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6. Ausgabe / 2013 www.2021-verlag.ch 2021 ZEITSCHRIFT FÜR GESELLSCHAFTSFRAGEN Über Sonne, Mond und den Sinn des Lebens Weshalb wir Menschen da sind Homöopathie Behandlung eines Krebspatienten Im stillen Kämmerlein Stille – wohin führt sie uns? Über tote Beziehungen, Friedhöfe und die Totenwelt Wann wir dem Tod begegnen

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2021 - 6 Zeitschrift für Gesellschaftsfragen 2013

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6. Ausgabe / 2013www.2021-verlag.ch

2021Z E I T S C H R I F T F Ü R G E S E L L S C H A F T S F R A G E N

Über Sonne, Mond und den Sinn des Lebens Weshalb wir Menschen da sind

HomöopathieBehandlung eines Krebspatienten

Im stillen KämmerleinStille – wohin führt sie uns?

Über tote Beziehungen, Friedhöfe und die TotenweltWann wir dem Tod begegnen

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EDITORIAL

Geschätzte Leserschaft

Nehmen Sie sich Zeit. Entspannen Sie sich. Ruhen Sie sich für eine Weile aus. Denken Sie darüber nach, was sie tagsüber erlebt

haben. Oder schenken Sie den feinen Klängen Gehör, die aus der Stille ertönen. Verzichten Sie für diesen Moment bewusst auf

TV, Internet oder andere Medien. Was geschehen kann, wenn Sie das Prinzip der Stille ein Weilchen länger und intensiver leben,

können Sie im Artikel „Im stillen Kämmerlein“ nachlesen.

Im Artikel „Über Sonne, Mond und den Sinn des Lebens“ finden sich Antworten auf einige der grundlegenden Fragen zu unserem

irdischen Leben: Hat unser Dasein einen Sinn? Weshalb weilen wir Menschen auf Mutter Erde? Weshalb hat es uns in dieses Tal

des Leidens verschlagen, wo Leiden doch absolut sinnlos erscheint. Oder irren wir uns in dieser Angelegenheit?

Wie man Krankheit und Leid angehen kann, zeigt der Homöopath und Astrologe Stefan Schlumpf. Er hat einem „unheilbaren“

Krebspatienten eine homöopathische Kur verschrieben. Das Institut für Naturheilkunde des Unispitals Zürich anerkannte die

positive Wirkung dieser Kur und stellte der Krankenkasse einen Antrag, die Kosten für die Mittel zu übernehmen. Im Artikel „Ho-

möopathische Behandlung eines Krebspatienten“ beschreibt S. Schlumpf, wie durch die Verbindung von Astrologie und Homöo-

pathie die homöopathische Kur zusammengestellt wurde und weshalb eine solche Kur heilsam sein kann.

Die Kurzgeschichte „Fragmente von Liebe“ stammt von István Cseh jr. In die Geschichte einer unglücklichen Liebschaft sind zwei

Gedichte eingebaut.

Hannes Kriesi

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04 Über Sonne, Mond und den Sinn des LebensWie Wasser aus einem unterirdischen Quell sprudelt und zu einem Fluss wird – genauso ist die Seele des Menschen ein unbewusster Speicher, aus dem Bilder ins bewusste Leben strömen. Das Leben ist in diesem Sinn ein Bewusstwerdungs-gang. Dies und noch mehr kann aus den Erscheinungsbildern von Sonne und Mond abgeleitet werden.

08 Homöopathische Behandlung eines KrebspatientenPatient, Angehörige, Ärzte und Krankenkasse sind sich in dieser Sache einig: Eine langjährige homöopathische Kur hat einem Krebspatienten offenbar geholfen.

10 Im stillen KämmerleinWenn der Körper in der Stille ruht, kann die Seele an verdrängten Bildern arbei-ten. Ein Erfahrungsbericht über einen dreijährigen Stille- und Ablösungsgang.

13 Fragmente von Liebe Kurzgeschichte über die Liebe und das Leben.

16 Über tote Beziehungen, Friedhöfe und die TotenweltWann begegnen wir dem Antlitz des Todes? Weshalb essen wir Tierleichen? Was geschieht nach dem Tod des Körpers? – Antworten aus einer seelischen Per-spektive.

19 Impressum

INHALT

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E s war an einem Frühlingstag, wie man ihn sich wünscht. Ich sass auf einer Bank am See und betrachtete die Sonne, wie sie

hinter einer Hügelkette versank. Ihre letzten Strahlen bedeckten das Wasser mit einem glitzernden Teppich. Da wurde mir bewusst, worum es grundsätzlich geht im Leben. Als hätte die Wärme der untergehenden Sonne ihre Schalen aufgeschmolzen, blühten die Gedanken in mir auf. Die Sonne stand für den Tag, die Gegenwart, das wache Sein. Sie stand für das bewusste Leben. Deshalb thront sie tagsüber hoch oben am Himmel, mit einer unvergleichlichen Präsenz, gerade so, als wol-le sie den Menschen einbrennen, schaut hin, nehmt mich wahr, seid hellwach und präsent. Währenddessen ich scheine, ist euer Leben bewusst.

Im selben Verhältnis wie die Sonne ein Him-melskörper neben weiteren ist, entspricht die-ses bewusste Leben lediglich einer Ebene des Daseins. Eine hintergründige Daseinsebene ist aus dem Zyklus des Mondes ableitbar. In der Nacht, wenn die Sonne die andere Erdhalb-kugel bescheint, dominiert der Mond in der Regel die Szenerie. Von der Sonne beleuchtet, umkreist er die Erde auf seiner Bahn und wirft ein mattes Licht auf die Landschaft. Der Mond erscheint am Himmel aber nicht mit derselben Zuverlässigkeit wie die Sonne, die mit regelmä-ssigen zeitlichen Verschiebungen am Morgen auf- und am Abend untergeht. Der Mond ist unsteter. In gewissen Phasen taucht er bereits am helllichten Tag am Osthorizont auf und manchmal erst spät nachts. Er überschreitet die Tag-Nacht-Grenze. Er pendelt zwischen Tag und Nacht, zwischen hell und dunkel, wie wenn er markieren wollte, dass er Grenzen transzendieren kann.

Dieses Bewegen über die Grenzen steht für den Übergang ins bewusste Sein. Offenbar gibt es jenseits des Bewusstseins noch unbe-wusste Welten. Und bevor sich während des Tages eine bewusste Handlung abspielt, muss etwas, das dieser Handlung zu Grunde liegt,

diese unbewussten Schichten transzendiert haben und (durch das Prinzip1, das u.a. als Mond erscheint) über die Bewusstseinsgrenze ins Leben geboren worden sein. Ungefähr so, wie ein (aus unbewussten Welten kommendes) Menschenkind zuerst in einer Gebärmutter rei-fen und wachsen muss, bevor es bereit ist, ans Licht der Welt zu treten und die Schauplätze des bewussten Lebens wahrzunehmen. Das Mond-Prinzip entspricht dem Gebärenden, der Fruchtbarkeit, dem Weiblichen. Es ist auch vergleichbar mit einem Quell, aus dem Wasser aus unterirdischen (unbewussten) Seen spru-delt. Was über einen Menschen ins bewusste Leben gelangen will, fliesst aus diesem Quell.

Überträgt man die sichtbare Dominanz der beiden Himmelskörper Sonne und Mond auf deren Bedeutung für das Dasein, dann muss ein Sinn des irdischen Lebens darin liegen, etwas im Unbewussten Verborgenes bewusst werden zu lassen, es ins Bewusstsein aufstei-gen zu lassen. Das Leben ist in diesem Sinn ein Bewusstwerdungsgang. Dieser Grundsatz kann aus den Erscheinungsbildern von Sonne und Mond abgeleitet werden.

Damit diese unbewussten „Wasser“ mitsamt der sich darin tummelnden „Wassertieren“ ins bewusste Leben gelangen können, muss der Mond-Quell sprudeln. Je mehr er sprudelt, de-sto mehr Wasser aus unterirdischen Seen speist die Flüsse, welche sich durch die Ebenen und Täler des Bewusstseins schlängeln und desto mehr Leben gedeiht in den Auen und Dörfern. Wie kann dieser Quell zum Sprudeln gebracht werden? Wie können die Felder des Lebens optimal bewässert werden? Wie kann einem Menschen möglichst viel bewusst werden?

Erstens sollte man mit einer Philosophie durchs Leben schreiten, dass die Erlebnis-welten, die einem Menschen begegnen, aus unbewussten, seelischen Speichern genährt werden. Es ist der individuelle Fluss des Le-bens, auf dem der Mensch eine Erkundungs-fahrt macht. Der Mensch wandelt durch eine Manifestierung seiner eigenen Seelenwelten. Was physisch geschieht, hat eine Entsprechung in unbewussten Seelenwelten. Durch eine phy-sische Erscheinung wird etwas im Unbewuss-ten Verborgenes ins Bewusstsein gebracht, oder es ist ein Hinweis, in welchem Bereich Verborgenes liegt.

Eine angenehme Begegnung ergiesst sich so aus dem unbewussten Seelenleben des Menschen. Durch den Mond-Quell könnte als unbewusste Entsprechung ein anmutiger Regenbogenfisch geschlüpft sein. Es gibt viele Arten von Fischen oder Wassertieren, die sich in unbewussten Gewässern tummeln: junge, alte, reife, unreife. Quallen, Frösche, Krokodile, Flusspferde, gefährliche Raubfische, niedliche Zierfische. Erlebt der Mensch unschönere Sze-nen, handelt es sich um Hinweise, dass in den unbewussten Wassern neben delikaten Speise-fischen auch einige ungeniessbare Wasserbe-wohner hausen, die sich im Erleben ziemlich übel manifestieren. Oder es handelt sich sogar um Müll, der sich irgendwo im unterirdischen Höhlen- und Seenlabyrinth angesammelt hat. Und wenn es diesen durch den Mond-Quell spült, gibt es als bewusste Entsprechung sicher kein harmonisches Champagner-Frühstück mit der grossen Liebe. Dem Menschen begeg-nen so auf seinem Lebensweg jene Bilder, die in seiner Seele als Entsprechung abgespeichert sind. Durch jedes Geschehen gelangt dem Menschen etwas aus seinem unbewussten Seelenleben ins Bewusstsein. Zulassen heisst darum das Zauberwort. Eine Kunst des Lebens liegt darin, alle Bilder zuzulassen und die rich-tigen Schlüsse daraus zu ziehen, d.h. sich zu hinterfragen, welches Prinzip dahinter steckt.

Über Sonne, Mond und den Sinn des LebensDie augenfälligsten Himmelskörper sind Sonne und Mond. Lassen sich aus den Erscheinungsbildern dieser beiden Gestirne existenzielle Grundfragen beantworten? – Weshalb wandeln wir Menschen auf Mutter Erde? Hat unser Dasein einen Sinn? Wie gelangt man dazu, das Leben zu erfüllen? Von Hannes Kriesi

PHILOSOPHIE

1. Ein Prinzip entspricht der unbewussten (prinzi-piellen) Ursache einer Erscheinung. Die unbewussten Welten bestehen aus Prinzipien, die darauf angelegt sind, über einen Menschen in Zeit und Bewusstsein zu gelangen. Jedes Prinzip hat viele Erscheinungsformen. Das Mond-Prinzip erscheint u.a. als Mond, als Gehäu-se oder als Brunnen.

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Zulassen heisst, schöne Bilder, Glück und Freu-de, aber auch hässliche Bilder und entspre-chende Gefühle, Lärm, Schmerzen oder üble Gedanken anzunehmen und nach Möglichkeit zu ertragen. Wer sich zum Beispiel über einen Wichtigtuer nervt, könnte dabei erkennen, dass das Wichtigtuer-Prinzip in einem selber nicht ausgegoren ist. In diesem Fall schwim-men vielleicht einige noch nicht ausgereifte, aufschneiderische Goldfischchen in unbe-wussten Teichen. Anderes Beispiel: Wer sich über den Lärm stört, wenn der Nachbar mit dem Rasenmäher hantiert, könnte erkennen, dass das Prinzip, das hinter dem Lärm steht, in einem selber aktiv ist. Durch das Zulassen und Ertragen des Lärms gelangt diese Lärm-quelle aus der Seele ins Bewusstsein. Vielleicht liegen als unbewusste Entsprechung einige leere Konservendosen auf dem Grund eines unterirdischen Sees, die vor sich hin rosten und dumpfe Geräusche erzeugen, wenn sie in tiefen Wassern gegeneinander schlagen. Wer sich die Ohren nicht verstopft und das sich daraus ergebende Bild inklusive Rasenmäher-Lärm erduldet, dem gelangt so der eigene Müll ins Bewusstsein. Zulassen hiesse, den Krach zu ertragen und sich später in der Ruhe mit den auftauchenden Fragen und Antworten ausei-nander zu setzen. Vielleicht stiege der Gedanke auf, inwiefern Maschinen für das Leben förder-lich sind. Ist man in seinem Leben selber von Maschinen abhängig, eröffnet sich dadurch vielleicht ein Weg, sich selber und sein eigenes Leben zu hinterfragen.

Zulassen hiesse sowieso, gar keine oder mög-lichst wenige motorisierte Maschinen oder elektronische Geräte zu benutzen. Jede Auto-fahrt, jedes Arbeiten am Computer oder jedes Telefonat ist im Grunde ein Nicht-Zulassen. Der Mensch, der beispielsweise das Telefon be-nutzt, akzeptiert nicht, dass sein natürliches Wirkungsfeld beschränkt ist. Er will mit Men-schen kommunizieren, die sich nicht in seiner Gegenwart befinden. Verabredet man sich per Telefon, trifft man sich mit Menschen, die man zu den abgemachten Zeiten an den jeweiligen Orten sonst nicht treffen würde. Dies führt zu bestimmungsfernen Erlebniswelten. Und es ist fraglich, ob solche Kompensationswelten einer Bewusstwerdung dienen.

Das Leben annehmen, hiesse, darauf zu warten, bis die Bilder mit den zugehörigen Menschen von selber ins Erleben kämen. Der Mensch bräuchte geeignete Erlebniswelten gar nicht zu suchen, weil sie ja latent in sei-ner Seele angelegt sind. Um diese Welten ins Bewusstsein zu bringen, bräuchte er „ledig-lich“ seine Seelenwelten zu bereinigen. Dazu braucht es aber keine elektronischen Geräte oder technischen Maschinen. Im Gegenteil: Die unbewussten Welten werden in der Stil-le fruchtbar, weil sich darin die unbewussten

Wasser beruhigen und die Wassertiere in ru-higen Gewässern den Lebensraum vorfinden, in dem sie wachsen und reifen können. Die ausgereiften Tiere können dann in aller Ruhe durch den Quell schlüpfen und ins Leben ge-bärt werden.

Auch der erste Mensch, der einen motorisier-ten Mähdrescher baute, wollte oder konnte das Leben und seine Bilder nicht mehr (in voller Härte) annehmen. Er setzte seine subjektiven Wünsche und Bedürfnisse über die Anfor-derungen, die die unbewusste Welt an ihn stellte. Selbstverständlich ist die Versuchung gross, Mühsal auszuweichen. Zulassen hätte aber geheissen, das Korn von Hand zu mähen und zu dreschen. Wer mit der Sichel im Mais-feld steht und Stauden schneidet, nimmt das Leben so an, wie es ihm begegnet. Er erhält dafür eine Erlebniswelt, die aus Maisstauden und einigen Krähen besteht. Vielleicht ge-langt nach ein paar Stunden eine Magd ins Bild, die ihm kalten Milchkaffee und einen Ankenbock bringt und ihm dazu etwas sagt. Eine Erlebniswelt in all ihren Facetten, die in seiner Seele eine Entsprechung hat, könnte so ins Erleben kommen. Über die Annahme und Ausführung einer Arbeit jedenfalls kann dem Menschen etwas vollständig ins Bewusstsein gelangen. Im Falle des Bauers wären einige Knochenarbeiterfische und eine Brokatbarbe für die Meid mit dem Znüni in bewusste Gesta-de geschwommen und er wäre etwas leichter dadurch. Es gilt der Grundsatz: Wenn man das Leben möglichst ursprünglich und naturnah annimmt, kann man auf kürzestem Weg see-lische Bildspeicher abdienen und entleeren.

Maschinen wie Mähdrescher führen zu einem Eingriff in Erlebniswelten. Und es ist fraglich, ob in diese eingegriffen werden sollte. Es lässt sich die Hypothese formulieren, dass keine motorisierten Maschinen oder elektrische Werkzeuge notwendig wären, um das Leben zu erfüllen. In einer gesunden Gesellschaft sollte mindestens die Diskussion geführt werden, wie weit ein Einsatz von Maschinen lebens-förderlich ist. Die Benutzung einer Landwirt-schaftsmaschine wäre vielleicht vertretbar. Ein Mähdrescher könnte im Bewusstsein einge-setzt werden, dass dessen Gebrauch dem Men-schen auf lange Sicht eher schadet als nützt. Oder Maschinen könnten für eine gewisse Zeit eingesetzt werden. Im Bewusstsein, dass der Mensch auch Zeiten durchleben sollte, in de-nen man bewusst darauf verzichtet.

Mindestens einen Teil der Erlebniswelt ver-passt der Bauer auf dem Mähdrescher. Dafür wird er früher zu Hause sein. Was er mit der ge-wonnenen Zeit anstellt? Vielleicht verbringt er sie vor dem TV. Oder er schnürt seine Jogging-schuhe und versucht, die Dämpfe der faulen-den Knochenarbeiter-Fische zu unterdrücken,

von denen mittlerweile einige auf dem Rücken schwimmen, weil sie nicht in Zeit und Erleben geboren wurden.

Nicht unterdrücken hiesse jedoch, keinen Sport auszuüben. Der Drang in die Bewe-gung hat als unbewusste Entsprechung Un-bereinigtes, das (als Abfall im unterirdischen Seen- und Höhlenlabyrinth vermodert und) die unbewussten Wasser unruhig macht. Diese Unruhe steigt durch den Mond-Quell auf. Sie macht den Menschen nervös und dräng ihn u.a. in Bewegungsabläufe. Der sich bewegende Mensch überträgt so Impulse von unbewuss-ten Abfällen auf einen physischen Vollzug. Wer solchen Impulsen nachgibt, kann sich kurzfri-stig ruhig stellen, löst aber das Problem nicht. Im Gegenteil: Unbereinigtes sollte in der Ruhe und Stille passiv ausgesessen und bereinigt werden. Eine Kunst des Lebens besteht darin, zu erkennen, welche Impulse von Unbereini-gtem stammen und diesen (wenn die Zeit dafür reif ist) nicht mehr nachzugeben. Die dabei auftretende Nervosität gilt es zu ertragen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Der Bauer zum Beispiel, der früher zu Hause ist, sich die Ruhe gönnt und dabei nervös wird, wird sich über kurz oder lang die richtigen Fra-gen stellen. Weshalb werde ich unruhig? Ist es richtig, auf den Mäher zu sitzen, oder sollte ich lieber wieder von Hand arbeiten? Lebe ich überhaupt mein Leben, oder sollte ich etwas komplett anderes machen?

Wer mit Sport kompensiert, unterdrückt u.a. die drängenden Fragen und kann länger eine ungeeignete Lebensform aufrechterhalten. Ein Mensch, der nur dank Sport seinen Alltag bestreiten kann, müsste sich ohne Ausgleich durch die Bewegung viel rascher neu orien-tieren. Dies geschähe jedoch im Sinne eines Lebens als Bewusstwerdungsgang.

Zulassen hiesse auch, Schmerzen und Krank-heitssymptome so weit als möglich zu ertragen, weil sich alles, was dem Menschen nicht be-wusst wird, in letzter Instanz am Körper ma-nifestiert. Die Fische, die den Weg durch den Mond-Quell ins Bewusstsein nicht gefunden haben, haben sich vielleicht in Abfallhaufen verfangen und ihre Kadaver verfaulen. Wenn der Mensch die dabei auftretenden Signale konstant verdrängt, bilden sich mit der Zeit immer grössere Haufen aus Unrat, Knochen und Kadaver, die sich in letzter Instanz als Schmerzen und Krankheiten manifestieren. So erhalten Neurotiker irgendwann körperliche Hinweise, dass ein paar Fischschwärme an die frische Luft wollen oder die unbewussten Was-ser voller Abfälle sind.

Über den Körper erhält der Mensch so die Hinweise, dass im einige Inhalte nicht be-wusst geworden sind. Der Mensch würde so unbewusst reguliert und gesteuert, wenn er

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solche ins Bewusstsein gelangenden Hinwei-se „lesen“ und umsetzen könnte. Bei einem lädierten Knie z.B. befindet sich der Mensch auf einem Irrweg. Über das Knie soll er nun in die Ruhe geführt werden, um sich seines Irrwegs bewusst zu werden. So könnte sich der Mensch von jedem Krankheitssymptom führen und lenken lassen. Wer (körperliche) Symptome verdrängt, verschlimmert das ihnen zu Grunde liegende Problem. Indem Symptome permanent unterdrückt werden, ballen sich deren Ursachen in unbewussten Seelenwelten und brechen (schlimmstenfalls) eines Tages unkontrolliert hervor. Bild dafür ist der Asche und Feuer speiende Vulkan oder der Wellengang, der immer höher wird und den Menschen eines Tages überspült. Ein grosser Teil der schweren Krankheiten müsste so ei-gentlich mit Technisierung, Industrialisierung und Pharmaindustrie entstanden sein, indem dem Menschen nicht nur die Möglichkeit gege-ben wird, Krankheitssymptome und Erlebnis-welten systematisch zu unterdrücken, sondern er durch die modernen Institutionen regelrecht dazu gedrängt wird, dies zu tun.

Wer den bürgerlichen Trott lebt, dessen unbe-wusste Erlebniswelt-Keime verrotten unwei-gerlich in der Monotonie des Alltags. Wer aber seine fünf Sinne noch einigermassen beisam-men hat, könnte die Fäulnis der Zeit erkennen. Wem auch noch bewusst wird, dass die ganze Misere eine seelische Entsprechung hat, zieht sich wie ein Fisch in eine einsame Grotte zu-rück. In der Stille und Abgeschiedenheit kann sich die Unterwasserlandschaft erholen. Die Abfallhaufen lösen sich langsam auf, und die unreifen Fischchen beginnen zu wachsen und

zu reifen. Der Mensch wird je länger je weniger zu kompensatorischen Vollzügen gedrängt, es begegnen ihm ausgewogenere Bilder und es er-öffnen sich im unterirdischen Höhlenlabyrinth Zugänge zu verborgenen Grotten, in denen bis-lang unbekannte Fische schwimmen, die nun durch den Mond-Quell schlüpfen können. Zu-lassen hiesse nun, sich auf die Begegnung und das Leben einzulassen und die neuen Wege, die sich aus den neu erschlossenen Unterwasser-welten ergeben, bis zum Ende zu beschreiten.

Die eingangs gestellten Fragen sind beantwor-tet. Dem Menschen begegnet in seinem Leben, was als prinzipielle Entsprechung in seiner ei-genen Unterwasserwelt schwänzelt, schwadert und modert. Der Schlüssel zum Leben liegt da-rin, in den Bildern die eigenen Schattenseiten, d.h. das Unbereinigte und Unausgereifte zu erkennen. Diese Bewusstwerdung der eigenen Unvollständigkeiten ist aber erst die halbe Mie-te. Wem bewusst ist, dass er unbereinigt und unausgereift ist, wird diesen Zustand früher oder später ändern wollen. Durch den Lebens-weg, der sich aus dieser Absicht ergeben kann, erneuert sich der Mensch. Das Leben ist in diesem Sinn nicht nur ein Bewusstwerdungs-, sondern auch ein Erneuerungsgang. Es lässt sich abschliessend als Grundsatz formulieren: In den Bildern, die dem Menschen begegnen, könnte dieser sein eigenes Bereinigungs- und Erneuerungspotential erkennen.

Und heute? Die Heutigen werden als Verdrän-gungsweltmeister in die Geschichtsbücher eingehen. Die gesamte moderne institutio-nelle Gesellschaft ist auf Verdrängung und Kompensation ausgerichtet. Jedes Schulkind

lernt, Symptome zu unterdrücken, Sport zu treiben, sich permanent zu beschäftigen, sich mit irgendwelchem Schul- oder Nachrichten-müll vollzustopfen, damit es ja nie die klären-de Ruhe findet. Und es dauert nicht lange, da wollen Heranwachsende keine Ruhe mehr, weil sich bereits zu viel Müll angesammelt hat. Wenn dann in den seltenen ruhigen Momenten die fauligen Geschmäcker der verwesenden Kadaver aufsteigen, werden diese schleunigst unterdrückt. Wie man es gelernt hat. Und ir-gendwann hat man so viel Lärm und Dreck in sich hinein geschaufelt, dass der Mond-Quell verstopft ist. Der Mensch ist dann unfruchtbar, es gelangt nichts Neues über ihn ins Leben. Er kann nichts mehr aus den ewigen Fischgrün-den schöpfen.

Und am Ende gibt es fast keine lebendigen Fi-sche mehr in der Unterwasserlandschaft. Es gibt dafür viel Dreck, den der Mensch wie in einem Zwang über die Welt giesst. Hässliche Ereignisse, die über die Medien in jeden Winkel der Erde posaunt werden, könnten dem Men-schen seine unbewusste Mülldeponie bewusst werden lassen, wenn er sich die zugehörigen Fragen stellen würde. Er könnte sich z.B. fra-gen, wie er dazu kommt, sich mit Atommeilern potentielle Atombomben vor die Haustüren zu bauen. Er könnt sich auch fragen, wie er in eine industrielle Abhängigkeit geraten ist, die auf ihn selber zurückfällt. Will er sich nicht sel-ber zerstören, muss er sich früher oder später solche Fragen stellen und die eigene Schuld annehmen und abtragen. Dieses Zeitalter könnte als jenes der „grossen Bereinigung“ in die Geschichtsbücher eingehen.

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W egen Beschwerden im Brustbereich wurde Marco Fratelli1 im Jahr 2003 im Limmattalspital Zürich untersucht.

Der Befund lautete Lungenkrebs (Bronchus-karzinom rechter Oberlappen). Der Bericht ge-langte aber aus unbekannten Gründen nicht an den Patienten, der die Diagnose erst im Herbst 2006 mit 67 Jahren nach einer weiteren Unter-suchung am Universitätsspital Zürich erhielt. Der Arzt teilte M. Fratelli damals mit, er habe noch 6 Monate zu leben. Weiter erfuhr der Pati-ent in diesem Gespräch, dass der Lungenkrebs schon 2003 entdeckt worden sei. Er sei nach der Diagnose niedergeschlagen und wütend gewesen, erinnert sich M. Fratelli an diesen Moment. Im Januar 2007 unterzog er sich ei-ner Chemotherapie. Kurz zuvor, im Dezem-ber 2006, hatte er mit einer homöopathischen Gesamtkur begonnen. Die Einnahmemittel wurden anhand des Geburtshoroskops des Klienten zusammengestellt2.

Die astrologischen Hauptkonstellationen wur-den in der Kur mit den entsprechenden Mitteln angegangen (siehe Kasten). Die Potenz der Mit-tel richtete sich nach der Häuserposition der an einer Konstellation beteiligten Planeten.

Während der Chemotherapie wurde zusätz-lich das homöopathische Mittel Hirschzun-genfarn (Scolopendrium D20) eingesetzt, um die Nebenwirkungen zu minimieren. Die Chemotherapie führte zu keiner Gesundung, glücklicherweise blieben aber auch Nebenwir-kungen aus. Erst ab dem Jahr 2008 besserte sich der Zustand des Patienten wahrnehm-bar. Auch Nachfolgeuntersuchungen zeigten, dass der Tumor seit dem Jahr 2008 langsam, aber stetig schrumpft. Er selber und seine Stieftochter, die ihn während der ganzen Zeit eng begleitet hatte, führen die Verbesserung

Homöopathische Behandlung eines KrebspatientenDas Institut für Naturheilkunde des Universitäts-Spitals Zürich hat einen Antrag an die Krankenkasse Visana gestellt, die Kosten für die homöopathische Behandlung eines Krebspatienten zu übernehmen. Dem Antrag wurde stattgegeben. Von Stefan Schlumpf

HOMÖOPATHIE

1. Richtiger Name bekannt.

2. Urheber dieser Verbindung von Astrologie und Homöopathie ist Wolfgang Döbereiner.

Hauptkonstellationen Mittel

Pluto-Sonne Königskobra-Gift (Naja tripudians LM 18)

Neptun-Mars Blauer Eisenhut (Aconitum napellus D 100)

Neptun-Venus Mutterkorn (Secale cornutum D 30)

Neptun-Merkur Tintenfisch (Sepia LM 12)

Neptun-Jupiter Küchenschelle (Pulsatilla D 60)

Weiter wurden die Unterkonstellationen mit den entsprechenden Mitteln angegangen.

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seines Zustandes auf die homöopathische Be-handlung zurück. „Die homöopathische Kur rettete meinem Stiefvater das Leben“, ist sich dessen Stieftochter sicher. Aus diesem Grund nahm sie mit dem Institut für Naturheilkunde Kontakt auf, um die Übernahme der Kosten für die homöopathischen Mittel zu erwirken, welche pro Jahr um die 500.- betragen. Das Institut für Naturheilkunde ging auf diesen Ansinnen ein und schrieb im Antrag an die Krankenkasse: „Bei diesem Patienten besteht erstaunlicherweise eine anhaltende partielle Remission. […] Auf Grund des eindrücklichen Verlaufes müssen wir davon ausgehen, dass das homöopathische Therapieschema sowohl antiinflammatorisch als auch Immunsystem stärkend wirkt und ihn auch in seiner Kon-stitution hilft zu balancieren. Auf Grund des insgesamt positiven Ergebnisses dieser doch sehr unkonventionellen Therapie möchten wir sie bitten, die Kosten für die homöopathischen Medikamente aus der komplementärmedizi-nischen Versicherung zu übernehmen.“ Die Krankenkasse Visana übernahm in der Folge Rückwirkend alle Kosten für die Mittel.

Zur Wirkungsweise einer homöopathischen Kur: Die verabreichten Mittel sollen verdrängte Bilder, die sich als Krankheitssymptome mani-festieren, ins Bewusstsein bringen. Der Patient nimmt also zum Beispiel ein homöopathisches Königskobra-Gift (Naja tripudians) ein, was der Konstellation Pluto-Sonne entspricht. Durch die Einnahme des Mittels gelangen die Zwän-ge im eigenen Leben ins Bewusstsein, die die Ängste auslösen, die letztlich für den Krebs zeugend sind. So ist jemand zum Beispiel in einer Ehe gefangen und vollzieht nur noch die Bedürfnisse des Ehepartners anstatt die eige-nen. Homöopathie ist dann keine Symptom-Bekämpfung, wenn die verdrängten Bilder, die den Menschen krank machen, ins Bewusstsein geholt werden. Wird Homöopathie hingegen lediglich als Symptom-Ausschaltung benutzt, dann bleiben die krankheitsauslösenden Ursachen bestehen. Es kommt nur zu einer kurzfristigen Besserung. Später findet sich der Patient in der gleichen Situation wieder. Das Entscheidende an einer homöopathischen Kur ist es deshalb, sich den im Laufe einer Kur aufsteigenden Bildern zu stellen.

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M it dem Gedanken spielte ich schon lan-ge: Weg mit Zeitungen, weg mit Internet und TV, weg mit allen Medien. Diese

Idee hatte ihre Berechtigung, dünkte es mich. Die Massenmedien fegten wie eine Sturmflut übers Land. An jeder Ecke schepperte es aus TV-Geräten, Züge und Trams wurden mit Gra-tiszeitschriften überschwemmt und die elek-tromagnetischen Wellen des Internets wogten durch Gassen und Häuser. Man konnte sich dieser Monsterwelle aus Lärm und Informa-tionen fast nicht entziehen. Aber trotz dieser medialen Überflutung las ich zum Nachmit-tagskaffe noch in der Zeitung, schaute mir nach dem Abendbrot eine Sendung auf dem Laptop an oder surfte ziellos im Internet. Wieso tat ich mir das an? War mit der Flut eine Seuche über die Gesellschaft hereingebrochen? Hat-te ich mich damit angesteckt? Hatte sich ein Informationsbazillus in mir eingenistet und meinen Willen lahmgelegt?

Aber auch über den Wert der Literatur begann ich zu sinnieren. Selbstverständlich gab es le-senswerte Bücher. Die meisten vermittelten jedoch keine neuen Erkenntnisse. Man las sie, um sie gelesen zu haben. Dieses Lesen um des Lesens willen schien mir höchst fragwürdig. Man stopfte sich voll mit Buchstabensalat. Man mästete seinen Geist mit hochgeschraub-ten Sätzen. Man schaufelte immer neue Inhalte in sich hinein, nur um alles wieder zu verges-sen. Es handelte sich im Grunde um dasselbe Übel wie mit den Massenmedien, nur war es weniger offensichtlich. Man überfrass sich – abgesehen von wenigen Ausnahmen – mit In-formationen und Geschichten, die überhaupt keinen Zusammenhang mit dem eigenen Le-ben hatten.

Und eines Tages begann ich mich von den Bü-chern zu befreien. Davon besass ich damals etwa zehn randvolle Papiertragtaschen, wie man sie in der Migros für 30 Rappen pro Stück an der Kasse erhält. Und so landete ein gut ge-füllter Papiersack nach dem anderen im Bro-ckenhaus. Es verging kaum ein halbes Jahr, da besass ich noch drei Bücher. Wieder ein halbes

Jahr später besass ich kein einziges Buch und auch sonst fast nichts mehr. Doch halt. Erst mal langsam und schön der Reihe nach.

Kurz nachdem ich damit begonnen hatte, meine Bücher wegzugeben, musste ich meine damalige Wohnung verlassen, weil das Haus, in dem ich damals wohnte, abgerissen wurde. Dieser Umzug bewog mich dazu, fortan kon-sequent auf Medienkonsum zu verzichten. Diesen Weg beschritt ich nicht ganz freiwil-lig. Das Leben drängte mich quasi dazu. Zu dieser Zeit nahm ich deutliche Signale wahr, den Massenmedien besser den Rücken zuzu-wenden. Zuweilen geschah es nämlich, wenn ich auf meinem Laptop eine TV-Sendung an-schaute oder in einem Magazin einen Artikel las, dass sich etwas in mir auslöste. Dunkle Wogen überfluteten dann mein Bewusstsein. Gleichzeitig schaltete meine Pulsfrequenz zwei Gänge höher. Das Ganze fühlte sich ziemlich unangenehm an. Und da die Idee, jeglichem Medienkonsum zu entsagen, sowieso seit längerem Blüten in meinem Gedankengarten trieb, fiel mir diese letzte Konsequenz nicht allzu schwer. Ich abonnierte in meinem neu-en Heim keinen Internet-Anschluss, gewöhnte mir im Kaffeehaus den Griff nach Zeitungen und Zeitschriften ab und verbannte DVDs und sonstige Lärmquellen aus meinem Leben.

Und so begann ich, immer konsequenter in die Stille einzutauchen. Zuerst eine Stunde pro Tag, dann einige Stunden jeden Abend, später ganze Abende und schliesslich ganze Tage. Ich baute Zeiten der Stille über die Monate konti-nuierlich aus und sonstige Beschäftigungen ab. Manchmal traf ich Freunde oder ging arbeiten. Ich gewöhnte mir aber den Grundsatz an, nicht mehr selber aktiv zu werden, sondern nur auf Anfragen zu reagieren. Schliesslich beschäftigte ich mich nicht mehr mit irgendetwas, wenn es keinen triftigen Grund dafür gab, sondern sass den grössten Teil des Tages einfach da und ruhte in der Stille. Zur Abwechslung machte ich Spaziergänge und rastete auf einer Bank in einem Park, am Waldrand oder am Wasser. Am Abend begab ich mich in mein Gemach und

zündete eine Kerze an. Ich sass, dachte nach, beschaute die Bilder, die an meinem inneren Auge vorbeizogen oder meditierte.

Irgendwann kündigte ich meine Jobs. Auch stieg ich kontinuierlich aus allen sonstigen Verträgen und Verpflichtungen aus. Es war wie eine Kettenreaktion. Aus einer Handlung ergab sich die nächste. Wie wenn eine Reihe von Do-minosteinen angetippt worden wäre und ein Stein nach dem anderen fiel. Ich bezahlte z.B. keine Krankenkasse mehr. Dies führte dazu, dass mir die Kreditkarte gekündigt wurde und ich meine Konten auflöste.

Es entstand eine Dynamik aus diesem Weg, die dazu führte, dass ich mich von immer mehr ab-löste und meinen Besitz weggab. Die Umstän-de forderten es auch. Zum Beispiel standen mir immer kleinere Stauräume für meine Sachen zur Verfügung. Bemerkenswert war: Je länger ich in die Stille ging, desto mehr von meinem Besitz konnte ich weggeben. Gegenstände oder Kleider, die mir Wochen zuvor noch un-verzichtbar schienen, hielt ich einige Wochen oder Monate später für völlig überflüssig. Die Brockenstube neben meiner Wohnung kam mir gerade recht. Fast mein ganzer Hausrat landete in ihren Verkaufsregalen.

Natürlich motivierte mich etwas, diesen Weg radikal zu beschreiten. Zum Beispiel hatte ich einen Traum, als ich damit anfing, konsequent in die Stille zu gehen. Ich befand mich in die-sem Traum in einem leeren, unterirdischen Raum. Durch eine Türe schritt ich in einen anderen Raum. Dieser war wiederum leer. Nur an der hintersten Wand hing ein Kasten, der aber nur mit einem äusserst komplexen Spe-zialwerkzeug zu öffnen war. Und genau dieses ausgeklügelte Gerät hielt ich in der Hand.

Zudem erlebte ich während dieser Zeit prä-gende Momente. Seit ich konsequent das Prinzip der Stille und Ablösung lebte, war mir zuweilen, als würde mein Bewusstsein von düsteren Wellen überflutet. Es handelte sich um Depressions- und Angstschübe, die mich überkamen. Und je konsequenter ich in die Stille ging, desto mehr dieser Schübe über-

Im stillen KämmerleinDer Gang in die Stille ist Balsam für den Menschen. Er bereinigt dadurch seine Seelenwelten. Die breite Masse hat einen anderen Weg eingeschlagen. Er führt in den Lärm und in die mediale Dauerberieselung. Mit welchen Folgen? Ein Erfahrungsbericht von Hannes Kriesi

RELIGION

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kamen mich in einer ersten Phase. Der ganze Prozess wurde jeweils begleitet von einem an-steigenden Puls. Es war ein ähnliches Befinden, wie es manchmal aufgetreten war, als ich noch Medien konsumierte. Ein entsprechendes Bild begegnete mir an einem Nachmittag am See. Als ich auf einem Bootssteg über das Wasser schritt, schien mir, als tauchten Rochen vom Seegrund an die Wasseroberfläche auf, wo sie dann regungslos trieben. Und wie sie so schwammen, dünkte es mich, sie schieden Körner aus ihren Hintern aus. Als ich die Sze-nerie genauer beschaute, realisierte ich, dass grosse Dreckfladen vom Hafengrund aufstie-gen und sich an der Wasseroberfläche auf-zulösen begannen. Es handelte sich um alte, hässliche Teile. Sie sahen aus wie verrottete Fetzen von Lederblasen, die eine ganze Weile auf dem Seegrund vor sich hin gemodert haben mussten.

Es waren keine rosaroten und hellblauen Schäfchenwolken, die aus dem Kasten kamen, der an der hintersten Wand im leeren, unterir-dischen Traumzimmer hing. Es waren dunkle Schwaden, die sich aus meiner Seele ablösten und in meinem Bewusstsein auftauchten. Es waren „Dämonen“, die sich in meiner Seele festgekrallt hatten und jetzt Abschied nah-men, indem sie als Sturmwolken durch mein Bewusstsein fegten. Mit Zeit und Stille lösten sich diese Wolkenformationen auf. Wirkten sie anfänglich bedrohlich wie schwarze Gewitter-wolken, entluden sie sich nach und nach. Und je heller und freundlicher der Himmel wur-de, desto ruhiger wurde auch ich. Sowieso verspürte ich eine Wandlung. Ich konnte z.B. immer länger am selben Ort verweilen, ohne die Hatz zu verspüren, mich anderweitig um-zutun. Auch mein Drang nach Bewegung und Sport hatte abgenommen. Und wenn ich mich bewegte, schwitzte ich viel weniger als vorher. Zudem war ich duldsamer, ärgerte mich we-niger schnell, hatte eine viel höhere Toleranz-schwelle als zuvor. Kurzum: Mir war, als hätte ich einen Reifungs- oder Wachstumsschub durchgemacht in dieser Zeit. Verhielt es sich bei der Seele des Menschen ähnlich wie bei vie-len Nahrungsmitteln? Diese benötigen oftmals Zeit und Ruhe, um auszureifen. Käse z.B. wird zu genau diesem Zweck in Kellern oder Höhlen gelagert, Getreide in Silos, Fleisch wird einige Tage abgehangen. Auch jede Frucht braucht Zeit und Ruhe, damit sie reifen und wachsen kann.

Ein weiterer auffallender Umstand war, dass mir die Massenmedien nach einiger Zeit über-haupt nicht mehr fehlten. Es war vergleichbar mit dem Entzug von Nikotin. Einmal entwöhnt, fehlte der Stoff nicht mehr. Nun verstand ich, weshalb die Gesellschaft von einer Monster-welle aus Informationen überflutet wurde. Die Menschen waren es, die unbewusst un-

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Menschen tagtäglich zuführen. Hypothese: In einer gesunden Gesellschaft würden Medien nur sehr beschränkt oder gar nicht konsumiert. Am Grad der Mediatisierung einer Gesellschaft kann deren Krankheitszustand abgelesen wer-den.

8. Die Stille und Besitzlosigkeit entspricht dem religiösen Prinzip bzw. dem Urprinzip. Wer Bi-ografien religiöser Persönlichkeiten studiert, findet dieses Prinzip darin. Buddha meditierte oft, Jesus und Mohammed gingen in die Wü-ste. In den damaligen Zeiten waren solche Wü-stengänge zwangsläufig Stille-Phasen, weil es damals keine Medien, Computer, Telefone etc. gab. Es lässt sich vermuten, dass es Mönche gibt, die dem Urprinzip huldigen. Ihren Besitz jedenfalls müssen sie vor einem Klostereintritt (in der Regel) abgeben. Was hinter den Mau-ern geschieht, ist mir nicht bekannt. Vielleicht beten und arbeiten sie. Ich würde aber mein letztes Hemd darauf wetten, dass sich einige Mönche – zumindest Phasenweise – bewusst in die Stille begeben.

9. Die „religiöse“ Beschneidung findet primär im Geist statt. Die Askese kann mit einer gei-stigen Enthaltsamkeit beginnen, in der sich der Mensch in eine mentale Stille begibt. Aus dieser mentalen kann sich eine körperliche Enthaltsamkeit ergeben. Der Körper folgt so dem Geist. Dies macht durchaus Sinn, wenn davon ausgegangen wird, dass der Geist dem Körper überstellt ist. Die Hypothese lautet: Die Askese war in früheren Jahren in erster Linie auf eine geistige Enthaltsamkeit ausgerichtet und hat sich erst durch die moderne Auffas-sung – der Körper sei die entscheidende Ebene – dazu entwickelt, primär auf der körperlichen Ebene enthaltsam zu leben, zu fasten etc.

10. Das Bewusstsein ergiesst sich aus einem unbewussten, seelischen Quell. Der Mensch wandelt durch eine Manifestierung seiner un-bewussten Seelenwelten. An der Aussenwelt kann der Mensch ablesen, was in der Seelen-welt für Entsprechungen gespeichert sind. Es findet sich in der Erscheinungswelt ein Ausguss des Seelenlebens. Leben und Begegnungswelt können deshalb als Lehrmeister und Wegwei-ser angeschaut werden.

11. Für jeden Gegenstand, den ein Mensch be-sitzt, gibt es eine unbewusste Entsprechung. Von diesen Gegenständen kann man sich lö-sen, wenn man die entsprechenden Knorze auf der seelischen Ebene löst. Wie viel ein Mensch veranlagungsmässig besitzen sollte, erkennt er nach Phasen der Stille und Ablösung.

12. Jeder Mensch ist anders veranlagt. Je nach Veranlagung sollte das Prinzip der Stille und Ablösung zur richtigen Zeit und in der ange-brachten Intensität gelebt werden.

bereinigt waren. Der Drang zum Konsum von Informationen war Ausdruck davon. Die Grundannahme, die dahinter steht, ist simpel. Jede unbewusste Verunreinigung fordert einen bewussten Vollzug, damit sie dem Menschen bewusst werden kann. So wird der Mensch durch seine eigenen Seelenschatten zum Konsum von z.B. Drogen oder Informationen gedrängt. Während ein Kiffer Cannabis raucht, werden Informationen über Augen und Ohren aufgenommen. Aus einer prinzipiellen Sicht-weise gibt es lediglich einen graduellen Un-terschied. Der Mensch stellt sich mit solchen „Beruhigungsmitteln“ unbewusst ruhig. Er füttert damit die Dämonen, die in seiner Seele hausen. Ohne „Futter“ veranstalten diese einen Affentanz und machen den Menschen nervös.

Man kann die Medien-Problematik auch vom anderen Ufer aus betrachten. Wenn davon aus-gegangen wird, dass die Seele das Bewusstsein speist, sie quasi dessen unbewusster Nährbo-den ist, ist jedes Ablenkungsmanöver Indiz da-für, dass die eigenen Seelenwelten nicht zuge-lassen werden wollen. Suchtverhalten entsteht aus dieser Perspektive aus einer Angst, einem Unvermögen oder schlicht einer Bequemlich-keit, sich den eigenen Seelenflecken zu stellen.

Zurück zu meiner Stille-Kur und ihren Folgen. Selbstverständlich war diese Zeit nicht spurlos an mir vorübergegangen. Bei mir hatte sich zum Beispiel eine Lebensmittelallergie aus-gelöst. Ich ertrug zeitweilig nur noch Nahrung, die 100% naturbelassen war und änderte mei-ne Essgewohnheiten um 180 Grad. Über die Monate verlor ich mindestens 15 kg Gewicht. Hatte diese Abmagerung eine Entsprechung zum Besitz, der sich von mir löste. Hatte ich zu viele Besitztümer mit mir herumgeschleppt und parallel dazu zu viel Fett gebunkert? Oder hatte mein Fettgehalt eine Entsprechung zu unverarbeiteten Erlebnissen, die in der Stille verarbeitet wurden? Auf jeden Fall war ich nach einigen Monaten wieder rank und schlank wie ein Jüngling.

In einer weiteren Stille-Phase war dann Sitzen angesagt. Naturbelassenes Essen, wenig Hof-gang, einfach den lieben, langen Tag Sitzen. Und je länger ich sass, desto mehr Bilder aus alten Zeiten tauchten in meinem Bewusstsein auf. Es war bisweilen, als wäre eine Schleuse geöffnet worden, solche Bilderfluten kamen angeschwemmt. Diese Fluten sogen mich teil-weise so intensiv in alte Zeiten zurück, dass die Sitzerei richtiggehend kurzweilig war. Of-fenbar hatte ich mir in früheren Jahren nicht genügend Ruhezeit für die Verarbeitung von Erlebnissen eingeräumt. Und meine Seele, so schien es, konnte sich jetzt in Ruhe und über längere Zeit mit den erlebten Bildern befassen,

diese verarbeiten und sich schliesslich von ih-nen lösen. Und je länger dieser Prozess andau-erte, desto leichter schritt ich meines Weges.

Aus den geschilderten Erfahrungen lassen sich einige Grundannahmen ableiten:

1. Durch die Stille und Ablösung bereinigt der Mensch seine Seelenwelten. Die „Dämonen“ (Verdrängtes, seelische Verunreinigungen), die sich in der Seele festgekrallt haben, nehmen Abschied, wenn sie nicht mehr mit Informati-onen, Lärm etc. gefüttert werden. Aufschluss-reich wäre eine Untersuchung, wie Patienten reagierten, wenn sie sorgsam und über längere Zeiträume in die Stille geführt würden.

2. Seelische Verunreinigungen drängen den Menschen in entsprechende Erlebniswelten. Durch ein aktives Ausleben werden Verunrei-nigungen jedoch genährt. Bereinigt werden sie, indem sie passiv ausgesessen werden.

3. Die Erlebnisse, die ein Mensch aufgrund seelischer Verunreinigungen erlebt, müssten (wie alle anderen Erlebnisse auch) in der Stille verarbeitet werden. Je mehr ein Mensch in die Stille geht, desto mehr kann er verarbeiten.

4. Vier Möglichkeiten, woher seelische Verun-reinigungen stammen könnten. (1) Aus frü-heren Leben. (2) Sie werden vererbt. (3) Ein Mensch lädt sich während eines Lebens (durch Gedanken und Handlungen wider das Urprin-zip) damit auf. (4) Eine Kombination aus den ersten drei Möglichkeiten.

5. Was der Mensch nicht bereinigt, sammelt sich in unbewussten Seelenwelten und bricht eines Tages aus. Symptome des Unbereinigten sind u.a. Depressionen und Angstwellen. Diese können auftreten, wenn sich seelische Verun-reinigungen „entladen“ und das Bewusstsein überschwemmen.

6. Angstwellen, Depressionen und Krank-heiten führen den Menschen, wenn sie nicht (z.B. medikamentös) unterdrückt werden. Die Hypothese lautet: Angstwellen, Depressionen und Krankheiten sind Wegweiser, die den Weg aus einem unbereinigten in einen bereinigten Zustand weisen. Der Mensch könnte durch sie erkennen, dass er sein Leben grundsätzlich än-dern sollte.

7. Ursächlich für den Konsum von (Massen-)Medien sind unbewusste Verunreinigungen. Der Mensch wird durch sie dazu gedrängt, In-formationen zu konsumieren. Werden diese „Dämonen“, die in der Seele des Menschen hausen, nicht mit der üblichen Ration an Informationen gefüttert, hauen sie auf die Trommeln und machen den Menschen nervös. Durch den Konsum von Medien stellt sich der Mensch unbewusst ruhig. Medienkonsum ist ein mentales Beruhigungsmittel, das sich viele

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KURZGESCHICHTE

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Die Fragmente entstanden in willkürlicher Reihenfolge im Dezember 2010 auf einer mechanischen Schreibmaschine (brother Deluxe 780TR).

Der französische Textausschnitt gehört zum Lied »La où je vais« geschrieben von Laurence Ben Harroche-Declercq und Judith. (Aus dem Album »Si l’on s’en souvient« von Judith)

Gedichte »Paris« und »Beethoven« von István Cseh jr. aus dem geplanten Gedichtband »Stadt.Träume.Wort«.

Fragmente von Liebevon István Cseh jr.

GESELLSCHAFT

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Das Ordnen vieler Gedanken ist wie ein Sprung ins kalte Wasser. Die zentrischen Bewegungen von innen nach außen erwärmen die Sinne. Langsam entwickelt sich ein Gespür, eine Ver-trautheit, sich dem Glück hinzuwenden oder blind dem Unglück zu folgen. Der Moment des Eintauchens ins Bad der Gefühle und die tragenden Wellen der Hoffnung beeinflussen das Urteilsvermögen, ob das Ganze als Ganzes wahrgenommen oder nur eine endlose, bittere Suche nach Fragmenten ist.

***

Sein Magen rumorte, als hätte er tagelang ohne etwas zu essen nur an seinen Gefühlen gekaut. Lustlos schob Daniel die Bettdecke zur Seite und griff nach einer kleinen scharlachroten Schatulle, die auf einer alten Kommode mit abgewetzten Griffen lag. Die Wintersonne schimmerte durch das vorhanglose Fenster und erhellte Daniels Gemüt. Eine Erinnerung flackerte auf: Lena. Immer wieder Lena.

Vorsichtig öffnete er die Schatulle und griff nach einem weißen Kerzenstummel, den er aus purer Langeweile in einem Trödlerladen hatte mitlaufen lassen, als er an jenem Tag nach einem bestimmten Buch suchte, dies aber nicht finden konnte … Daniel dachte gerne an die kostbaren Stunden mit Lena zu-rück. Sie mochte den Schimmer von Kerzen und Öllämpchen; sie liebte die Wärme, die ihr einen Hauch von Geborgenheit gab.

An einem verregneten Oktoberabend letzten Jahres war Daniel spazieren gegangen und hatte Spaß daran gehabt, mit Schirm und Re-genmantel durch die Straßen der Vorstadt zu ziehen. Seine Aufmerksamkeit galt ganz dem Rhythmus der Regentropfen. Laut aufjauch-zend streckte er seine Hände in Richtung Him-mel und stampfte abwechslungsweise mit den Füssen auf den Boden. Daniel war so in seine Freude über dieses Naturschauspiel vertieft, dass er kaum mitbekam, wie er von einem Straßenabschnitt zum nächsten gelangte. In der Rue Keller stieß er beinahe mit einer ihm entgegeneilenden Frau zusammen. Während Daniel eine leise Entschuldigung murmelte, ging sie einfach weiter.

***

Tagsüber arbeitete Lena im Buchladen ihres Onkels, nebenbei half sie mehrmals im Monat in der Bar am Zentralbahnhof aus. Ihr Onkel wusste nichts von diesem Nebenerwerb, und obwohl dieser Job oft an ihren Kräften zehrte, genoss sie das zusätzliche Einkommen, von dem sie den größeren Teil in ihre Sparbüchse steckte.

***

Eines Abends bei ihrer Schicht in der Bar konn-te Lena es kaum erwarten, Daniel zu sehen.

Nach Feierabend lief sie die Strasse hinunter und erreichte eben noch die letzte Straßen-bahn. Endlich bei seinem Haus angekommen, eilte sie die Treppen zu seiner Wohnung hoch, und schon in der Diele umarmte sie Daniel stürmisch. Sie wolle mit ihm zusammenzie-hen, stieß sie atemlos hervor. Woher dieser plötzliche Sinneswandel? Daniel wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte, nachdem sie sich über Monate hinweg geweigert hatte, eine gemeinsame Wohnung zu nehmen.

***

In dieser Nacht liebten sich Lena und Daniel das erste Mal.

***

Er konnte nicht einschlafen, spielte dauernd mit dem absurden Gedanken, Wachs oder Rotwein auf das Bettlaken zu kleckern. So sehr verlangte ihn nach einem Beweismittel für seine erste große Erfahrung. Spuren dieser stürmischen Liebesnacht wollte er verewigen, und überhaupt wünschte er sich, alles festhal-ten zu können, was mit ihr zu tun hatte. Wäh-rend er sich hin und her wälzte, bemerkte er Lenas friedlichen Gesichtsausdruck im Schlaf. So schob er – aus zärtlicher Rücksicht – sein Vorhaben auf.

***

Daniel hinterließ seinem Vater folgende Notiz:

Hallo Papa. Erinnerst Du dich noch an Lena? Wir haben einmal zusammen Kaffee getrun-ken. An den Geruch von frisch gerösteten Bohnen und an die Behaglichkeit, die du mit Mutter in stillen Stunden immer geteilt hast, erinnere ich mich heute noch gerne. Lena und ich haben einige überraschende Gemeinsam-keiten entdeckt, doch lass mich ein andermal davon erzählen. Ja Vater, mir geht es gut, ich habe mich in sie verliebt. Wir sind ein Paar. Warst du wieder einmal bei Mutter auf dem Friedhof? Nächstes Mal wollen wir zusammen hingehen, ja? Liebe Grüße. Daniel.

***

Seit zwei Stunden ging Lena in der Kunstgalerie an der Avenue Schneider auf und ab. Immer wieder fixierte sie dieses große Gemälde in der permanenten Sammlung zeitgenössischer Kunst. Sie war besessen von dem Bild, rührte sich kaum und tauchte mit ihren Blicken in die vielen Farbschichten der Leinwand ein. Sie kämpfte sich durch die wild angeordneten Pinselstriche, welche die Meereswellen anpeit-schen, kratzte in Gedanken die purpurroten Sonnenstrahlen mit ihren Fingernägeln weg und versuchte sich vorzustellen, was sich hin-ter den Farbstrichen sonst noch alles verbarg. Die Szenerie im Bild zeigte eine sich sonnende Frau vor einem Strandhaus irgendwo an einer

Meeresküste. Die Wellen brachen in unmit-telbarer Nähe in sich zusammen, die Sonne stand hoch und brannte auf den Sandstrand. Die Frau lag auf dem Rücken, ihre linke Hand spielte mit dem grobkörnigen dunkelbraunen Sand. Neben ihr lag ein zerknülltes rotes Ba-detuch, unter dem der Lauf einer Pistole zu sehen war. Lena zog ihre Schuhe aus und setzte sich auf den kühlen Marmorboden. Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht wahrnahm, wie sich eine Besucherin Kopf-schüttelnd über sie ausließ.

***

Daniel sputete die Stufen zum Hauseingang hi-nunter – aus der Nachbarswohnung drang eine ihm bekannte Melodie durchs Treppenhaus:

Là où je vais, d’autres jours et d’autres nuits

Là où je vais, c’est l’éveil après l’ennui

Là où je vais, les gens savent encore donner

Ils veulent d’abord d’éxister

Là où je vais …

***

Jeden Donnerstagnachmittag kaufte sich Daniel ein Ticket zur Kinovorstellung. Hier in diesem kleinen Filmtheater an der Rue du Ciel fühlte er sich wohl, hier suchte er immer wieder Zuflucht vor der drohenden Einsam-keit. Die Bilder aus Zelluloid verkörperten für ihn etwas Vergangenes, etwas nicht Greifbares – bloß nicht die Realität, die ihn im Moment so sehr schmerzte. Daniel hasste diesen See-lenschmerz.

***

Nach fünf Wochen Funkstille fand Daniel eine Ansichtskarte im Briefkasten. Er suchte verge-bens nach einem Gruß oder einer Signatur. Mit flüchtiger Schrift waren auf der Vorderseite ein paar Zeilen hin gekritzelt:

Ich war noch nie in Paris

doch einst

war ich dort

eben nie

nie war ich in Paris

und doch einmal

war ich dort

die Liebespaare rufen:

»Sag niemals nie!«

doch ich war

noch nie in Paris

und doch

nur einmal dort

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***

Ein vergilbter Stadtplan lag auf dem Flurboden, daneben stapelten sich Unmengen von Illus-trierten und Büchern. Aus dem Nebenzimmer schrie eine helle Frauenstimme: »Paris? Was soll ich verdammt nochmal in Paris?«

***

Daniel wollte, konnte aber nicht. Schreien, einfach nur schreien. Loslassen, nicht diesem Schmerz gehören, frei sein. Er stand vor dem übergroßen Schaufenster eines Brautmode-fachgeschäfts und fixierte mit seinem Blick das ausgestellte Hochzeitskleid. Wieder spürte er diesen dumpfen Schmerz, der ihn seit Lenas Verschwinden quälte. Daniel stieß die Laden-türe auf, setzte einen Fuss in die Boutique – doch die nüchternen Blicke der Verkäuferinnen schreckten ihn ab, sodass er schnellstens um die Hausecke verschwand.

***

»Vielleicht«, murmelt Daniel, »vielleicht schweigt sie bloß!«

»Vielleicht schweigt sie bloß«, hallt es durch die Wohnung.

»Vielleicht. Vielleicht schweigt sie bloß!«

***

»Lena. Lena! Lena! Lena! Lena. Lena. Lena!«

***

An diesem sonnigen Morgen durchzog eine schwermütige Stille die Wohnung. Das Mobi-liar schwieg, die Gardinen hingen wie Schul-dige an ihren Stangen und kein Laut vermoch-te von außen nach innen zu dringen. Daniel beobachtete eine Fliege, die in der Küche auf Entdeckungstour war. Er kämpfte mit seinen Gedanken, haderte mit seiner Zukunft: »Wer wird die Dialoge schreiben? Wer wird den Wör-tern nacheifern, sie einzufangen versuchen, mit ihnen spielen, sie formen, laut ausspre-chen und widerhallen lassen? Und wer würde sie lesen, sie studieren, ihnen zu widerspre-chen versuchen? Wer?«

***

»Malochen, malochen. Immer nur malochen, und wenn du nach Hause kommst, ist niemand da! Vielleicht hattest du ja Recht. Ich habe im-mer nur geschuftet und zu wenig Zeit für uns gehabt. Das geht jetzt seit Monaten so!«

***

Ihr Reisegepäck stand noch ungeöffnet in der Diele des Hotelzimmers. Sie wollte Abstand nehmen, nicht an ihn denken. Lena eilte zum Concierge und bestellte ein Taxi. Dem Fahrer drückte sie einen großen Geldschein in die Hand, ließ sich auf den Rücksitz plumpsen

und orderte ihren Wunsch: »Fahren Sie einfach, fahren sie, so lange das Geld reicht. Na los!»

***

Das Taxi verschwand im Labyrinth der Nacht.

***

Auf dem Zimmer gönnte sich Lena eine kalte Dusche. Sie beobachtete ihren Körper, wie er unter den frischen Wasserperlen aufzuwachen begann. Sie dachte an den letzten Kuss, den sie ihm gegeben hatte, als er noch am Schla-fen war. Dann griff sie zu einem Frottiertuch, hüllte sich darin ein und legte sich neben ihren Koffer aufs Bett.

***

Liebe Lena. Über all die Monate habe ich dir nie von meinem Lieblingsgedicht erzählt. Ich wollte es Dir immer vorlesen, habe dann aber doch gezögert. Ich hatte auch nie richtig Zeit für all die kleinen Aufmerksamkeiten. Dieses Gedicht hat mir mein Nachbar geschenkt, als wir über eine Neuerscheinung eines Romans diskutierten. Dabei erzählte er mir von seiner Leidenschaft für Lyrik und konnte sogar ganze Stücke aus dem Stegreif rezitieren. Verblüffend! Leider habe ich mich nie groß mit dem Schrei-ben von Gedichten beschäftigt, aber dieses eine will ich dir nicht vorenthalten. Du findest die Zeilen am Schluss des Briefes. Mein Herz fühlt sich schwer an, ist einsam, meine Sinne sind verwirrt. Manchmal meine ich, es sei Tag und dann ist schon wieder Nacht. Ich wache zu verschiedenen Zeiten auf und frage mich, wo du dich bloß aufhältst. Bekommst Du diesen Brief überhaupt zu lesen? Wer öffnet deine Post? Was ist mit deiner Wohnung? Die Zeilen dieses Gedichts helfen mir, das Alleinsein und die Ungewissheit um dich auszuhalten. Oft höre ich keine innere Stimme mehr, bin taub vor Wut, dann wieder stumm. Dann wiederum höre ich mich reden … ach, ich weiß manch-mal weder aus noch ein. Nein, ich spiele nicht auf der Klaviatur der Gefühle. Ich springe nicht zwischen A-Moll und C-Dur hin und her. Ich könnte schreien und bleibe doch stumm. Ja, am besten schweige ich. Daniel.

Vielleicht wärst du meine Zukunft

und ich finde es nie heraus!

Ich bin müde geworden.

Berge erklimmen mag ich nicht

– nicht mal in meinen kühnsten Träumen.

Ich fühle mich nicht als Versager!

Wenn ich am Piano sitze,

muss ich die Melodie gar nicht

ausspielen.

Ein Tastenschlag genügt,

und dann tu ich so, als wär ich

Beethoven!

***

Lena legt den Brief zur Seite und knipst die Nachttischlampe aus. Daniel hält einen kurzen Moment lang inne und dreht sich zur Seite. Lena schließt ihre Augen; das Surren des De-ckenventilators betäubt ihre Erinnerung. Sie genießt den Moment dieser friedlichen Stille.

***

Daniel träumt nicht mehr. Er hat sich das Träu-men abgeschworen.

***

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PHILOSOPHIE GESELLSCHAFT

Über tote Beziehungen, Friedhöfe und die TotenweltWer selber quietsch lebendig ist und mit dem Thema Tod konfrontiert wird, hat Relikte in der Seele, die es zu verarbeiten gilt. Aber ohne Eile bitte. Zeit dafür ist reichlich vorhanden. Die Seele ist nämlich unvergänglich. Der Tod ist lediglich für den Körper Endstation. Von Hannes Kriesi

Im Herbst ist es schön auf dem Friedhof. Dann gibt es dort Birken mit grünlichen Stämmen und fahlgelben Blättern, leucht-

ende Feuerbüsche und knorrige Kastanien, die bereits ohne Blattwerk am Wegrand stehen. Laub in allen Farben liegt dann auf den Kies-wegen und es rauscht und raschelt, wenn man darüber schreitet. Die Herbstsonne taucht die Grabsteine in ein mildes Licht. Irgendwie passt diese Jahreszeit zum Friedhof. Dafür sprechen auch die vielen Besucher, die es dann auf dem Friedhof gibt.

Ob man als Besucher oder als Dauergast auf den Friedhof geht, macht einen Unterschied. Für einen Spaziergänger hat der Friedhof eine andere Bedeutung als für jemanden, der an ein Ende seines irdischen Lebensweges gelangt ist. Um den Schleier zu lüften, der um den Fried-hof weht, soll zuerst die Bedeutung des Todes (aus einer seelischen Perspektive) abgehandelt werden.

Einem lebendigen Menschen tritt der Tod dann entgegen, wenn etwas in ihm seelisch abgestorben ist. Man nehme als Beispiel eine junge Frau, die sich im letzten Semester ihres Studiums befindet. Ihr Name sei Regula. Ihre Zeit im Hörsaal ist bald zu Ende, das Mensaes-sen fast überstanden, die letzte Studentenparty demnächst vorüber. Die jeweiligen seelischen Bildspeicher sind fast leer. Würde man diese Bildspeicher mit lebendigen Wesen verglei-chen, z.B. mit Tieren, dann stünden diese Tiere jetzt kurz vor der Schwelle zum Jenseits. Wer eine Weile später in die Seele von Regula schauen könnte, sähe Tierleichen.

Ist Regula achtsam, dann sieht sie vielleicht nach der letzten Vorlesung eine tote Ratte im Strassengraben liegen. Nach dem letzten Essen in der Mensa könnte sie einen überfahrenen Hund zu Gesicht bekommen. Oder nach der letzten Party mit den Kommilitonen sähe sie eine sterbende Amsel. Der Tod eines Tieres

gelangt ins Blickfeld der jungen Dame, um ihr ins Bewusstsein zu bringen, dass die Bildpha-senspeicher geleert sind. Die Phase, die dem Prinzip des toten Tiers entspricht, ist zu Ende. Wäre Regula in der Lage, die Bilder zu „lesen“, wüsste sie beim Anblick der toten Ratte, dass die Zeit im Hörsaal zu Ende ist und abgeschlos-sen werden sollte.

Der Tod könnte Regula auch in einem ande-ren Kleid entgegentreten. Vielleicht erzählte ihr eine Freundin vom Ableben eines Schmuseka-ters, oder Regula sähe einen Tierbestatter. Bis die Verarbeitung der Uni-Zeit vollumfänglich stattgefunden hat, wird die junge Dame immer wieder mit dem Tod von Tieren konfrontiert, wenn die Überresten dieser Uni-Phasen ins Bewusstsein gelangen. Die Seele lässt dadurch ausrichten, dass sich ein prinzipielles Kadaver oder zumindest noch einige prinzipielle Knö-chelchen oder Fellresten aus dieser Zeit in den Seeelengründen befinden.

Regula kann diese Konfrontationen mit Tier-kadavern vermeiden, wenn sie Fleisch isst. Sie muss dann nicht von Zeit zu Zeit ganze Kadaver zu Gesicht bekommen, sondern sie verspeist ganz einfach die besten Stücke davon. Schön angerichtet, auf einem Teller mit Rosenkohl, Bratkartoffeln und unter eines sämigen Sau-ce, ist es Regula vielleicht gar nicht immer be-wusst, dass es sich beim Kalbsgeschnetzelten um Teile eines Tierkadavers handelt. So gut das Menu schmecken mag: Das Kauen und Schlu-cken von totem Fleisch entspricht aus einer seelischen Perspektive einer äusserst inten-siven Auseinandersetzung mit Tierkadavern. Um ein solches Essverhalten ins rechte Licht zu rücken, soll zuerst ein Grundsatz (aus ei-ner seelischen Perspektive) formuliert werden, weshalb der Mensch bestimmte Nahrungsmit-tel (in bestimmten Mengen) konsumiert. Die Ernährung ist eine Frage des Bewusstseins. Und dieses wird von der Seele gespeist. Ein Mensch nimmt also Speisen zu sich, die den

Potentialen entsprechen, die sich in seinen Seelenwelten befinden. Die Potentiale in der Seele ziehen wie magnetisch entsprechende physische Erscheinungen an und umgekehrt. So, wie ein Mensch, der von einem Krokodil gefressen wird, eine prinzipielle Entsprechung zum Krokodil hat, so hat ein Mensch, der Kalb-fleisch isst, eine prinzipielle Entsprechung zu totem Kalb.

Zu den Menschen: Sind es Beziehungen mit lebendigen Menschen, die zu Ende gegangen sind, wird man mit dem menschlichen Tod konfrontiert. Man liest Todesanzeigen, hört von Todesfällen oder sieht Leichen. Bleiben wir bei Regula. Einige Jahre nach ihrem Abschluss an der Uni hat sie sich von ihrer besten Jugend-freundin Karmela entfernt und sieht sie immer seltener. Und wenn sich die beiden sehen, ist es nicht mehr so, wie es früher mal war. Die Beziehung der beiden Jugendfreundinnen ist an ein Ende gekommen, weil die seelischen Bildspeicher, aus welchen sich gemeinsame Erlebniswelten ergossen haben, geleert sind. In dieser Ablösephase liest Regula immer wieder die Seite mit den Todesanzeigen in der Zeitung. Diese Beschäftigung mit dem Tod soll Regula ins Bewusstsein bringen, dass das lebendige Wesen, das für die Dynamik in der Beziehung verantwortlich war, gestorben ist. Es gibt nur noch einen seelischen Leichnam.

Je länger das Ende einer Beziehung nicht ins Bewusstsein gelangt, desto intensiver wird die Begegnung mit dem Tod. Nehmen wir an, Re-gula und Karmela halten an ihrer Freundschaft fest. Sie nehmen die Beziehungsflaute gelassen und verbringen einfach den grössten Teil ihrer Treffen schweigend oder kauen immer wieder dieselben Geschichten durch. Und so werden ihre Begegnungen oder Auseinandersetzungen mit dem menschlichen Tod von Jahr zu Jahr intensiver.

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Die Chance, die die beiden Damen haben, dem Beziehungstod zu entrinnen, ist seelisches Wachstum. Prinzipien beinhalten Ebenen, die stufenweise erklommen werden können (und sollen). Auf jeder Ebene manifestiert sich ein Prinzip durch andere Erlebniswelten. Durch ein gemeinsames Wachstum liesse sich so die Beziehung von Regula und Karmela erneuern. Auf einer neuen Ebene stünden neue Welten bereit, die für neue Erlebnisse und frischen Gesprächsstoff sorgen würden.

Die Sache verhält sich anders, wenn eine Be-ziehung zu Ende gegangen ist, weil jemand physisch gestorben ist. Ein gemeinsames Wachstum und gemeinsame Erlebniswelten sind dann (zumindest für dieses irdische Le-ben) ausgeschlossen. Die Beziehung mit die-sem Menschen ist zu Ende. Und je näher einem die gestorbene Person stand, desto grösser ist die Bedeutung dieses Todes. Aus einer prinzi-piellen Sichtweise ist das abgeschlossen, was einem mit dem Toten verband.

Und so sind Konfrontationen mit dem (menschlichen) Tod Hinweise für anstehende Phasen der Verarbeitung, Klärung und des Los-lassens. Gemeinsame Zeiten und Erlebnissen sollten verarbeitet werden. Falls noch Schul-den, Streitereien oder andere Zwiste ungeklärt sein sollten, hätte eine Klärung noch zu ge-schehen. Geschieht keine Klärung, dauert es einfach länger, bis der Beziehungskadaver ver-arbeitet und abgebaut ist und es begegnen dem Menschen halt immer wieder Leichen oder es zieht ihn wie magnetisch auf den Friedhof, den Ort, wo das Verwesende Erscheinung wird. Auf einem solchen Gang mitten durch Grabsteine, Blumen und Kreuze können dem Menschen die Relikte aus abgestorbenen Beziehungen und Erlebniswelten ins Bewusstsein gelangen.

Besucht jemand regelmässig ein Grab, scheint es klar, welche Beziehung zu Ende gegangen ist. Jene mit dem Toten natürlich. Es geht dann aus einer seelischen Perspektive um die Person und besonders um die gemeinsamen Erleb-niswelten. Wenn aber gar niemand leiblich gestorben ist, wie erkennt man, welche Bezie-hung gemeint ist? Kann man bei einem Fried-hofbesuch erkennen, welche Beziehungs- und Erlebniskadaver innerlich abgestorben und am verwesen sind? Weisen die Gedanken, die bei einem solchen Friedhofbesuch aufsteigen, da-rauf hin? Oder liesse es sich an den Bildern ab-lesen, die einem auf dem Friedhof begegnen?

Das Prinzip des FriedhofsPrinzipiell betrachtet entspricht der Friedhof einem Tor in die Unterwelt. Einige alte Grie-chen nannten diese Unterwelt Hades. Dieser Hades ist der Ort, wo man die Seelenschatten (das seelisch Unbereinigte) auslebt. Um denke-risch in diesen Ort einzudringen, müssen zwei

Unterscheidungen getroffen werden. Erstens zwischen Lebendigen und Toten und zweitens zwischen Seele und Körper.

Für einen lebendigen Menschen kann sich die Unterwelt auf der Erde manifestieren. Ist jemand seelisch noch nicht ganz ausgegoren, muss er diese unreifen seelischen Potentiale bei lebendigem Leibe vollziehen. Dies ge-schieht an typischen Unterwelts-Orten und mit Menschen, die eine unbereinigte seelische Entsprechung haben.

Die Unterwelt existiert aber auch für Tote. Es lässt sich vermuten, dass diejenigen, die nach dem Tod einen Aufenthalt in der Unterwelt an-treten müssen, auf der irdischen Welt ihre See-lenschatten nicht oder nicht vollumfänglich los geworden sind. Diese Seelen gelangen dann nach dem Tod ihres Körpers in den Hades, wo sie ihre seelischen Schattenseiten abdienen und loswerden können. Es soll Leute geben, die über solche nachtodlichen Zustände zu erzäh-len wissen. Sind diese verrückt? Nicht, wenn davon ausgegangen wird, dass der Mensch aus mehr als aus einem Körper besteht. Angenom-men, der Mensch besteht aus Geist, Seele und Körper. Was geschieht dann mit Geist und See-le nach dem physischen Tod? Sterben sie mit dem Körper? Oder könnte eine verirrte Seele nach dem Tod des Körpers in ein Stockwerk der Unterwelt wandern, damit sie sich läutern und reinigen kann? Wohin sollte eine verirrte Seele sonst gelangen als an einen Ort, wo sie ihre Schatten loswerden und sich wieder neu orientieren kann?

In der Literatur findet man verschiedene Be-schreibungen der Unterwelt. Bei Dante gibt es dort einen Höllenbereich, den er als abgestuf-ten Trichter beschreibt. Je tiefer unten jemand büsst, desto wüster hat er es auf Erden getrie-ben. Mit der Hölle ist auch der Läuterungs-berg entstanden, der einem abgestuften Kegel gleicht. Dieser Berg ist ein Zwischenreich auf dem Weg ins Paradies. Wie in der Hölle müs-sen auch auf dem Läuterungsberg stufenweise die schlechten Gewohnheiten wie Lüsternheit, Zorn oder Geiz abgelegt werden.

Es könnte durchaus möglich sein, dass je un-ausgegorenen und unausgereifter eine Seele ist, desto länger und tiefer sie nach dem Tod in einen Bereich der Unterwelt steigen muss. Ein solcher Zustand wäre selbstverständlich nicht mehr physisch zu verstehen. Für einen Schriftsteller wie Dante lag es trotzdem auf der Hand, solche Welten physisch-bildhaft zu beschreiben. Wie hätten er es sonst tun sollen? Ein sprachlicher Ausdruck auf einer metaphy-sischen Ebene ist enorm schwierig und falls eine stimmige Beschreibung gelänge, wäre sie für einen Erdenbürger (intellektuell) kaum nachvollziehbar. Prinzipielle Inhalte lassen sich halt am besten durch (physische) Bilder

beschreiben und vermitteln. Natürlich besteht dabei die Gefahr, dass die Prinzipien irgend-wann in Vergessenheit geraten und nur noch die Bilder in Erinnerung bleiben.

Wie auch immer es zu und hergehen mag in der Unterwelt, aus einer seelischen Perspektive je-denfalls ist der Tod ein Tor in eine andere Welt. Die Seele schlüpft durch dieses Tor, und der Körper bleibt noch für eine Weile auf der Erde. Am verwesenden Körper lässt sich noch able-sen, wie weit eine Seele vorangekommen ist. Je mehr eine Seele in ihrem irdischen Dasein geklärt hat, desto schneller müsste der Körper verwesen, weil sich darin weniger Rückstände manifestieren. Es hätte quasi weniger saure Niederschläge im Körper, die sich nur langsam abbauen. So müsste theoretisch der Körper ei-ner reinen Seele gar nicht physisch begraben werden, weil er mit seinem Tod entschwinden würde.

Zum Schluss eine Theorie: Die Unterwelt könnte eine Auslagerungswelt sein. Genau wie die Welt bereits eine Auslagerungswelt sein könnte. Ursprung wäre ein geistiger Sünden-fall. Verirrte, geistige Wesen, die das Urprinzip nicht mehr oder nicht mehr genügend berück-sichtigten. Diese Entgleisungen mussten auf einer anderen Ebene abgedient werden. Die Welt verfestigte sich zu diesem Zweck. Aber trotz allem Leid und Schmerz in den weltlichen Niederungen wurde vielen Erdenbürgern wie-der nicht bewusst, dass sie sich in höhere Prin-zipien einfügen sollten. Es musste eine neue Auslagerungswelt her – die Unterwelt – wo die irdischen Verirrungen abgedient werden konnten.

Bezeichnenderweise ist der Pluto, der (stellver-tretend) für das Prinzip der Unterwelt am Him-mel erscheint, der äusserste Planet des Son-nensystems. Auch wurde er als letzter Planet entdeckt. Dies geschah übrigens zu Zeiten der Französischen Revolution. Prinzipiell betrach-tet haben damals Horden von unreifen Seelen, die eigentlich zuerst hätten wachsen und reifen müssen, die Macht im Staate übernommen. Die Welt wurde seither im Schnellzugstempo ausgebeutet, um die Ansprüche dieser Horden zu befriedigen. Wenn es aber eine Prinzipien-hierarchie gibt und die Unterwelt an tiefster Stelle dieser Hierarchie steht, konnte diese Machtübernahme nicht lange gut gehen. Nach der Wiederherstellung der alten Ordnung wird es dann darum gehen, das Leben wieder nach den höheren Prinzipien auszurichten.

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IMPRESSUM

Herausgeber: Hannes Kriesi

6. Ausgabe / 2013

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FotografiePhilipp Rohner

DruckOK Digitaldruck AG, 8005 Zürich

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