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8.1 Schulter und Schultergürtel 8.1.1 Untersuchungstechniken an der Schulter T. Wölk Definition Bei der Schulteruntersuchung muss man primär zwischen einer Befunderhebung als Folge eines Unfallgeschehens und einer eher orthopädischenFragestellung bei Erkrankungen der Schulterregion unterscheiden. Epidemiologie Schulterverletzungen entstehen in der Regel im Rahmen von höherenergetischen Traumata bei jüngeren Menschen (< 55 Jahre) und nieder- energetischen Traumata bei älteren Menschen (> 55 Jahre) Die Degeneration des Schultergürtels beginnt mit ca. 40 Jahren und betrifft in den meisten Fällen die Anteile der Rotatorenmanschette (Abb. 8.1) Ätiologie bei Jüngeren: seltene Verletzung Hochrasanztrauma direkte Gewalt Polytrauma bei Älteren: häufige Verletzung Bagatelltrauma (cave: Osteoporose) indirekte Gewalt Verschleiß (primär, sekundär, infektiös) Schulteruntersuchung nach einem akuten Unfallereignis Anamnese Unfallhergang Stellung des Armes zum Unfallzeitpunkt (BG) Vorerkrankungen Voroperationen Schmerzlokalisation Funktionsverlust Zeit zwischen Unfall und Beschwerden Inspektion Hämatome Fehlstellung Wunden Prellmarken offene Frakturen (an der Schulter sehr selten) Schulterkontur (leere Pfanne) MERKE: Der Hochstand der Klavikulabei der Schulter- eckgelenksprengung ist richtigerweise ein Tief- stand des Armes/Schultergelenks. 8.1 Schulter und Schultergürtel M. teres minor Acromion Bursa subacromialis M. supra- spinatus Cavitas glenoidalis Labrum glenoidale M. infra- spinatus Margo lateralis scapulae Proc. coracoideus Lig. coraco- acromiale Fornix humeri Capsula articularis M. infra- spinatus Bursa subtendinea m. subs- capularis M. subscapularis M. subscapularis Sehne des M. biceps brachii, Caput longum Recessus axillaris Abb. 8.1 Rotatorenmanschette. Die Ansicht von lateral zeigt die Anteile der Rotatorenmanschette unterhalb des osteofibrösen subakromialen Daches und die besondere Nähe des M. supraspinatus zum Akromion (aus: Schünke M et al. Prometheus. Lernatlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Stuttgart: Thieme; 2007). 288 aus: Ruchholtz u. a., Orthopädie und Unfallchirurgie essentials (ISBN 9783131484413) © 2010 Georg Thieme Verlag KG

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8.1 Schulter und Schultergürtel

8.1.1 Untersuchungstechniken ander SchulterT. Wölk

Definition

Bei der Schulteruntersuchung muss man primärzwischen einer Befunderhebung als Folge einesUnfallgeschehens und einer eher „orthopädischen“Fragestellung bei Erkrankungen der Schulterregionunterscheiden.

Epidemiologie

● Schulterverletzungen entstehen in der Regel imRahmen von höherenergetischen Traumata beijüngeren Menschen (< 55 Jahre) und nieder-energetischen Traumata bei älteren Menschen(> 55 Jahre)

● Die Degeneration des Schultergürtels beginntmit ca. 40 Jahren und betrifft in den meistenFällen die Anteile der Rotatorenmanschette(Abb. 8.1)

Ätiologie

● bei Jüngeren:– seltene Verletzung– Hochrasanztrauma– direkte Gewalt– Polytrauma

● bei Älteren:– häufige Verletzung– Bagatelltrauma (cave: Osteoporose)– indirekte Gewalt– Verschleiß (primär, sekundär, infektiös)

Schulteruntersuchung nach einemakuten Unfallereignis

Anamnese

● Unfallhergang● Stellung des Armes zum Unfallzeitpunkt (BG)● Vorerkrankungen● Voroperationen● Schmerzlokalisation● Funktionsverlust● Zeit zwischen Unfall und Beschwerden

Inspektion

● Hämatome● Fehlstellung● Wunden● Prellmarken● offene Frakturen (an der Schulter sehr selten)● Schulterkontur („leere Pfanne“)

MERKE:Der „Hochstand der Klavikula“ bei der Schulter-eckgelenksprengung ist richtigerweise ein Tief-stand des Armes/Schultergelenks.

8.1 Schulter und Schultergürtel

M. teres minor

Acromion

Bursasubacromialis

M. supra-spinatus

Cavitas glenoidalis

Labrumglenoidale

M. infra-spinatus

Margo lateralisscapulae

Proc.coracoideus

Lig. coraco-acromiale

Fornix humeri

Capsulaarticularis

M. infra-spinatus

Bursasubtendinea

m. subs-capularis

M. subscapularis

M. subscapularis

Sehne desM. biceps

brachii,Caput longum

Recessus axillaris

Abb. 8.1 Rotatorenmanschette. Die Ansicht von lateralzeigt die Anteile der Rotatorenmanschette unterhalb desosteofibrösen subakromialen Daches und die besondereNähe des M. supraspinatus zum Akromion (aus: Schünke Met al. Prometheus. Lernatlas der Anatomie. AllgemeineAnatomie und Bewegungssystem. Stuttgart: Thieme;2007).

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Palpation

● Codman-Handgriff (Abb. 8.2)● Schmerzpunkte:

– Akromioklavikulargelenk– Sternoklavikulargelenk– Supraspinatussehne– Subskapularissehne– lange Bizepssehne

● „federnde“ Klavikula● Deformität

Funktionsprüfung

● moderates Durchbewegen der Schulter beiFraktur-/Luxationsverdacht

● sichere Frakturzeichen zur Kenntnis nehmen,aber nicht überprüfen

● Durchblutung, Motorik Sensibilität (Pulse, N.axillaris, Plexus brachialis) überprüfen und do-kumentieren (Abb. 8.3)

Untersuchungstechniken an der Schulter

Abb. 8.2 Codman-Handgriff. Der Untersucher steht hinterdem Patienten und greift dessen rechten Arm mit seinemrechten Arm. Währenddessen fasst die linke Hand ventraldas Korakoid und dorsal die Spina scapulae. Der Arm desPatienten kann dann frei bewegt und untersucht werden.

N. pectoralismedialis

Truncusbrachio-

cephalicus

Skalenuslücke

N. subscapularis

N. thoraco-dorsalis

N. dorsalis scapulae

Truncus superior

Truncus medius

Truncus inferior

N. suprascapularis

Fasciculuslateralis

Fasciculusposterior

Fasciculusmedialis

A. axillaris

N. axillaris

N. ulnaris

N. cutaneusantebrachii medialis

N. pectoralislateralis

M. scalenus medius

N. medianus

N. radialis

N. musculo-cutaneus

A. circumflexahumeri posterior

N. cutaneusbrachii

medialis

N. intercosto-brachialis

N. thoracicuslongus

1. Rippe

N. subclavius

A. subclavia

A. carotiscommunis

Th ITh1C8

C VII

M. scalenusanterior

N. phrenicus

C5

C3

Abb. 8.3 N. axillaris. Gezeigt wird dieLokalisation des N. axillaris und seinebesondere Gefährdung bei Luxationenund Frakturen aufgrund der Nähe zumchirurgischen Hals des Humerus (aus:Schünke M et al. Prometheus. Lernatlasder Anatomie. Allgemeine Anatomieund Bewegungssystem. Stuttgart:Thieme; 2007).

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MERKE:Was nicht dokumentiert ist, hat nicht stattge-funden (Übernahmeverschulden!).

Diagnostik

Bildgebende Verfahren

● Röntgen: Schulter in 3 Richtungen (true a.–p., Y,axial oder Velpeau); transthorakale Aufnahmeobsolet

● Ultraschall: 5 – 7,5-MHz-Schallkopf, gute Beur-teilbarkeit der periartikulären Weichteile undderen Läsionen (cave: vorbestehende Schäden)

● weiterführende Diagnostik:– MRT: Methode der Wahl bei allen „weichtei-

ligen“ Fragestellungen (auch als Arthro-MRT,z. B. SLAP-Läsion bzw. Angio-MRT), gute Dif-ferenzierung alt/frisch

– CT: ossäre Läsionen (z. B. Skapulafrakturen,skapulothorakale Dissoziation)

Differenzialdiagnostik

● Fraktur● Luxation● Weichteilverletzung (z. B. Rotatorenmanschette)

CAVE:Häufig liegen degenerative Vorschäden vor undein Bagatelltrauma ist der „letzte Tropfen“ (ge-naue Anamnese). Nach Ausschluss einer Frakturoder Gelenkluxation schließt sich die differen-zierte „orthopädische“ Untersuchung an (u. U.nach einigen Tagen; cave: Schmerzen).

Therapie

Im Zustand des frischen Traumas ist die wichtigsteEntscheidung, ob eine dringliche OP-Indikationbesteht oder nicht. Eine Ruhigstellung der Schulterfür 3 – 5 Tage in einer Orthese (Gilchrist, Trauma-Weste usw.) ist immer richtig (Schmerztherapie).

Operative Therapie

immer OP-Einwilligung schriftlich (auch im Not-fall: je akuter, desto kürzer, z. B. bei Schulterluxa-tion)

Notfallindikationen.● offene Frakturen (drohende Perforation)● traumatische Gelenkeröffnung

● Luxationen des Schultergelenks● Luxationsfrakturen des Oberarmkopfs● Gefäß-/Nervenverletzungen

Alle anderen Verletzungen können weiter abge-klärt werden und haben Zeit (elektiv).

Weiterführende Schulteruntersuchungbei chronischen Leiden bzw.Erkrankungen

Anamnese

● vorbestehende Beschwerden, Diagnosen, The-rapien, Operationen

● Sport● Beruf● Schmerzcharakter (z. B. unter Belastung, nachts)● Funktionsverlust● Leidensdruck

MERKE:Immer an die HWS und zervikogene Beschwer-den denken (pseudo-/radikulär).

Inspektion

● Schultertiefstand● Muskelatrophien● Gelenkschwellungen● atypische Schulterkonfiguration (z. B. Scapula

alata, Eckgelenksprengung)

Palpation

● Codman-Handgriff (s. Abb. 8.2)● Schmerzpunkte (Summe > 100% durch Kombi-

nationen):– Supraspinatussehne (> 90%)– lange Bizepssehne (ca. 30 %)– Akromioklavikulargelenk (ca. 25%)– Subskapularissehne (selten)– Infraspinatussehne (sehr selten)– Sternoklavikulargelenk (sehr selten)– Teres-minor-Sehne („nie“)

Funktionsprüfung

An der Schulter ist es zu einer Flut an Untersu-chungstests mit sehr unterschiedlicher Sensitivitätund Spezifität gekommen.

8.1 Schulter und Schultergürtel

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Man sollte sich auf einige Tests beschränkenund diese sicher beherrschen.

Beispielhaft einige Tests zur Differenzierungvon Schulterläsionen:● Supraspinatussehne: Jobe-Test, Außenrotations-

Lag-Zeichen (Abb. 8.4)● lange Bizepssehne: Palm-up-Test (Abb. 8.5),

Speed-Test● Akromioklavikulargelenk: Adduktions-Wider-

stands-Test (Abb. 8.6), Cross-Body-Test

● superiores Labrum, anterior bis posterior(SLAPÜ): O’Brien-Test (Abb. 8.7), Kompressions-Rotations-Test

● Subskapularissehne: Innenrotations-Lag-Zei-chen, Lift-off-Test (Abb. 8.8), Belly-press-Test

● Infraspinatussehne: Außenrotations-Lag-Zei-chen (Abb. 8.9)

● Rotatorenmanschettenmassenruptur:Drop-Arm-Sign (Abb. 8.10)

Untersuchungstechniken an der Schulter

Abb. 8.4 Außenrotations-Widerstands-Test. Der Patientrotiert den Arm gegen Widerstand nach außen und gibtdabei Schmerzen oder ein Schwächegefühl an (Läsion derSupraspinatussehne).

Abb. 8.5 Palm-up-Test. Der gestreckte supinierte Armwird gegen Widerstand des Untersuchers in 90° Lateral-Abduktion und 30° Adduktion flektiert (Läsion der langenBizepssehne).

Abb. 8.6 Adduktions-Widerstands-Test. Gegen den Wi-derstand des Untersuchers bei gebeugtem Arm drückt derPatient diesen kraftvoll in die Adduktion (AC-Gelenk).

Abb. 8.7 a u. b O’Brien-Test.a Der um 20° adduzierte und 90° flektierte Arm wird beiproniertem Unterarm (Daumen zeigt nach unten) vomUntersucher gegen Widerstand nach unten gedrückt (Hin-weis auf Läsion des superioren Labrums).b Differenzialdiagnose: Bei supiniertem Unterarm Hinweisauf AC-Pathologie.

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● Impingement: Painful Arc, Neer-/Hawkins-Zeichen

● Laxität, Instabilität: Schubladentest, Sulkuszei-chen, Apprehension-Test, Relokationstest

(weitere Abbildungen bei den einzelnen Krank-heitsbildern)

Diagnostik

Aus der Anamnese, dem Schmerzbild und denFunktionstests kann die Läsion bereits sehr genaueingegrenzt werden (Differenzialdiagnostik: Infek-te und Empyeme nicht vergessen!).

Bildgebende Verfahren

● Ultraschall (5 – 10MHz):– Sehnendefekte– Bursitis– Erguss– Hämatom– Tendinitis der langen Bizepssehne

MERKE:Das Labrum und die SLAP-Region entziehen sichder Sonografie weitgehend.

● Röntgen: Je nach Fragestellung findet sich eineVielzahl von Einstellungen, 2 Richtungen sindimmer noch die Minimalanforderung

● MRT: Domäne der Weichteildiagnostik undmittlerweile Standard vor den meisten Schul-teroperationen; u. a. Labrum, Muskelqualität,Durchblutungssituation nur mit dieser Methodebeurteilbar (Abb. 8.11); auch Arthro-MRT

● CT (Arthro-CT):– ossäre Läsionen– alte Frakturen, z. B. Glenoiddefekte

MERKE:Am Ende der Schulteruntersuchung steht eineklare Diagnose mit einer zeitgemäßen Termino-logie (alt: Periarthritis humeroscapularis) undeiner konservativen oder operativen Behand-lungsempfehlung.

8.1 Schulter und Schultergürtel

Abb. 8.8 Lift-off-Test nach Gerber. Der im Schürzengriffgehaltene und dem Rücken aufliegende Arm kann vomPatienten nicht aktiv gehoben werden (Läsion der Subska-pularissehne).

Abb. 8.9 Außenrotations-Lag-Zeichen. Der im Ellenbogen90° gebeugte und in 20° Abduktions- und 20° Außenrota-tionsstellung gehaltene Arm weicht spontan in die Innen-rotation zurück (Läsion der Infraspinatussehne).

Abb. 8.10 a u. b Drop-Arm-Sign. Der vom Untersucher 90°lateral abduziert gehaltene Arm (a) kann vom Patientennach dem Loslassen nicht gehalten werden und sinkt nachunten (b) (Rotatorensehnenläsion).

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8.1.2 Frakturen und Luxationen desSchultergürtelsM. Schönaich, C. Voigt, H. Lill

Schulterluxation

Definition

Austritt des Humeruskopfs aus der Pfanne durchäußere Gewalteinwirkung oder durch eine ange-borene Schwäche des Kapsel-Band-Apparats(nach vorne, hinten oder unten)

MERKE:Unterscheidung zwischen habitueller (meistohne adäquates Trauma) und traumatischer Lu-xation (adäquates Trauma)

Epidemiologie

Traumatische Schultererstluxationen machenmehr als ⅓ aller Schulterverletzungen aus:● vordere/untere Schulterluxationen (Abb. 8.12)

sind am häufigsten (80 – 90%)● hinteren Luxationen (4 %)● axilläre Luxationen (häufig mit neurovaskulä-

ren Schäden)

Habituelle Schulterluxationen kommen seltenervor.

Ätiologie

Ein adäquates Trauma für die vordere Luxationstellt die forcierte Abduktions-Außenrotations-Be-wegung dar. Die selteneren hinteren Luxationenwerden häufig durch epileptische Anfälle (z. B. Al-koholiker) oder Stromunfälle verursacht.

Klassifikation der instabilen Schulter

Für die chronische posttraumatische bzw. habi-tuelle Instabilität der Schulter sind heute 2 Klassi-fikationen gebräuchlich.

Für den klinischen Alltag eignet sich die Gerber-Klassifikation:● Typ I: chronisch-verhakte Luxation● Typ II: unidirektionale Instabilität ohne

Hyperlaxität● Typ III: unidirektionale Instabilität mit

Hyperlaxität

Frakturen und Luxationen des Schultergürtels

Abb. 8.11 MRT Schulter. Das T1wSE-Sequenz-gewichteteSchnittbild ohne Fettunterdrückung zeigt die präzise unddetailgetreue Darstellung der Weichteile. Hier abgebildetein Normalbefund. Jedes MRT sollte vom Chirurgen selbstbefundet werden (aus: Breitenseher M. Der MR-Trainer.Obere Extremität. Stuttgart: Thieme; 2005).

Abb. 8.12 a u. b Anterior-inferiore Schulterluxation mitTuberculum-majus-Fraktur.a A.–p. Aufnahme.b Y-Aufnahme.

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● Typ IV: multidirektionale Instabilität ohneHyperlaxität

● Typ V: multidirektionale Instabilität mitHyperlaxität

● Typ VI: willkürliche Instabilität

Die Einteilung von Matsen berücksichtigt zusätz-lich das mögliche operative Vorgehen (letzte Be-griffe im Akronym) und gliedert sich in 2 großeGruppen:● TUBS:

– traumatisch– unidirektional– Bankart-Läsion– „surgical repair“

● AMBRII:– atraumatisch– multidirektional– bilateral– Rehabilitation– inferiorer Kapselshift– Intervallverschluss

Klinik

● traumatische Luxation:– massive Schmerzen im Bereich des Schulter-

gürtels– Bewegungsunfähigkeit und federnd fixierte

Zwangshaltung des Armes– Anamnese eines adäquaten Unfalls

● rezidivierende Luxation:– mittelgradige bis große Schmerzen im Be-

reich des Schultergürtels– Bewegungsunfähigkeit und federnd fixierte

Zwangshaltung des Armes– Anamnese eines inadäquaten Unfalls (z. B.

„Hand hinter den Kopf gelegt“)● Palpation: veränderte Schulterkontur mit pal-

pierter Epaulettenform und „leerer Pfanne“● obligate Überprüfung der Durchblutung (A. ra-

dialis), Motorik (Kennmuskulatur des Plexusbrachialis mit N. medianus, N. ulnaris und N.radialis) und Sensibilität (N. axillaris)

MERKE:Schädigung N. axillaris (sensibles Autonomiege-biet über lateralem M. deltoideus)

MERKE:„terrible triade“:● traumatische Luxation● große Rotatorenmanschettenruptur● N.-axillaris-Schaden

Diagnostik

Bildgebende Verfahren

● Röntgen Schulter in 3 Ebenen:– true a.–p. Projektion (s. Abb. 8.12a und

Abb. 8.29)– Skapulatangentialaufnahme („Y-View“, s.

Abb. 8.12b und Abb. 8.30)– axiale Aufnahme (wenn möglich)

MERKE:Auf knöcherne Mitverletzungen achten (Hill-Sachs-Delle und Bankart-Läsion).

Differenzialdiagnostik

● Sprengung des Akromioklavikulargelenks● Klavikulafrakturen● Humeruskopffrakturen mit evtl. Luxation

Therapie

Akute Therapie

Eine schonende Reposition sollte unter systemi-scher oder lokaler (Plexusanalgesie) Analgesienach radiologischer Bildgebung erfolgen:● nach Kocher (Abb. 8.13): in 4 Phasen bei ge-

beugtem Arm → Adduktion, Außenrotation,Elevation, Innenrotation

● nach Arlt (Abb. 8.14): Dauerzug am im Ellenbo-gen gebeugtem Arm, der auf einer gepolstertenStuhllehne liegt

● nach Hippokrates (immer seltenere Anwen-dung): Patient liegt auf dem Rücken. Längszugam Arm mit eingestemmter Ferse am Thorax.Alternativ sollte zum Gegenzug heute eindurchgezogenes Tuch (z. B. Bettlaken) um denoberen Thorax verwendet werden

MERKE:Die Reposition muss langsam und schonend er-folgen. Forcierte und traumatisierende Reposi-tionstechniken führen zu Nervenläsionen.

8.1 Schulter und Schultergürtel

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CAVE:Ferse nicht mehr in die Axilla – wegen der Ge-fahr von Plexusschäden!

Konservative Therapie

Bei Erstmanifestation einer traumatischen Schul-terluxation ist die konservative Therapie (nach Re-position) indiziert bei:● reduzierter sportlicher und körperlicher Inakti-

vität● Alter über 30 Jahre● undislozierten knöchernen Bankart-Läsionen

und Tuberculum-majus-Frakturen

MERKE:Ausschluss einer Rotatorenmanschettenläsionbei Patienten älter als 40 Jahre (sonst operativeVersorgung).

Kurzfristige temporäre Ruhigstellung in einemGilchrist-Verband zur Schmerzreduktion unddann die funktionelle Nachbehandlung.

Operative Therapie

Indikation.● Notfallindikation: verhakte Luxation mit Gefäß-

und/oder Nervenschaden● falls geschlossene Reposition nicht gelingt (z. B.

Bizepssehnen-Interposition), muss ebenfalls of-fene Reposition und Rekonstruktion

● allgemeine Operationsindikationen (unabhän-gig von der Genese und Rezidivhäufigkeit):– nichtretinierbare Luxation– dislozierte knöcherne Bankart-Fraktur– dislozierte Tuberculum-majus-Fraktur– Supra-/Infraspinatussehnenruptur– Subskapularissehnenruptur

Bei Erstmanifestation einer traumatischen Schul-terluxation besteht die Indikation zur Primärstabi-lisierung bei:● adäquatem Trauma● Fremdreposition● unidirektionaler Instabilität ohne Hyperlaxität● Alter < 30 Jahre● hoher sportlicher Aktivität● guter Compliance

Die Indikation zur sekundären Stabilisierung ist un-abhängig von Alter und Aktivität gegeben bei:● rezidivierender Instabilität● persistierenden Subluxationen

Therapeutisches Vorgehen.● Luxation ohne Begleitverletzung: arthroskopi-

sche Rekonstruktion des Labrums und desKapsel-Band-Apparats in Fadenanker-Technik.Die Hill-Sachs-Delle stellt dabei keine primäreOP-Indikation dar

● Luxation mit dislozierter Tuberculum-majus-Fraktur (Abb. 8.15): primäre Osteosynthese, un-disloziert primär konservatives Vorgehen mit 1-

Frakturen und Luxationen des Schultergürtels

Abb. 8.13 Reposition nach Kocher (aus: Bühren V, TrentzO. Checkliste Traumatologie. Stuttgart: Thieme; 2005).

Abb. 8.14 Reposition nach Arlt (aus: Bühren V, Trentz O.Checkliste Traumatologie. Stuttgart: Thieme; 2005).

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wöchiger Ruhigstellung Gilchrist-Verband undanschließender funktioneller Nachbehandlung

● Luxation mit knöcherner Bankart-Läsion: offeneoder arthroskopische Operationsindikation

● Luxation mit Rotatorenmanschettenläsion:zeitnahe operative Versorgung

Nachbehandlung

● 1.– 2. Woche: aus einem Gilchrist-Verband he-raus, Anteversion und Abduktion bis 90°

● ab 3. Woche: funktionelle Nachbehandlungschmerzadaptiert

● bei Begleitverletzungen: restriktivere Nachbe-handlung

Komplikationen

● Reluxation● Implantatversagen● sekundäre Frozen Shoulder (adhäsive Kapsuli-

tis)● Infektion (postoperativ)● Schulterinstabilität und Arthrose

Verletzung desAkromioklavikulargelenks (AC-Gelenk)

Definition

Läsion des Lig. acromioclaviculare isoliert oder mitden 2 Bandanteilen des Lig. coracoclaviculare (Lig.trapezoideum und conoideum) zusätzlich – dann„Sprengung“ des Gelenks

Epidemiologie

mit 10 – 12% zweithäufigste Verletzung des Schul-tergürtels

Ätiologie

● direkte Gewalteinwirkung: seitlicher bzw. seit-lich kranialer Anprall bei adduziertem Arm(häufig im Rahmen eines Sportunfalls)

● indirekte Gewalteinwirkung: Sturz auf denausgestreckten Arm

Klassifikation

Eingeteilt werden die ligamentären AC-Gelenk-Verletzungen nach Rockwood in 6 Gruppen.

Die ersten 3 Gruppen entsprechen der älterenKlassifikation nach Tossy u. Allman, die sich auf dievertikalen Instabilitäten beschränken. Die horizon-tale Instabilität wird durch die Typen IV–VI derRockwood-Klassifikation berücksichtigt.

Klassifikation nach Rockwood (Abb. 8.16).● röntgenmorphologische Beschreibung:

– Typ I: radiologisch keine Fehlstellung, klini-sche Symptomatik (in ca. 36 % der Verletzun-gen)

– Typ II: geringer Tiefstand des Akromions ge-genüber der Klavikula, geringe Erweiterungdes AC-Gelenkspalts, normaler korakoklavi-kulärer Abstand (Norm etwa 1,3 cm, Seiten-vergleich hilfreich) (in ca. 23%)

– Typ III: Tiefstand des Akromions gegenüberder Klavikula bis zu Schaftbreite, Erweite-rung des korakoklavikulären Abstands (in ca.39%)

– Typ IV: klinische Diagnose, fixierte posterioreDislokation der Klavikula, eventuell in deraxialen Aufnahme nachweisbar (in ca. 1 %)

– Typ V: Tiefstand des Akromions gegenüberder Klavikula um mehr als Schaftbreite(Abb. 8.17). Im Gegensatz zur gesunden Seitebesteht eine um 100 – 300% große Differenz(in ca. 1 %)

– Typ VI: Dislokation der Klavikula subakro-mial oder subkorakoidal (in ca. 0,2 %)

● pathomorphologisches Korrelat (Abb. 8.16):– Typ I: Dehnung/Zerrung des akromioklavi-

kulären Bandapparats (stabiles AC-Gelenk)– Typ II: Ruptur des akromioklavikulären

Bandapparats. Die Muskelansätze des

8.1 Schulter und Schultergürtel

Abb. 8.15 a u. b Schraubenosteosynthese bei Z. n. Schul-terluxation mit Tuberculum-majus-Fraktur. A.–p. Aufnahme(a) und Y-Aufnahme (b).

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M. deltoideus und M. trapezius sind teilweiseabgelöst. Eventuell kommt es zu einer Ver-letzung des Discus articularis (cave: post-traumatische Arthrose)

– Typ III: zusätzlich Ruptur des korakoklaviku-lären Bandapparates

– Typ IV: Die Klavikula ist nach hinten dislo-ziert und im M. trapezius fixiert (ausgeprägtehorizontale Instabilität)

CAVE:Typ IV häufig chronischer Verlauf!

● Typ V: zusätzlich zu Typ III vollständige Ablö-sung der deltatrapezoidalen Faszie. Das lateraleKlavikulaende ist in allen Richtungen instabil

● Typ VI: Die Klavikula ist nach unten disloziertund subakromial oder subkorakoidal verhakt,die akromioklavikulären Bänder reißen. Diekorakoklavikulären Bänder können intakt blei-ben

Klinik

● Druckdolenz● Schwellung● Schonhaltung und Bewegungsschmerz im

Schulterbereich● Anamnese eines adäquaten Traumas● Klaviertastenphänomen: Bei Zerreißung des

akromioklavikulären und korakoklavikulären

Frakturen und Luxationen des Schultergürtels

Typ I

Typ IV

a b c

d e f

Typ V Typ VI

Typ II Typ III

Abb. 8.16 Röntgenmorphologische Einteilung bei AC-Gelenkverletzung nach Rockwood (aus: Wirth CJ, Mutschler W.Praxis der Orthopädie und Unfallchirurgie. Stuttgart: Thieme; 2009).

Abb. 8.17 a u. b Rockwood-V-Verletzung. A.–p. Aufnahme(a) und axiale Aufnahme (b).

a b

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Bandapparats weicht das laterale Klavikulaendeauf Druck nach kaudal aus

CAVE:Bei der Luxation der Klavikula nach dorsal kanneine Kompression der Gefäße des Armes entste-hen (schmerzhafte horizontale Bewegung).

Diagnostik

Bildgebende Verfahren

● Röntgen:– AC-Gelenk in 2 Ebenen– evtl. Aufnahme nach Zanca (überlagerungs-

freie Darstellung des AC-Gelenks in der a.–p.Projektion durch Neigung des Zentralstrahlsum 12 – 15° nach kranial)

– Panoramaaufnahme (simultanes a.–p. Rönt-gen beider Schultergelenke mit 5 – 10 kg Zugan beiden Armen) (Abb. 8.18)

MERKE:Die Gewichte sollten frei an den Handgelenkenaufgehängt werden, um eine maximale Muskel-entspannung insbesondere des M. deltoideus zuerreichen. Klavikula bleibt dabei auf Niveau undder Arm disloziert nach kaudal (Abb. 8.18).

Differenzialdiagnostik

● laterale Klavikulafraktur● Schulterluxation

Therapie

Konservative Therapie

Indikation.● Rockwood-Typ-I- und -Typ-II-Verletzungen● kontroverse Diskussion bei Rockwood-Typ-III-

Verletzungen (s. operatives Vorgehen)

Therapeutisches Vorgehen.● temporäre Ruhigstellung für max. 1 Woche in

einem Gilchrist-Verband● dann funktionelle schmerzadaptierte Nachbe-

handlung

Operative Therapie

Indikation.● Rockwood-Typ-IV- bis -VI-Verletzungen● Rockwood-Typ-III-Verletzungen bei sportlich

aktiven Personen, bei beruflicher Exposition(Überkopfarbeiten) und Patientenwunsch

Therapeutisches Vorgehen.● Rückenlagerung mit 30° Oberkörperhochlage-

rung● Stabilisierung mittels offenem Arthrodesever-

fahren:– Hakenplatte– transartikuläre Drahtschienung– Cerclage– Stellschraube durch Klavikula und Processus

coracoideus (nach Bosworth)

CAVE:Für die 3 letztgenannten Verfahren sind hoheKomplikationsraten beschrieben.

8.1 Schulter und Schultergürtel

Abb. 8.18 Schema zur Darstellung der Fixierung der Ge-wichte bei AC-Gelenkverletzungen.

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CAVE:Materialentfernung nach 2 – 3 Monaten.

● alternativ: neues Verfahren mit arthroskopischgestützter Stabilisation mit Fäden und Endo-buttons mit 90° Oberkörperhochlagerung (z. B.Tight rope, Abb. 8.19)

Nachbehandlung

● 1.– 2. Woche: funktionelle Nachbehandlung auseinem Gilchrist-Verband (30° Abduktion undFlexion und 80° Innenrotation erlaubt)

● 3.– 4. Woche: Abduktion und Flexion bis 45°● 5.– 6. Woche: Abduktion und Flexion bis 60°● ab 7. Woche: freies Bewegungsausmaß

Komplikationen

● sekundäre AC-Gelenkarthrose● kosmetisch störende Konturänderungen der

Schulter ohne funktionelle Störungen (konser-vative Therapie)

● Verknöcherungen in den korakoklavikulärenBändern

● chronische Instabilität● Infektion (postoperativ)

Klavikulafrakturen

Epidemiologie

● mit bis zu 10 – 15% beim Erwachsenen und biszu 20 – 25% beim Kind eine häufig anzutref-fende Fraktur

● 35% aller Verletzungen am Schultergürtel sindKlavikulabrüche

● mittleres Drittel in 80% (Abb. 8.20), lateralesDrittel in etwa 15%, sternales Drittel nur inetwa 5% der Fälle betroffen

Ätiologie

Fraktur durch direktes Trauma (Sturz auf dieSchulter)

Klassifikation

Für die gesamte Klavikula wird Klassifikation nachAllman verwendet (Tab. 8.1).

Für die lateralen Klavikulafrakturen hat sich imdeutschsprachigen Raum zusätzlich die Klassifika-tion nach Jäger u. Breitner (Tab. 8.2, Abb. 8.21)durchgesetzt.

Klinik

● sichtbare Schwellung und/oder Stufenbildungim Verlauf der Klavikula

● verminderte Schulterbreite● Überprüfung der Durchblutung, Motorik und

Sensibilität am Arm● ggf. angedeutetes Klaviertastenphänomen bei

lateraler Klavikulafraktur

Frakturen und Luxationen des Schultergürtels

Abb. 8.19 a u. b Neueres Verfahren mit Fäden und Endo-buttons (Tight rope). A.–p. Aufnahme (a) und Y-Aufnahme(b).

a b

Tab. 8.1 Allman-Klassifikation der Klavikulafraktur.

Gruppe Frakturlokalisation

1 mittleres Drittel

2 laterales Drittel

3 mediales Drittel

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Diagnostik

Bildgebende Verfahren

● Röntgen:– Klavikula in 2 Ebenen (a.–p. und mit 45° ge-

kippter Röhre bei kraniodorsal angelegterRöntgenplatte)

– ggf. Panoramaaufnahme (simultanes a.–p.Röntgen beider Schultergelenke mit 5 – 10 kgZug an beiden Armen zur Differenzierungzwischen Typ IIa und Typ IIb nach Jäger u.Breitner

● evtl. Angiografie (Verdacht auf Gefäßschädi-gung)

Differenzialdiagnostik

● Luxationen im Akromioklavikular- und Sterno-klavikulargelenk

● Floating Shoulder (instabiler Schultergürtel):Fraktur der Klavikula und des Skapulahalses

● Fraktur der 1. Rippe

Therapie

90% aller Klavikulafrakturen heilen unter konser-vativer Behandlung mit gutem Ergebnis aus. Einoperatives Vorgehen ist daher bei den geschlosse-nen Frakturen des mittleren Drittels nicht unbe-dingt erforderlich. Aus kosmetischen Gründen undaufgrund der schnelleren Analgesie wird heute je-doch bei jüngeren Patienten häufig die minimal-invasive, intramedulläre Stabilisierung angewen-det.

8.1 Schulter und Schultergürtel

Tab. 8.2 Klassifikation der lateralen Klavikulafraktur nach Jäger u. Breitner.

Typ Fraktur Ligamentäre Verletzung

I Fraktur lateral des Lig. coracoclaviculare evtl. Lig. acromioclaviculare

IIa Fraktur im Bereich des Ansatzes des Lig. coracoclavi-culare

Ruptur der Pars conoidea des Lig coracoclaviculare

IIb Fraktur im Bereich des Ansatzes des Lig. coracoclavi-culare

Ruptur des Pars trapezoidea des Lig. coracoclavi-culare und Hochstand des proximalen Fraktur-endes

III Fraktur medial des Lig. coracoclaviculare keine

IV Aushülseverletzung der lateralen Klavikula aus dem Periostschlauch bei Jugendlichen (Pseudoluxation desAkromioklavikulargelenks)

Abb. 8.20 a u. b Klavikulafraktur immittleren Drittel (Bildgebung in 2 Ebe-nen).

Abb. 8.21 Klassifikation der lateralen Klavikulafrakturnach Jäger u. Breitner (aus: Mutschler W, Haas, NP. Praxisder Unfallchirurgie. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2004).

a b

a

c d

b

Typ I

Typ III

Typ II

Typ IV

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Konservative Therapie

Indikation. undislozierte geschlossene Frakturenim mittleren Drittel

Therapeutisches Vorgehen.● temporäre Ruhigstellung in einem Gilchrist-

Verband (Schmerzreduktion)● anschließend funktionelle Nachbehandlung

ohne Belastung für 6 Wochen, Rucksackverband

Operative Therapie

Indikation.● absolute Indikation:

– offene Frakturen II. und III. Grades– operationspflichtige Gefäßverletzung

● relative Indikation:– erheblich dislozierte Frakturen (Verkür-

zungsfehlstellung, empfohlen > 1,5 cm)– weichteilgefährdender Fragmentdruck– laterale Frakturen– Floating Shoulder– Pseudarthrosen– Refrakturen

Therapeutisches Vorgehen.● Operationszugänge für Plattenosteosynthese:

– Hautinzision parallel zur Klavikula– Säbelhiebschnitt die Klavikula in ca. 45°

kreuzend● Zugang für intramedulläre Nagelung:

– Stichinzision über dem sternalen Anteil derKlavikula

– ggf. perkutane Reposition mittels spitzer Re-positionszange

● Frakturen im mittleren Drittel:– Plattenosteosynthese mit Locking Compres-

sion Plate (LCP) (Abb. 8.22) oder Low ContactDynamic Compression Plate (LCDCP) (evtl.Rekonstruktionsplatte oder anatomischePlatte)

– elastisch stabile intramedulläre Nagelung(ESIN) (Abb. 8.23)

● Frakturen im lateralen Drittel (insbesondere beiTyp IIa nach Jäger u. Breitner):– Hakenplatte, 3,5-mm-Rekonstruktionsplatte,

T-Platte

CAVE:Hohe Komplikationsrate bei Osteosynthesen derlateralen Klavikulafraktur!

Nachbehandlung

● funktionelle Nachbehandlung ohne Belastungfür 6 Wochen

● bei Hakenplatte Limitierung der Abduktion> 90° für 6 Wochen

Komplikationen

● bei 7% der konservativ behandelten Klavikula-frakturen Pseudarthrose

● AC-Gelenkarthrose und Sternoklavikulararthro-se

● Implantatversagen● Infektion (postoperativ)

Skapulafraktur

Epidemiologie

● relativ selten, 0,4 – 1% aller Frakturen● 3 – 5% aller Verletzungen des Schultergürtels● 2/3 der Frakturen betreffen das Schulterblatt al-

lein, ⅓ den Skapulahals und ¼ die Pfanne

Frakturen und Luxationen des Schultergürtels

Abb. 8.22 Plattenosteosynthese bei Klavikulafraktur immittleren Drittel.

Abb. 8.23 Osteosynthese einer mittleren Klavikulafrakturmittels ESIN.

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Ätiologie

massive Gewalteinwirkung (Schutz durch kräftigeMuskulatur) durch direktes und stumpfes Trauma

Klassifikation

● intra- oder extraartikuläre Skapulafrakturen● Skapulafrakturen werden nach Euler u. Rüedi in

5 Gruppen klassifiziert (Tab. 8.3, Abb. 8.24)

Der „Superior Shoulder Suspensory Complex“(SSSC) besteht aus 3 Komponenten:● Verstrebung Klavikula – AC-Gelenk – Akromion● Verbindung Klavikula – CC-Bänder – Korakoid

(C 4-Verbindung)● Verstrebung der 3 knöchernen Fortsätze (Spina,

Korakoid, Glenoid) in der Skapula

Verletzungen des SSSC an mehr als einer Stellesind potenziell instabil.

Klinik

schmerzhafte Bewegungseinschränkungen imSchultergelenk

8.1 Schulter und Schultergürtel

Tab. 8.3 Klassifikation nach Euler und Rüedi.

A Korpusfrakturen, Skapulablatt, einfach oder mehr-fragmentär

B Fortsatzfrakturen:B1 SpinaB2 KorakoidB3 Akromion

C Kollumfrakturen:C 1: Collum anatomicumC 2: Collum chirurgicumC 3: Collum chirurgicum● a: Klavikulafraktur● b: Ruptur der Ligg. coracoclaviculare und cora-

coacromiale

D Gelenkfrakturen:D 1: Pfannenrandabbrüche (Bankart-Läsion)D 2: Fossa-glenoidalis-Frakturen● a: mit unterem Pfannenrandfragment● b: mit horizontaler Skapulaspaltung● c: mit korakoglenoidaler Blockbildung● d: TrümmerfrakturD 3: Kombinationsfrakturen mit Kollum- bzw. Kor-pusfrakturen

E Kombinationsfrakturen mit Humeruskopffrakturen

b

c

d

a

Caput breve des M. biceps

M. deltoideus

Abb. 8.24 a–d Einteilung der Skapulafrakturen nach Eulerund Ruedi (aus: Mutschler W, Haas, NP. Praxis der Unfall-chirurgie. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2004).a Gruppe A und B.b Gruppe C, Collum anatomicum.c Gruppe C, Collum chirurgicum.d Gruppe D.

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MERKE:Überprüfen des N. suprascapularis (verläuftdurch Incisura scapulae am Oberrand des Col-lum chirurgicum, versorgt M. supra- und infra-spinatus) und des N. axillaris (sensibles Autono-miegebiet über lateralem M.-deltoideus-Be-reich).

CAVE:Ausschluss Begleitverletzungen (ipsilateralerArm, Thorax, Schädel und Abdomen).

Diagnostik

Bildgebende Verfahren

● Röntgen: Schulterblatt a.–p. und Y-View (Y-Aufnahme)

● Computertomografie (prinzipiell zu empfehlen):bei nicht eindeutigem Frakturverlauf, besondersbei Skapulahals- und Glenoidfrakturen(Abb. 8.25)

● evtl. EMG: bei möglicher Schädigung des N.suprascapularis

Therapie

in den meisten Fällen konservative Therapie

Konservative Therapie

Indikation.● Frakturen vom Typ A● undislozierte Frakturen Typ B1 und B3, Typ C● periphere Fraktur Typ B2● intraartikuläre unverschobene Glenoidfraktu-

ren (D 2), evtl. auch D 3-Frakturen

Therapeutisches Vorgehen.● temporäre Ruhigstellung in einem Gilchrist-

Verband (max. 1 Woche posttraumatisch)● dann funktionelle Nachbehandlung ohne Belas-

tung für 4 – 6 Wochen

Operative Therapie

Indikation.● dislozierte Typ-B-Frakturen, besonders B2- und

B3-Frakturen● dislozierte Typ-C- (> 1 cm und > 40° Abkippung)

und Typ-D-Frakturen

Therapeutisches Vorgehen.● Operationszugänge:

– prinzipielle Empfehlung: dorsolateraler, hori-zontaler Wechselschnittzugang in Bauchlage

– 4 Standardzugänge zur Skapula: anterior,superior, posterior und lateral (abhängig vonder Frakturmorphologie)

● offene Reposition mit interner Fixation durchKleinfragmentschrauben oder 3,5-mm-Platten-system (Empfehlung: LCP) (Abb. 8.26)

Nachbehandlung

funktionelle Nachbehandlung ohne Belastung für6 Wochen

Frakturen und Luxationen des Schultergürtels

Abb. 8.25 Skapulafraktur in der 3-D-Rekonstruktion.

Abb. 8.26 a u. b Plattenosteosynthese nach Skapulafrak-tur.a A.–p. Aufnahme.b Y-Aufnahme.

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