie, seine Beziehung zu dem Bruder Theo, ei-nem erfolgreichen Bilderhändler, Gauguins Reise nach Tahiti, sowie der ge-meinsame Aufenthalt beider Maler in Arles. Dabei sind auch mehrere Paralle-len zu Bergs eigener Biographie zu bemerken. Zum Beispiel enthält die Notiz„V. Bauer / Theo – Paris / Vincent –“ eine Anspielung darauf, daß Vincent un-fähig war, in einer Großstadt zu leben und mit allen Kräften danach strebte, inden vertrauten bäuerlichen Kreis zurückzukehren. Über seine Abneigung ge-gen die Großstadt schrieb auch Berg, der den einsamen Aufenthalt auf demLande für seine kreative Arbeit brauchte. Zitieren wir aus einem Brief an We-bern: „Ich erblicke natürlich ebenso wenig wie Du das Heil der Menschheit u.

10 Die endgültige Fassung des Briefes lautet: „Mein liebster Freund, bisher konnte ichDeine Adresse nicht erfahren. Nun ersehe ich sie aus Deinen 2 lieben Karten, die eben an-kamen. Vielen Dank dafür!“

11 „Die Teilnehmer des 54. Tonkünstlerfestes treffen sich Sonntag, 15. Juni nach demletzten Konzert in den Räumen der Loge Carl, Mozartplatz 26 zu gemütlichem Zusammen-sein.

Der Vorstand des Allgemeinen Deutschen MusikvereinsDer Ortsausschuß für das 54. Tonkünstlerfest.“Im Rahmen des 54. Tonkünstlersfestes wurden „Drei Bruchstücke aus der Oper Woz-

zeck“ uraufgeführt.12 J. Meier-Graefe, Vincent, 2 Bde., München 1921. Die Bücher fehlen aber in Bergs

Wiener Bibliothek.13 Berg nimmt auf folgende Ausgaben Bezug: P. Gauguin, Noa Noa, Berlin, o. J.;

P. Gauguin, Briefe an Georges-Daniel de Monfreid, Potsdam 1920. Letzteres Werk ist inBergs Bibliothek nicht vorhanden.

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„Die drei W„

Abb. 2.1: Alban Berg, Szenenskizze zu Vincent, Faksimile und Übertragung(Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, F 21 Berg 98/I f.14)

V. Bauer

Theo —— Paris

Vincent —

die Familie S 71/2 M. Gräfe

die Rijswiker Mühle !

die 5 Frauen Mädchen (BrautPastorstochter)[?] Hure Cremona geige

_ ___________________ _

Gauguin zu Vinzent = V. zu Th

S 100/1 M. Gr. /115/6 ____________

Gott[?] Delacroix – Mühle

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„Die drei W„

Abb. 2.2: Alban Berg, Szenenskizze zu Vincent, Faksimile und Übertragung(Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, F 21 Berg 98/I f.15')

27./I.23

Mein liebster Freund, endlich erfahre ich DeineAdresse. Und gleichzeitig

Scenen:

Die

[

? ]

185

Gauguin sieht visionär die Tahiterin

Große Arie aber rasche[?]Gestalt S. XVIII „der Maorimann“________________________________________________

Paul ich sehe: ------

Vincent da werde ich schon Tod sein

nachschaun im Noa Noa ____

[?] Daniel läßt ihn

nicht zurück __________________

Das Haus ca 135 – 8

Gauguinbriefe

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meines in der Warmwasserversorgung, Centralheizung, Kochen mit Gas u. al-len Maschinellem im Haus. Im Gegenteil mir ist das eine wie das andere un-sympathisch, unappetitlich u. unwichtig. Ich fühle mich nirgends glücklicherals dort wo von all dem keine Rede ist – am Land! Aber Landbewohner in derGroßstadt zu sein, fällt mir zu schwer!“14

An anderer Stelle gibt es einen Hinweis auf van Goghs Brief, der in derErwartung von Gauguins Ankunft in Arles geschrieben wurde. In diesemStädtchen im Süden Frankreichs richtete van Gogh sein „Gelbes Haus“ ein,das für das Leben und die Arbeit der beiden Künstler bestimmt war. Damitversuchte er, seinen Lebenstraum von einer Maler-Gemeinschaft zu verwirkli-chen. Die Idee einer entsprechenden Gemeinschaft war auch den Komponi-sten der Wiener Schule nicht fremd. Im März 1917 unterrichtete Webern Bergüber ein Gespräch mit Schönberg, die Gründung einer „‚Genossenschaft‘ vonKünstlern aller Art“ betreffend15 ; im August dieses Jahres schrieb er, daß sichSchönberg mit dem Gedanken trage, eine Künstlerkolonie auf dem Lande zugründen. Dort könnten sich alle drei Komponisten „in reiner Luft, in unmittel-barster Berührung mit der Natur“ ganz ihrem Schaffen widmen.16 Der erstevon beiden Briefen nimmt offensichtlich Bezug auf das von Egon Schielestammende Projekt der Arbeitsgemeinschaft „Kunsthalle“, das nicht verwirk-licht war.17

Der auf einem einzelnen Blatt niedergelegte Plan für die Oper Vincent(Abbildung 3) hat mit der Szenenskizze fast nichts gemeinsam. Er umfaßt nureinen ganz bestimmten Abschnitt aus dem Leben van Goghs: von der AnkunftGauguins in Arles bis zum tragischen Ende der „Künstlerfreundschaft“ unddem Selbstmord van Goghs anderthalb Jahre später.

Das symphonische Wesen von Bergs Oper – man denke an die „Sinfonie in5 Sätzen“ im zweiten Akt des Wozzeck oder an die die Auseinandersetzungzwischen Lulu und Schön kennzeichnende Sonate im ersten Akt der Lulu –kommt auch im Vincent-Plan deutlich zur Geltung. Die vieraktige Oper (ohnejeden Hinweis auf Spiegelsymmetrie) ist als symphonischer Zyklus konzi-piert. Der erste Satz ist mit „Ankunft“ betitelt; wahrscheinlich dachte Berg aneinen Sonatensatz im Charakter eines Vorspiels (wie später in der LyrischenSuite). Der zweite Satz, „Auseinandersetzung“, ist ein Adagio, der dritte,

14 Ohne Datum (1912), Typoskript des Briefwechsels Schönberg–Webern–Berg, SIMPK Berlin.

15 Brief vom 1. 3. 1917, ebenda.16 Vergleiche Webern an Berg, 18. 8. 1917, ebenda.17 Vergleiche C. M. Nebenhay, Egon Schiele 1890–1918: Leben. Briefe. Gedichte,

Salzburg Wien 1979, S. 404.

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„Die drei W„

Abb. 3: Alban Berg, Plan für die Oper Vincent, Faksimile und Übertragung(Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, F 21 Berg 98/I f.17)

Vincent

4 Akte ( Symphon sätze )

Ankunft, Auseinandersetz, ( Adagio )

Bordell (Ohr) Selbstmord ( To )

Petrus, der das Ohr abschlägt !!

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„Bordell“, scheint als Scherzo geplant gewesen zu sein. Es stellt einen tragi-schen Zwischenfall dar: van Gogh, in Wahnsinn geraten, stürzt sich mit einemMesser auf Gauguin, schneidet sich ein Ohr ab und bringt es ins Bordell (indiesem Zusammenhang erinnert sich Berg an eine Bibelszene und notiert:„Petrus, der das Ohr abschlägt!!“). Der Schlußteil ist mit „Selbstmord“ be-zeichnet.

Beim Vergleich beider oben beschriebenen Entwürfe fällt eine gewisseEntwicklung des kompositorischen Plans auf: Berg verzichtet auf farbenreicheDetails und konzentriert sich auf das Wichtigste – das „Drama der Künstler-freundschaft“. Der Grund für diese Wende war wohl ein Ereignis aus der Rei-he von „bedeutsamen Übereinstimmungen“ (Paul Kammerer), die im LebenBergs so einflußreich waren. Im Frühjahr 1924 bekam er ein Heft der Zeit-schrift Das Kunstblatt in die Hand, das Auszüge aus einem Schauspiel desdeutschen Schriftstellers Hermann Kasack enthielt.18 Dieses hieß genauso wiedie von Berg geplante Oper: Vincent. Berg hielt das für ein Schicksalszeichenund schrieb in großer Aufregung an den Autor (nach dem AntwortschreibenKasacks ist der Brief auf den 25. 4. 1924 zu datieren):

Seit Vollendung m[einer] Oper Wozzeck (Universal Edition), also seit mehreren Jahren,plane ich eine Oper „Vincent“ zu komponieren um damit nicht nur das Schicksal diesesmir seit Jahrzehnten am Nähesten stehenden Künstlers musikal. festzuhalten, sondern auch(mehr noch), um das Drama der Künstler-Freundschaft überhaupt zu schreiben. Durch Zu-fall erfahre ich vor ein paar Tagen von der Existenz eines solchen Dramas. Konnte mirauch das Heft des Kunstblattes verschaffen – wo gerade der 4. Akt dieses Freundschafts-problem behandelt – hier muß mancher „ausgerechnet“ sagen, Sie könnten sich vorstellenwie sehr ich auf die übrigen Akte gespannt bin ... ist das Buch erschienen? Wenn ja bitteherzlichst Ih[ren] Verlag zu veranlassen, es mir per Nachnahme zukommenzulassen.

Aber – w[irklich]. Nun frage ich Sie vorerst, m[ein] H[err] wie verhalten Sie sich zuder Idee einer Vertonung Ihres Werkes – im Allgemeinen u. dann natürlich auch im Spezi-ellen durch mich?

Nach dem einen unvollständigen Akt bin ich ja noch nicht im Bild über das Ganze d.h.ob es sich sonst so mit meinen Absichten völlig deckt. Diese vorbildartige Gemeinsamkeitder Idee überhaupt läßt es mich fast erhoffen. Aber dazu bedarf ich event. Ihrergefäl[ligen] Zust[imm]ung. Wollen Sie ich bitte – wenn ich Ihnen bisher auch ganz unbe-kannt sein sollte – bitte gütigst – nicht zulang darauf warten lassen; die Angelegenheit be-wegt mich natürlich auf das Äußerste [?]19

18 Das Kunstblatt, hrsg. von P. Westheim, Potsdam 1924, S. 48–52. Im 2. Heft war dasEnde des IV. Aktes von Kasacks Schauspiel publiziert.

19 Der Briefentwurf, zitiert nach F. Grasberger und R. Stephan (Hrsg.), Katalog derSchriftstücke von der Hand Alban Bergs, der fremdschriftlichen und gedruckten Dokumen-te zur Lebensgeschichte und zu seinem Werk, vorgelegt und erläutert von R. Hilmar, Wien1985 (= Alban Berg Studien I/2), S. 116.

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„Die drei W„

Hermann Kasack (1896–1966), ab 1953 Präsident der Deutschen Akademiefür Sprache und Dichtung in Darmstadt, war Anfang der Zwanziger Jahre alsLektor im Verlag Gustav Kiepenheuer in Potsdam tätig, den er später als Di-rektor leitete. Das Schauspiel Vincent war das letzte und zugleich erfolg-reichste unter seinen frühen expressionistischen Dramen. Das Stück, dessenHauptmotiv, das „der ersehnten und dennoch bösen Künstlerfreundschaft, ei-ner Freundschaft bis aufs Messer“, auf Bertolt Brechts Rat am Paar van Gogh– Gauguin konkretisiert war20 , ist im Sommer 1923 entstanden und am 3.April 1924 im Landestheater Stuttgart uraufgeführt worden. Die Presse be-richtete von einem „fast stürmischen Erfolg [...] des bisher noch nirgends auf-geführten Dichters“21 :

Die freundliche, aber etwas zurückhaltende Antwort von Hermann Kasackließ nicht lange auf sich warten. Der junge Autor fühlte sich offensichtlichdurch solche Beachtung seines Opus geschmeichelt, vertrat aber die Ansicht,daß „die vorliegende Fassung, die rein für die Bühne gedacht ist und auch denBeweis der Bühnenfähigkeit erbracht hat, nicht ohne weiteres als Textvorwurffür eine Oper zu verwenden ist“ (Brief vom 28. 4. 1924).22 Er schickte demKomponisten ein Exemplar seines Dramas Vincent und bat darum, ihm nachbeendeter Lektüre seine Meinung mitzuteilen. Außerdem äußerte er denWunsch nach einem Klavierauszug oder einer Partitur des Wozzeck, den erstudieren wolle.23

Bergs Urteil über die Möglichkeit, das Drama zu vertonen, scheintdurchaus positiv ausgefallen zu sein, und der nächste Brief Kasacks vom 5. 7.1924 klang auch schon weit weniger skeptisch. Kasack schrieb: „Ich möchteIhnen jetzt sagen, daß ich prinzipiell ganz damit einverstanden bin, den Textdes Vincent von mir einem von Ihnen zu komponierenden Operntext alsGrundlage zu überlassen. Die Bearbeitung des Operntextes bitte ich selbstvorzunehmen. Allerdings müßte ich Wert darauf legen, die Fassung des Textes

20 Vergleiche H. Kreuzer, Zur literaturhistorischen Bedeutung Hermann Kasacks, in:H. John und L. Neumann (Hrsg.), Hermann Kasack – Leben und Werk, Symposium 1993in Potsdam, Frankfurt a. M. u. a. 1994 (= Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte,Bd. 42), S. 10. Zu Vincent vergleiche auch W. Rieck, Hermann Kasacks Drama „Vincent“,in: ebenda, S. 57–71.

21 W. Kasack, Leben und Werk von Hermann Kasack. Ein Brevier, Frankfurt/Main1966, S. 30.

22 Briefe Kasacks an Berg, Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek,F 21 Berg 930. – Vielleicht fürchtete Kasack (wie später auch Soma Morgenstern – sieheunten), daß die Tätigkeit des Librettisten seine literarische Laufbahn schädigen könnte.

23 Der Klavierauszug des Wozzeck war an Kasack ohne Verzögerung abgesandt wor-den; das bestätigt der Aufgabeschein vom 12. 5. 1924 (F 21 Berg 98/I f. 23).

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Julia Wechsler

kennen zu lernen und ferner darauf, daß keine Zusätze gemacht werden; soll-ten infolge von Streichungen einige Verbindungsworte notwendig sein, sowürden diese meiner Zustimmung bedürfen, falls ich diese nicht selbst verfas-se.“ Der Klavierauszug des Wozzeck aber muß bei Kasack kein besonderes In-teresse erweckt haben. Er bemerkte nur, daß er „eminent schwierig zu lesen“sei, und er habe „nur Teile daraus kennen lernen können“.

Die weitere Entwicklung ist ziemlich rätselhaft. Nachdem Berg die er-wünschte Zustimmung des Autors, sein Drama zu vertonen, bekommen hatte,scheint er den Plan der Vincent-Oper zurückgestellt zu haben. In Bergs Exem-plar des Stücks fehlen jegliche Vermerke, die von seiner Arbeit am Szenariumzeugen könnten. Es ist aber auch kaum möglich, daß der oben angeführteOpernplan nach der Lektüre des Werks von Kasack verfaßt wurde: obwohl dieHandlung des Schauspiels wie die der beabsichtigten Oper tragische Ereignis-se in Arles seit Gauguins Ankunft darstellt, enthält sie auch einige Abwei-chungen: van Gogh bringt sein abgeschnittenes Ohr nicht ins Bordell, sondern– als Bußgeschenk – an Gauguin, und das Drama endet nicht mit seinemSelbstmord. Ob diese Abweichungen für Berg von großer Bedeutung waren,muß offen bleiben.

Die Aufgabe des Plans scheint um so weniger erklärbar, als das SchauspielVincent dem Komponisten zweifellos einen dankbaren Opernstoff zur Verfü-gung stellte. Im Unterschied zu dem etwas „epischen“ Werk Meier-Graefesmit seinen umfassenden Erörterungen verschiedenartiger Kunstproblemestand im Zentrum des Vincent ein „Künstlerdrama“ mit einer sich heftig ent-wickelnden Handlung und einem psychologischen Hintergrund.

Der oben zitierte Brief Kasacks blieb wahrscheinlich unbeantwortet. ImBriefwechsel trat eine lange Pause ein, und erst 15 Monate später, am 20. 10.1925, schrieb Kasack wieder an Berg, um sich danach zu erkundigen, obBergs Plan noch aktuell wäre. Vielleicht bewog ihn dazu der Chefdirigent derBerliner Staatsoper, Erich Kleiber, unter dessen Leitung am 14. 12. 1925 dieUraufführung des Wozzeck stattfand.

Als ich in diesem Sommer an der Nordsee war, war ich häufig mit GeneralmusikdirektorKleiber zusammen, und wir haben viel von Ihnen gesprochen. Vielleicht kommen Sie an-läßlich Ihrer Woyzzeck-Aufführung [sic] nach Berlin, dann würde ich mich sehr freuen,wenn wir uns einmal persönlich sprechen könnten.

Vielleicht sind Sie so liebenswürdig, mir eine Zeile zu schreiben, ob Sie noch den Plander Vertonung hegen. Das Schauspiel wird jetzt in Köln und Elberfeld wieder gespielt.

Vor der Berliner Uraufführung wandte sich Kasack – in der Hoffnung auf einpersönliches Treffen mit dem Komponisten – erneut an Berg (Postkarte vom11. 12. 1925)

Sehr verehrter Herr Berg,ich darf hoffen, dass Sie wieder in Berlin sind. Wollen Sie nicht vielleicht einmal anru-

fen (Potsdam 2517), um etwas zu verabreden? Gern würde ich zur Première am 14. gehen,

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wenn ich eine [?]karte bekommen kann, sonst vielleicht zu einer der späteren Aufführun-gen. Also hoffentlich auf Wiedersehn [...]

Das Treffen kam wahrscheinlich nicht zustande, obwohl Kasack eine Woz-zeck-Auführung erlebte. Im nächsten Brief vom 31. 12. 25, der schon nachder Premiere geschrieben war, äußerte er seine Bewunderung für Bergs Operund richtete auch begeisterte Worte des von ihm verehrten Dichters OskarLoerke aus:

Sehr verehrter Herr Alban Berg,vielen Dank für Ihre Zeilen – es tut mir sehr sehr leid, dass wir uns in Berlin nicht ge-

sprochen haben. Ihr „Wozzeck“ ist eine der allergrössten musikalischen Sachen der letzten20 Jahre! Ich weiss nicht, ob Ihnen der Name Oskar Loerke (dem der „Vincent“ gewidmetist) ein Begriff ist (Sie kennen vielleicht seinen Aufsatz über Bach in dem Bande „Zeitge-nossen in [sic] vielen Zeiten“ bei „S. Fischer“?)24 – ich sprach mit ihm über Ihren „W“. Erbat mich, wenn ich Ihnen schreibe, Ihnen seine Verehrung und tiefe Bewunderung zu sa-gen. Er bewundert die schöne Neigung des ganzen Werkes, das keineswegs neu um neu zusein ist, sondern bei aller Vordergründigkeit des Einzelnen die metaphysische Hintergrün-digkeit enthält.

Es ist sehr schade, dass Sie den Gedanken an den „Vincent“ zurückgestellt haben.Vielleicht kommen wir aber doch noch einmal zusammen?

Die Gründe für Bergs plötzliche Abkühlung seinem Plan gegenüber bleibenim verborgenen. Die Ungewißheit verstärkt sich auch dadurch, daß der Brief-wechsel mit Kasack – neben den beschriebenen Skizzen – wahrscheinlich dieeinzige dokumentarische Bestätigung von Bergs Arbeit an der Oper ist.Bekanntlich vertraute Berg sogar auch näheren Freunden seine Pläne nicht anund hielt sie bis zum Schluß geheim. Für zwei von ihnen machte er aber eineAusnahme. Es waren dies Bergs Kompositionsschüler Theodor W. Adorno,der später als Philosoph, Soziologe und Musikwissenschaftler berühmt wurde,und der Schriftsteller Soma Morgenstern, Wiener Kulturkorrespondent derFrankfurter Zeitung. Berg schätzte das solide wissenschaftliche RüstzeugAdornos, obwohl er sich andererseits über dessen Neigung zum Philosophie-ren ironisch äußerte. Morgenstern bewunderte er als einen professionellenSchriftsteller, der eine gewandte Feder und einen feinen Geschmack hatte.Aber sowohl Adorno als auch Morgenstern traten in Bergs Leben ein, nach-dem der Vincent-Plan schon aufgegeben war.

Dank Morgenstern können wir aber das Schicksal des „Dramas der Künst-lerfreundschaft“ ein wenig aufklären. Im Sommer 1924 lernte Berg Morgen-sterns Drama Im Kunstkreis kennen. Das Hauptmotiv des Stücks, dessen

24 O. Loerke, Johann Sebastian Bach. Oder: Wandlungen eines Gedankens über dieMusik und ihren Gegenstand, in: ders., Zeitgenossen aus vielen Zeiten, Berlin 1925, S. 13–51.

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Handlung im Wiener Künstlermilieu spielt, ist das Verhältnis Schüler–Meister,das für den Schüler tragisch endet. Berg konnte die Inhaltsähnlichkeit mit Ka-sacks Drama nicht übersehen. Aber seine Entscheidung, das Schauspiel vonMorgenstern zu vertonen, brachte dessen Autor in Verwirrung. Morgensternglaubte, daß das Werk ihm nicht ganz gelungen war, außerdem widerstrebte esihm – ebenso wie Kasack –, „als Librettist abgestempelt zu werden“25 . DerPlan dieser Oper wurde jedoch ebenfalls nicht ausgeführt. Wie man verstehenkann, beeilte sich Morgenstern mit dem Text durchaus nicht, und Berg arbei-tete am Kammerkonzert – der Gabe für den „Freund und Lehrer“, die er zum50. Geburtstag des Meisters plante und erst ein Jahr später vollendet hatte.Wahrscheinlich wollte Berg in seiner ungeschriebenen Oper eine andere Seite„der zwanzigjährigen Freundschaft“ – die nicht ungetrübt war – zum Vor-schein bringen. Aber Kritik an Schönberg war im Kreise der Wiener Schuletabu, und Berg gestattete sowohl sich selbst als auch den anderen keine nega-tiven Äußerungen über den Lehrer. Vielleicht hat ihn letztlich diese Einstel-lung von der Komposition des „Dramas der Künstlerfreundschaft“ abgehalten.

Übrigens kam Berg später auf seine Idee zurück, die eine wunderbare Me-tamorphose erlebte. In der Oper Lulu scheint er das „Drama der Künstler-freundschaft“ – der aufopfernden für den einen und der anspruchsvollen undkompromißlosen für den anderen – auf die Konstellation des Vater-Sohn-Ver-hältnisses zwischen Schön und Alwa übertragen zu haben. Es ist schwer zusagen, ob sich Berg dessen bewußt war, aber er selbst machte Anspielungendazu. Er schickte seinem Lehrer eine Reinschrift des Prologs der Oper als Ge-schenk zum 60. Geburtstag und legte ihm folgenden Brief bei: „Mein liebsterFreund! Ich weiß, daß Du auf meine – auf Alwas Frage: ‚Darf ich eintreten?‘(die ersten Worte in der Oper ‚Lulu‘, wenn der Vorhang aufgeht) mit Schönantworten würdest: ‚Komm nur ungeniert herein!‘“26 In einigen frühen Skiz-zen zu Lulu gab Berg dem Konflikt zwischen Alwa und Schön viel mehrSchärfe als in der endgültigen Fassung. Das betrifft vor allem die Verteilungder Doppelrollen. Bekanntlich kehren die drei toten Ehemänner von Lulu im3. Akt als ihre Kunden zurück und führen damit „die Revanche einer Männer-welt“ (Karl Kraus) aus. Als Doppelgänger von Schön trat zunächst nicht Jackthe Ripper, sondern der Alwa ermordende Neger auf, das heißt, Alwa wurdevon der Hand seines Vaters getötet. Auf dieses wichtige Detail wies auch Bergselbst hin. Er notierte in einer der Skizzen: „Schön ermordet Sohn!“27 Viel-

25 Vergleiche S. Morgenstern, Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe,Lüneburg 1995, S. 129.

26 Zitiert nach Alban Berg. Bildnis im Wort. Selbstzeugnisse und Aussagen der Freun-de, hrsg. von W. Reich, Zürich 1959, S. 76.

27 Siehe S. Rode, Alban Berg und Karl Kraus, a. a. O., S. 300–301.

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leicht klingt in diesen Worten das Echo eines anderen tragischen Endes nach,dasjenige des Konflikts zwischen van Gogh und Gauguin in Bergs geplanterOper Vincent.

Nachdem wir das Schicksal eines von Bergs Plänen verfolgt haben, könnenwir annehmen, daß es zwischen unausgeführten Projekten Bergs und seinenvollendeten Werken eine nicht sofort bemerkbare, aber feste Beziehung gibt.Viele für die Operntrilogie vorgesehene Ideen, die die Struktur, die Komposi-tion oder den Inhalt betreffen, keimen dann auf einem ganz anderen Bodenauf, indem sie in die Lulu übertragen wurden. Dies zeigt auch, daß Berg beider Suche nach einem Opernsujet nicht nur die Frage des Stoffs selbst beach-tete, sondern auch einer inneren, keinem Einfluß von außen unterstehendenGesetzmäßigkeit folgte. Der Operntext gab seiner Phantasie manchmal nur ei-nen Anstoß, einen zusätzlichen schöpferischen Impuls, einen Anlaß, um seineeigenen Ideen zu realisieren, weil er das Material für das Schaffen vor allemaus seinem Selbst schöpfte. Darüber schrieb auch Adorno:

Sagte Mahler einmal von der Landschaft um den Attersee, er hätte sie ganz wegkompo-niert, dann hätte Berg, in so vielem Betracht Mahlers Erbe, das gleiche von seiner inwendi-gen sagen können.28

Die langjährige Opernsuche Alban Bergs, die dem Äußeren nach eine großeschöpferische Pause zu sein scheint, war dennoch für den Komponisten inso-fern fruchtbar, als sie den Boden für sein zweites dramatisches MeisterwerkLulu vorbereitet hat. Nicht weniger fruchtbar kann sie auch für einen Forschersein, weil sie ihn in die Geheimnisse des rätselvollsten Stadiums im Komposi-tionsprozeß, in das Entstehen einer Idee, einweiht. Alle diese Opernprojektestellen eine Art „geheime Präambel“ zu der Oper Lulu dar und verleihen unse-rem Blick auf das Werk sowohl Perspektive als auch Tiefe.

28 Th. W. Adorno, Berg, a. a. O., S. 344.

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Anhang

Zitate aus der Literatur über Vincent van Gogh und Paul Gauguin, auf die Al-ban Berg hinwies oder hinweisen konnte:

V. Bauer

Vincent sah wie ein Bauer aus, den ein nicht eben glücklicher Zufall zum Städter gemachthat, und der weder das eine noch das andere ist; eine Gattung, die man in Holland häufigfindet und die immer unvorteilhaft wirkt.29

Theo – ParisVincent –

Ganz gründlich wird das Projekt vorgenommen. Einer kämpft allein in Paris, der andere al-lein in Holland. Wäre es nicht vernünftiger, zusammen zu sein, sich gegenseitig zu stüt-zen?30

die Familie S 71/2 M. Gräfe

Weihnachten trieb die Einsamkeit den Vagabunden zu den Eltern, die inzwischen nachNuenen, einem kleinen Nest in Brabant, gezogen waren.31

die Rijswiker Mühle !

Einmal wandeln sie zusammen nach der Rijswijker Mühle. Wenn in jedem Lande nur zehnMenschen sich zusammentäten, ganz einfach mit der Absicht, für das Gute zu wirken, wür-de die Welt wie eine Blume erblühen. Bei der Mühle versprechen sich die Brüder, ihr Le-ben lang nur das Gute zu wollen. Ob man das Gute erreicht, steht dahin, aber wollen kannman, alle seine Kraft in den Willen legen. – Ein Gelöbnis.32

Es gingen einst zwei Brüder über die beschneite Heide bei der Rijswijker Mühle, zweiarme Künstlerbrüder waren sich eins über Gott und das Leben, fühlten mit einem und dem-selben Gefühl. Dann ging der eine dorthin, nahm Stellung, verdiente Geld, wurde glatt undmatt, vergaß die Rijswijker Mühle. Der andere ging hierhin, wurde grob und rauh, erwarbkeinen Pfennig, aber blieb bei der Rijswijker Mühle ...33

die 5 Frauen Mädchen Braut

Mit zwanzig Jahren wird Vincent über Paris in die Filiale nach London geschickt. [...] DieAbende bei den Damen, die ihn in Kost haben, sind wunderbar. [...] Es ist da ein junges

29 J. Meier-Graefe, Vincent, Bd. 1, a. a. O., S. 17.30 Ebenda, S. 64.31 Ebenda, S. 71.32 Ebenda, S. 20.33 Ebenda, S. 71.

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Mädchen, ein Engel. Sie hat kleine Kinder um sich, die sie erzieht. Herrlich, ihr zuzuse-hen! Ein unerhörtes Glück, so ein wunderbares Geschöpf zu lieben!

[...] Das war nicht sein Weg. Eines Tages, nach Monaten voller Seligkeit, stellt sichheraus: das Mädchen ist längst mit einem anderen verlobt.34

Pastorstochter

Frühjahr 81 nach einem harten Winter verläßt er Brüssel und geht zu den Eltern aufs Landnach Etten. Dort findet er als Gast eine Cousine aus Amsterdam, eine Witwe mit ihremKind, einige Jahre älter als er, auch sie Tochter eines Pfarrers.35

[?] Hure

Auch außerhalb des Ateliers kam es zu argen Übertreibungen. In der Volksküche beim Es-sen traf er eine Frau, die ihm gefiel. Sie war schon verblüht und hatte auch ein Kind. Sol-che verblühten Geschöpfe hatten einen eigenen Reiz. Ihre Hände waren nicht eben Damen-hände wie die der Cousine, eher Hände einer Arbeiterin. „Sie hatte etwas von so einer ulki-gen Gestalt von Chardin oder vielleicht auch von Jan Stehen.“ Eine Arbeiterin war sie aberauch nicht, wenigstens nicht im bürgerlichen Sinne. Sie gehörte zu den Frauen, die vonden Pastoren verdammt werden. Ja, eine Hure, ganz einfach.36

Cremona geige

Noch einmal tritt ihm eine Frau in den Weg. Zur Abwechslung eine bürgerliche, eineNachbarin der Eltern. Vincent geht zuweilen mit ihr spazieren. Sie war wieder wie ihreVorgängerinnen bedeutend älter als er; eine mystisch angehauchte Natur, „eine Cremona-Geige, ursprünglich ein seltenes Exemplar, das von stümperhaften Ausbesserern früh ver-dorben wurde, auch jetzt aber immer noch einen besonderen Wert besitzt“.37

Gauguin zu Vinzent = V. zu ThS. 100/1 M.Gr. / 115/6

Wie gut Du bist, dass Du G. und mir versprichst, uns die Verwirklichung der geplantenVereinigung zu ermöglichen. Ich bekomme soeben einen Brief von B., der seit einigen Ta-gen wieder G., L., und noch einen Dritten in Pont-Aven aufgesucht hat. In diesem Briefe –der übrigens sehr freundlich ist – ist mit keiner Silbe davon die Rede, dass G. die Absichthätte, mir hierher zu folgen, noch auch eine Silbe davon, dass man dort mein Kommen er-wartet. Immerhin ist der Brief sehr freundschaftlich. Von G. selbst seit einem Monat keinWort. Ich glaube eigentlich, dass G. vorzieht, sich mit seinen Freunden aus dem Nordenauseinander zu setzen, und wenn er dann das Glück hat ein oder mehrere Bilder zu verkau-fen, so mag er wohl ganz andere Absichten haben, als mir nachzukommen.

34 Ebenda, S. 20.35 Ebenda, S. 44 f.36 Ebenda, S. 51.37 Ebenda, S. 73 f.

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Ob G. kommt oder nicht, das ist seine Sache, und wenn wir nur bereit sind, ihn aufzu-nehmen, wenn sein Bett und seine Wohnung parat sind, so haben wir unsere Versprechengehalten. Ich dringe darauf – weil ich dabei das Ziel im Auge habe, mich und einen ande-ren Kameraden von dem Krebsschaden zu befreien, der an unserer Arbeit frisst: die Not-wendigkeit in den kostspieligen Gasthäusern zu leben, ohne dass wir irgend einen Vorteildavon haben, was der reine Wahnsinn ist. Ein Leben ohne Geldsorgen, die Hoffnung, einesTages aus der ewigen Klemme zu kommen, welch thörichte Illusion! Ich würde michschon glücklich schätzen, für ein Jahrgeld zu arbeiten, das gerade für das Nötigste aus-reicht und für mein ganzes Leben Ruhe in meinem Atelier zu haben.38

Endlich brach der Bauer durch. Ein Wunder, daß er sich solange gehalten hatte. Um sogrößer die Sehnsucht ins Freie. [...] Folglich da leben, wo es am bequemsten war. Am be-sten im Süden, in der Wärme. [...] Zum Beispiel, nach Marseille, wo Monticelli zu Hausewar. Dort gab es Sonne und billiges Brot. Übrigens konnte man vielleicht in Marseille dieGenossenschaft eher zustande bringen als in Paris. [...]

[...] Theo sagte zu, ohne gefragt zu werden. Es gab gar keine andere Möglichkeit mehr,und nachdem es einmal so weit war, erfolgte die Lösung in besten Formen. Theo ging sienahe.39

Zusammenarbeiten! Sich mitteilen! Ist das Motiv aller Briefe van Goghs. Er, der sich in je-dem Werk bis auf den Grund seines Wesens erschöpfte, fand, daß ein Alleinstehendernichts Bleibendes zu schaffen vermöchte, und sehnte sich nach Werken, „die die Macht desIndividuums übertreffen“.40

Gott [?] Delacroix – Mühle

Um ihn abzulenken, schreibt Theo von der Delacroix-Ausstellung in Paris. Vincent liebtDelacroix fast wie Millet, aber es gibt kein Ereignis, das sich nicht zu Aphorismen mehroder weniger treffender Art verwenden ließe. Auf der Delacroix-Ausstellung wird man zumBeispiel das Barrikadenbild sehen können, das ein sehr interessantes Werk sein soll. [...]„Nun, im Jahre 84 gibt es nicht gerade Barrikaden, wohl aber stehen sich Geister gegen-über. Die Mühle ist nicht mehr, der Wind weht immer noch. Und wir stehen, meiner Mei-nung nach, in verschiedenen Lagern. Daran ist nichts zu machen. Ob du willst oder nicht,du muß fort, ich muß fort.“41

Gab es je einen größeren Künstler und lichteren Geist als Delacroix? Dem war das Schick-sal unserer Kultur aufgegangen, und er hatte alles eingesetzt, nicht um persönliche Werke,sondern um eine Sprache zu schaffen, Kunst, an der andere teilnehmen konnten, ohne siegemein zu machen.42

Als ich nach Frankreich kam, habe ich vielleicht besser als mancher Franzose Delacroixund Zola verstanden, für die meine Bewunderung aufrichtig und grenzenlos ist. [...]

38 V. van Gogh, Briefe, a. a. O., S. 100 f.39 J. Meier-Graefe, Vincent, a. a. O., S. 115 f.40 J. Meier-Graefe, Vincent van Gogh, München 1912, a. a. O., S. 56.41 J. Meier-Graefe, Vincent, a. a. O., S. 74 f.42 Ebenda, S. 102.

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Wenn auch Delacroix die Menschheit, das Leben malt, statt einer Epoche im allgemei-nen, so gehört er darum nicht weniger zu der Familie der Universalgenies.43

Scenen:Gauguin sieht visionär die Tahiterin

Ohne Zögern machte ich mich an die Arbeit, ohne Zögern und fieberhaft. Ich war mir be-wußt, daß von meiner Leistung als Maler die physische und moralische Ergebenheit desModells, eine rasche, stillschweigende, unweigerliche Einwilligung abhing.

Nach unsern Regeln der Ästhetik war sie wenig schön.Aber sie war schön.Ihre Züge waren von einer raffaelischen Harmonie, und den Mund hatte ein Bildhauer

modelliert, der es versteht in eine einzige bewegliche Linie alle Freude und alles Leid zulegen.

Ich arbeitete hastig und leidenschaftlich, denn ich wußte wohl, daß auf die Zustimmungnoch nicht zu rechnen war. Ich zitterte davor in diesen großen Augen Furcht zu lesen undVerlangen nach dem Unbekannten, die Melancholie bitterer Erfahrung, die jeder Lustzugrunde liegt, wie das unfreiwillige, souveräne Gefühl der Selbstbeherrschung. SolcheGeschöpfe scheinen uns zu unterliegen, wenn sie sich uns geben und unterliegen doch nurihrem eigenen Willen. Sie beherrscht eine Kraft, die etwas Übermenschliches hat – odervielleicht etwas göttlich Animalisches.44

Gauguinbriefe S. XVIII „ der Maorimann“

D e r M a o r i m a n n ist unvergesslich, wenn man ihn gesehen, die Maorifraumuss man immer lieben, wenn man sie einmal geliebt hat. Da unten lernte Paul Gauguinlieben, und mächtiger als jedes andere Wesen vermochte er mit zwei grossen, runden Au-gen diese ambragelben nackten Geschöpfe zu sehen, die man mit keiner anderen Men-schenart vergleichen darf, um sie zu malen. Man betrachte sie sorgsam: schöne Athletenmit glücklichen Muskeln, harmonisch in dynamischer Ruhe, verbundene Linien, die ehergeschmeidig als nervös sind, ein Gesicht, darin die Nase am rechten Fleck sitzt, vom Pin-sel sauber umrissen und gehalten; Augen ... Maoriaugen, die dicht beieinander liegen, umdie Sehweite zu erhöhen: Augen, die wagerecht im Gesicht liegen, wagerecht in der gemal-ten Oberfläche, deren imaginäre Ebene sie innehalten – Augen aber, die bereit sind, Dik-kicht und Tiefe zu durchwühlen oder den vertrauensvollen Blick des anderen zu erhaschen,– blaublütige, fleischige Lippen; – ein Träger, dem keine Last Angst macht, der tanzenddahinschreitet, voller Freude, sein eigenes Gewicht zu tragen. Schöne Schwimmer in dieWeite; Taucher ins durchsichtige Meer oder Seefahrer auf vertikalen Teichen auf den vomBlick geschwellten Bildern; – Musiker an Festestagen; – Liebhaber der Liebe, und in be-täubenden Nächten schöne Schläfer, die wie ein Gott den Schlaf in ihre Glieder zu schlies-sen vermögen und ihren Atem ausstossen wie einen Ritus.45

43 V. van Gogh, Briefe, a. a. O., S. 62.44 P. Gauguin, Noa Noa, Berlin W. 1908, S. 22 f.45 P. Gauguin, Briefe an George-Daniel de Monfreid, a. a. O., S. XVIII, Einleitung

von V. Segalen.

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Julia Wechsler

46 Ebenda, S. XXVI.

Daniel läßt ihn nicht zurück

Aber im Augenblick, da er sich selbst verlassen, da er sich selbst aufgeben wollte, indemer das Maoriland verliess, um als irgendwer irgendwo zu leben, als er „dort sterben“ sollte,da findet Gauguin in Daniel de Monfreid den starken Führer, der ihn aufrichtet und auf denrechten Weg weist, und ihm vor der Nase diese kleinliche Hoffnung, diese Hintertürschliesst: die Rückkehr. [...]

In einem scharfsichtigen und prophetischen Brief erklärt und beweist Monfreid Gau-guin, dass er nach Frankreich nicht zurückkehren kann, nicht zurückkehren darf.46