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NOMOS ISSN 0946-7165 2/2009 16. Jahrgang Heft 2 Dezember 2009 Hrsg. im Auftrag der Sektion Internationale Politik der DVPW Zeitschrift für Internationale Beziehungen Aus dem Inhalt Thorsten Benner/Stephan Mergenthaler/Philipp Rotmann Internationale Bürokratien und Organisationslernen Konturen einer Forschungsagenda Martin Nonhoff/Jennifer Gronau/Frank Nullmeier/ Steffen Schneider Zur Politisierung internationaler Institutionen Der Fall G8 Christian Grobe Wie billig ist Reden wirklich? Kommunikative vs. strategische Rationalität in einem experimentellen Diktatorspiel Symposium Die Finanzkrise als Herausforderung für die internationale Ordnung Mit Beiträgen von Marieke de Goede, Stefan A. Schirm, Jens van Scherpenberg, Christoph Scherrer, Rolf J. Langhammer

165 Zeitschrift für 2/2009 Internationale Zeitschrift für ... · in den Social Science Citation Index aufgenommen zu werden, nachdem ein erster Antrag 2004 gescheitert war. Die

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Nomos

IssN 0946-7165

2/200916. Jahrgang

Heft 2Dezember 2009

Hrsg. im Auftrag der sektion Internationale Politik der DVPW

Zeitschrift für Internationale Beziehungen

Aus dem InhaltThorsten Benner/Stephan Mergenthaler/Philipp RotmannInternationale Bürokratien und organisationslernenKonturen einer Forschungsagenda

Martin Nonhoff/Jennifer Gronau/Frank Nullmeier/ Steffen SchneiderZur Politisierung internationaler Institutionen Der Fall G8

Christian GrobeWie billig ist Reden wirklich?Kommunikative vs. strategische Rationalität in einem experimentellen Diktatorspiel

symposiumDie Finanzkrise als Herausforderung für die internationale ordnungMit Beiträgen von Marieke de Goede, Stefan A. Schirm, Jens van Scherpenberg, Christoph Scherrer, Rolf J. Langhammer

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INHALT

Christopher DaaseEditorial ........................................................................................ 199

AUFSÄTZE

Thorsten Benner/Stephan Mergenthaler/Philipp RotmannInternationale Bürokratien und OrganisationslernenKonturen einer Forschungsagenda ........................................................ 203

Martin Nonhoff/Jennifer Gronau/Frank Nullmeier/Steffen SchneiderZur Politisierung internationaler InstitutionenDer Fall G8 ..................................................................................... 237

Christian GrobeWie billig ist Reden wirklich?Kommunikative vs. strategische Rationalität in einem experimentellen Dikta-torspiel ........................................................................................... 269

SYMPOSIUMDie Finanzkrise als Herausforderung für die internationale Ordnung

Marieke de GoedeFinance and the ExcessThe Politics of Visibility in the Credit Crisis ........................................... 299

Stefan A. SchirmKoordinierte Weltwirtschaft?Neue Regeln für effizientere und legitimere Märkte .................................. 311

Jens van ScherpenbergFinanzkapital, Finanzkrise und internationale Staatenkonkurrenz . . . . . . . . 325

Christoph ScherrerDas Finanzkapital verteidigt seinen Platz in der weltwirtschaftlichen Ord-nung ............................................................................................ 339

Rolf J. LanghammerDie Finanzkrise als Herausforderung für die internationale Ordnung . . . . . 355

Mitteilungen der Sektion .................................................................. 363

Abstracts ....................................................................................... 367

Autorinnen und Autoren dieses Heftes ............................................... 371

Jahresregister 2009 ........................................................................ 373

ZIB 2/2009 197

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Christopher Daase

Editorial

Mit diesem Heft endet meine geschäftsführende Herausgeberschaft der Zeitschrift fürInternationale Beziehungen an der Universität München. Mit dem Neuen Jahr 2010übernehmen Carlo Masala und Stephan Stetter diese Aufgabe und die Redaktion gehtan die Universität der Bundeswehr München in Neubiberg. Das gibt mir Gelegenheit,kurz auf die letzten fünf Jahre und die Entwicklung der ZIB zurückzublicken.

Ich glaube, wir haben fünf erfolgreiche Jahre der ZIB hinter uns, obwohl die Arbeitder Redaktion in München nicht leicht gemacht wurde. Die Ludwig-Maximilians-Universität hatte die Zusage für eine viertel Mitarbeiterstelle für einen Redakteurnämlich nicht eingehalten, wodurch auch die Zusage des Wissenschaftsministeriumsfür eine weitere viertel Stelle hinfällig wurde. Soviel zum Thema »Elite-Universität«.Wir haben deshalb die Redaktionsarbeit finanziell und personell weitgehend aus Mit-teln des Lehrstuhls Internationale Politik bestreiten müssen. Ohne den großen Einsatzmeiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wäre dies nicht möglich gewesen. Deshalbgilt mein größter Dank zunächst den drei studentischen Hilfskräften, die nacheinanderdie Leitung der Redaktion übernommen haben: Sebastian Schindler, Alexander Hepptund Steven Wakat. Darüber hinaus sind die Wissenschaftlichen Assistenten des Lehr-stuhls, Rainer Hülsse und Stefan Engert, zu nennen, meine Mitarbeiterinnen AnnaFrazier und Maria Birnbaum sowie als externes Redaktionsmitglied Dieter Kerwer.Sie alle wirkten unermüdlich bei der Betreuung der Manuskripte von der Einreichungüber die Begutachtung, das Korrespondieren mit den Autorinnen und Autoren, dasRedigieren bis zur Fahnenkorrektur mit und machten die Redaktionsarbeit zu einerspannenden, lehrreichen und nicht selten unterhaltsamen Arbeit. Ihnen allen gilt meingroßer Dank. Darüber hinaus ist dem Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissen-schaft zu danken, das zweimal mit jeweils 5.000 Euro aus den drängendsten Finanz-nöten half.

Mit dem Nomos-Verlag haben wir stets vertrauensvoll und produktiv zusammen-gearbeitet. Hier gilt mein Dank insbesondere Andreas Beierwaltes. Im Jahr 2007handelten wir einen neuen Herausgebervertrag aus, der die Zusammenarbeit nach demAuslaufen der DFG-Förderung neu regelte. Neben der Schriftleitungspauschale von3.000 Euro, die der Verlag der Redaktion jährlich überweist, betrifft die wichtigsteNeuerung den Internetauftritt der ZIB. Mittlerweile gibt es zwei Plattformen, die beidevom Verlag betrieben werden (www.zib-online.info und www.nomos-zeitschrif-ten.de), von denen Ausgaben der ZIB im Volltext abgerufen werden können. MitErscheinen eines neuen Heftes werden auf zwei Beiträge sofort frei zugänglich ge-macht. Nach vier Jahren ist das gesamte Heft kostenfrei abrufbar. Und bereits nacheinem Jahr kann der Autor oder die Autorin vom Verlag eine PDF-Version des eige-nen Beitrags erhalten und über die eigene Homepage zugänglich machen.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen16. Jg. (2009) Heft 2, S. 199 – 201

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Die Manuskriptlage ist von 2005 bis 2009 auf relativ hohem Niveau (zwischen 29und 35 Einreichungen pro Jahr) stabil geblieben. Von 142 insgesamt betreuten Ma-nuskripten sind nach einem Vorgutachten und einer Diskussion im Redaktionsgre-mium 34 als formal fehlerhaft oder chancenlos befunden worden und erhielten eineinterne Ablehnung. Von den 108 ins externe Begutachtungsverfahren eingespeistenManuskripten erhielten nach der ersten Runde 45 und nach der zweiten 18 Manu-skripte eine Publikationszusage. Insgesamt wurden somit 63 Einreichungen veröf-fentlicht. Dies ergibt eine Publikationsquote von 51 %. Bei diesen Zahlen sind aller-dings alle Einreichungen, auch Forums- und Symposiumsbeiträge sowieTagungsberichte berücksichtigt. Von den eingereichten 100 Aufsätzen wurden hin-gegen nur 26 veröffentlicht. Dies belegt, dass die qualitative Messlatte für das »Kern-geschäft« der ZIB, die wissenschaftlichen Aufsätze, nach wie vor relativ hoch liegt.Nicht umsonst wurde die ZIB von den Mitgliedern der DVPW – laut einer Umfrage,die in der jüngsten Ausgabe der PVS erschien – als beste deutsche politikwissen-schaftliche Zeitschrift bewertet.

Diese hohe Qualität ist nicht zuletzt auf das Gutachterverfahren zurückzuführen,das sich auch in den letzten fünf Jahren bewährt hat. Hinsichtlich der Ablehnungs-quote bei Gutachtenanfragen waren wir zwar zwischenzeitlich etwas besorgt, stehenaber letztlich mit durchschnittlich 26 % abgelehnten Anfragen nicht so schlecht da.Um neue Kolleginnen und Kollegen für das review panel der ZIB zu gewinnen, habenwir die Möglichkeit geschaffen, sich mit Kontaktdaten und Arbeitsschwerpunktenunter http://www.zib.intranet.gsi.uni-muenchen.de/registrierung/form.html als ZIB-Gutachter oder Gutachterin zu registrieren. Im letzten Jahr konnten auf diese Weise20 % neue Gutachter und Gutachterinnen gewonnen werden. Allen, die diese wichtigeArbeit auf sich genommen haben, sei hier noch einmal ausdrücklich gedankt.

Auch inhaltlich haben wir in den letzten fünf Jahren einige Akzente setzen können.Mit den ZIB-Foren konnte die Debatte zu unterschiedlichen Problemen der interna-tionalen Politik innerhalb der Disziplin und über die Disziplinengrenzen hinweg an-geregt werden. Der Ausbau und die kontinuierliche Organisation von ZIB-Symposienim Rahmen von Tagungen und Kongressen hat die ZIB einem breiteren Publikumbekannt gemacht und bot die Gelegenheit, auf aktuelle Entwicklungen – wie zuletztauf die Finanzkrise – reagieren zu können. Die Beiträge des Symposiums im Rahmendes DVPW-Kongresses in Kiel vom September 2009 sind bereits in diesem Heftdokumentiert. Darüber hinaus haben wir zwei Veranstaltungen auf den Jahreskon-gressen der International Studies Association (ISA), 2008 in San Francisco und 2009in New York, organisiert, auf denen unter dem Titel »Writing Foreign« das Problemnicht-englischsprachigen Schreibens und Publizierens diskutiert wurde. Dadurch istdie ZIB auch einem internationalen Publikum näher gebracht worden. In diesem Zu-sammenhang sollte auch erwähnt werden, dass wir einen neuen Antrag gestellt haben,in den Social Science Citation Index aufgenommen zu werden, nachdem ein ersterAntrag 2004 gescheitert war.

Die Vielfalt der methodischen Zugänge und theoretischen Orientierungen der pu-blizierten Artikel ist in den letzten Jahren noch größer geworden. Die ZIB deckt heutedie ganze Breite der Internationalen Beziehungen ab. Sie ist das zentrale Publikati-

Editorial

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onsorgan der deutschen IB-community. Ich bin froh, dass die Herausgeber in Ab-stimmung mit dem Vorstand der Sektion Internationale Politik der DVPW zwei neuegeschäftsführende Herausgeber gefunden haben. Schon das nächste Heft 1/2010 wirdunter der Regie von Carlo Masala und Stephan Stetter erscheinen. Ich wünsche ihnenalles Gute und viel Erfolg für die kommenden Jahre.

Editorial

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Thorsten Benner/Stephan Mergenthaler/Philipp Rotmann

Internationale Bürokratien und OrganisationslernenKonturen einer Forschungsagenda

Der Beitrag ist forschungsprogrammatischer Natur und skizziert die Konturen einerForschungsagenda, die sich eines in der IB in den letzten beiden Jahrzehnten weit-gehend vernachlässigten Gegenstandsbereichs annimmt: internationalen Bürokrati-en. Der erste Teil identifiziert elf Forschungsfelder: interne Struktur, Führung, In-teraktion mit den Mitgliedsstaaten, interorganisationale Beziehungen, Einbindung inneue Formen von Governance, Autorität/Einfluss, Rechenschaft/Legitimität, Wir-kung/Evaluierung, institutionelles Design, Reform/Wandel und Lernen. Der zweiteTeil illustriert die Umsetzung der Agenda anhand eines der zentralen Forschungs-themen: Organisationslernen in internationalen Bürokratien. Der dritte Teil disku-tiert Desiderata zur besseren Einbettung der postulierten Forschungsagenda in dieDisziplin IB.

Warum eine Forschungsagenda zu Internationalen Bürokratien?1

Internationale Bürokratien sind zentrale Akteure im globalen Regieren. Ihre Zahl undFunktionen sind in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen. Von Entwicklungszu-sammenarbeit und Nichtverbreitung von Nuklearwaffen bis zu Klimaschutz, huma-nitärer Hilfe und Staatsaufbau in Konfliktzonen: in allen zentralen Feldern der Welt-politik werden internationale Bürokratien von Staaten mit immer komplexerenMandaten betraut. Wie effektiv und verantwortlich internationale Bürokratien dieseMandate erfüllen, beeinflusst das Leben (und oft genug das Überleben) von Millionenvon Menschen in direkter Weise. Im Zuge der Politisierung der Arbeit internationalerInstitutionen nach dem Ende des Kalten Krieges rücken internationale Bürokratienimmer mehr in den Fokus der öffentlichen Debatte, in der ihre Effektivität und Le-gitimität kritisch beleuchtet werden (Ecker-Ehrhardt/Zürn 2007).

1.

1 Herzlichen Dank an die anonymen Gutachter der ZIB sowie an Ariane Berthoin Antal,Michael W. Bauer, Andrea Binder, Martin Binder, Klaus Dingwerth, Hannes Ebert, DieterKerwer, Oliver Krentz, Andrea Liese, Mitja Müller, Bernd Siebenhüner, Joshua Tartakovskyund Jan Martin Witte sowie den Teilnehmern des Kolloquiums der Abteilung TransnationaleKonflikte und Internationale Institutionen am Wissenschaftszentrum Berlin für Kommentareund Verbesserungsvorschläge. Frühere Versionen des Artikels wurden auf der IB-Sektionstagung am 14. Juli 2007 in Darmstadt sowie auf der Tagung »InternationaleBeziehungen und Organisationsforschung: Stand und Perspektiven« am 18./19. September2008 in München vorgestellt. Erste Ideen zum Thema Organisationslernen haben wir aufeinem gemeinsamen WZB/GPPi-Workshop am 23. April 2007 in Berlin entwickelt. Wirdanken der Deutschen Stiftung Friedensforschung (insbesondere Thomas Held und VolkerRittberger) für die großzügige Unterstützung der Forschungsarbeit im Rahmen des Projektes»Learning to Build Peace? UN Peace Operations and Organizational Learning«, in dessenKontext der vorliegende Beitrag entstanden ist.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen16. Jg. (2009) Heft 2, S. 203 – 236

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Angesichts ihrer Bedeutung und Umstrittenheit ist es verwunderlich, wie wenig wirüber die Arbeitsweise dieser Bürokratien wissen. Die Berichterstattung in den Medienist selten nuanciert und tiefgehend. In der Forschung haben internationale Bürokra-tien2 in den letzten Jahrzehnten bestenfalls eine Randexistenz geführt. Dies trifft aufalle Disziplinen zu, die den Wissensstand zu internationalen Bürokratien voranbrin-gen könnten: Recht, Geschichte, Sozialanthropologie, Sozialpsychologie, Organisa-tionssoziologie, öffentliche Verwaltung und Politik.3

Inmitten dieses kollektiven wissenschaftlichen Schweigens ist vielleicht die größteEnttäuschung, dass die Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) keinen solidenBeitrag zur Erforschung dieser Bürokratien geleistet hat. Dies ist ein durchaus über-raschender Befund, sollten doch internationale Bürokratien im Zentrum der Auf-merksamkeit einer Disziplin stehen, in der »Institutionalisten« (ob mit rationalisti-schem, konstruktivistischem oder anderem Einschlag) eine dominante Rolle spielen.Doch hat die IB das Erforschen formeller internationaler Organisationen (und damitauch internationaler Bürokratien) in den frühen 1970er Jahren aufgegeben. Währendder Hochzeit der Forschung zu internationalen Regimen in den 1980ern und frühen1990er Jahren hatte die IB-Forschung (in den Worten von Susan Strange) nur ein»großes Gähnen« für internationale Organisationen übrig (Susan Strange, zitiert nachBarnett/Finnemore 2004: iv). Diese Gleichgültigkeit war teilweise das Resultat der»offenkundigen Irrelevanz formeller internationaler Organisationen« (Martin/Sim-mons 2002: 193) während des Kalten Krieges.4 Wie Friedrich Kratochwil und JohnG. Ruggie in ihrer Forschungsübersicht aus dem Jahre 1986 treffend bemerken: »Stu-dents of international organization have shifted their focus systematically away from

2 Der Begriff »internationale Bürokratien« und »Sekretariate« wird bedeutungsgleich ver-wandt.

3 So ist es wenig verwunderlich, dass zwei der informativsten Einblicke in das Innenleben vonWeltbank und UN-Sekretariat in Buchform von Journalisten verfasst wurden: SebastianMallabys The World's Banker (Mallaby 2004) and James Traubs The Best Intentions: KofiAnnan and the UN in the Era of American World Power (Traub 2006).

4 Zitiert nach Barnett und Finnemore (2004: viii). Rochester (1986) und Verbeek (1998) habenfrüh die Vernachlässigung internationaler Organisationen kritisiert. Selbstverständlich hat esin den letzten Jahren weiterhin eine Beschäftigung mit internationalen Organisationen imRahmen der Politikwissenschaft gegeben, jedoch nur in beschränktem Umfang und zum al-lergrößten Teil außerhalb der Disziplin IB, welche die deskriptiven und konzeptionell wenigambitionierten Arbeiten zu internationalen Organisationen als rein politikkundlich, nicht alspolitikwissenschaftlich einstuft. Im Rahmen der deutschen IB ist es bemerkenswert, dass einetheoretisch informierte Einführung in die Untersuchung internationaler Organisationen wiedie von Rittberger und Zangl (1994) keine Weiterentwicklung der Forschung in den IB be-förderte. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass ein Sammelband zum Forschungsstand inden deutschen IB aus dem Jahre 2003 kein einziges Kapitel zum Thema »Internationale Or-ganisationen« enthält (Hellmann et al. 2003). Das Kapitel zum Thema »Internationale Regimeund Institutionen« beschränkt sich auf die Regimeforschung und unternimmt keinerlei Aus-flüge in die Gefilde der internationalen Organisationen (Sprinz 2003). Auf US-Seite nehmenMartin und Simmons in ihrem Kapitel zu »International Organizations and Institutions« imHandbook of International Relations eine leicht andere Sichtweise ein: »Formal organizationsremain an important focus of research, especially in the post-cold War setting« (Martin/Sim-mons 2002: 193). Allerdings sagt der Forschungsüberblick von Martin und Simmons sehrwenig über internationale Organisationen als Organisationen.

Aufsätze

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international institutions, toward broader forms of international institutionalized be-haviour« (Kratochwil/Ruggie 1986: 753f).

Dieser Trend setzte sich in den 1990er Jahren fort, obwohl internationale Organi-sationen als Eckpfeiler einer »neuen Weltordnung« nach Ende des Kalten Kriegesgehandelt wurden und Mitgliedsstaaten internationale Bürokratien mit immer brei-teren und komplexeren Mandaten konfrontierten. Die Disziplin IB hingegen wandtesich im Rahmen der Diskussion um globales Regieren (Global Governance) seit Mitteder 1990er Jahre verstärkt transnationalen Netzwerken und öffentlich-privaten Part-nerschaften zu (Zürn 1998; Slaughter 2004; Börzel/Risse 2005; Benner et al. 2004).Diese institutionellen Neuerungen sind zweifelsohne fruchtbare Studienobjekte. Je-doch bleibt unser Verständnis von Global Governance ohne die Einbeziehung for-meller internationaler Organisationen unvollständig – zumal internationale Bürokra-tien in vielen »neuen Formen des Regierens« (Witte/Reinicke 2005) wichtige Rollenspielen. Lisa Martin und Beth Simmons bringen einen verbreiteten Irrtum auf denPunkt: »vieles dessen, was interessant ist an Weltpolitik […] zwischen stark interde-pendenten Akteuren, [schien] jenseits des Einflussbereichs formaler zwischenstaat-licher Organisationen stattzufinden« (Martin/Simmons 2002: 204). Diese Feststel-lung lässt sich nicht halten. Sicherlich: Globales Regieren umfasst starkinterdependente Akteure, sowohl öffentlich wie privat und geht über klassisch zwi-schenstaatliche Formen hinaus. Jedoch spielen in den meisten der zentralen Mecha-nismen globalen Regierens – ob in den Bereichen Sicherheit, politische Ökonomieoder nachhaltige Entwicklung – formelle internationale Organisationen, und mit ih-nen Bürokratien, eine zentrale Rolle. Die »Dinosaurier« der Nachkriegsordnung sindalles andere als vom Aussterben bedroht. Auf absehbare Zeit werden sie weiterhindas Parkett der Weltpolitik bevölkern. Ob sie dies als ineffektive Zombies aus einervergangenen Zeit oder als effektive Motoren für zukunftsweisendes globales Regie-ren tun, hängt nicht zuletzt von den Entscheidungen der politisch Verantwortlichenin Mitgliedsstaaten und den internationalen Bürokratien ab. Gegenwärtig kann die IBEntscheidungsträgern kaum solide Forschungsergebnisse als Informationsgrundlagean die Hand geben. Dies sollte Grund zur Sorge für all diejenigen sein, die von IB alsDisziplin erwarten, einen Beitrag zur Verbesserung der Effektivität und Verantwort-lichkeit globalen Regierens zu leisten. Selbst diejenigen IB-Forscher, die keine Am-bitionen oder Illusionen von Praxisrelevanz hegen, sollten alarmiert sein, versäumtes die IB doch gegenwärtig, das Wirken internationaler Bürokratien als einen zen-tralen Aspekt der Weltpolitik zu erklären.

Die Konsequenz ist klar: Es gibt einen hohen Bedarf an theoretisch informiertenund empirisch gesättigten Analysen internationaler Bürokratien. Die Mehrzahl derwenigen theoretisch geleiteten Beiträge zum Themenfeld »Internationale Organisa-tionen«, die im Laufe der letzten zehn Jahre in der IB entstanden sind, vermag esnicht, diesen Bedarf zu stillen. Diese Beiträge gehen vor allem zwei Fragestellungennach. Die erste Frage ist: »Warum handeln Staaten durch formelle internationale Or-ganisationen?« Hier wird vor allem eine rational-funktionalistische Perspektive be-müht, um zu erklären, warum souveräne Staaten sich für das Handeln im Rahmen vonformellen internationalen Organisationen, nicht alternativen Formen (beispielsweise

Thorsten Benner/Stephan Mergenthaler/Philipp Rotmann: Internationale Bürokratien und Organisationslernen

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Unilateralismus, Bilateralismus, Koalitionen der Willigen), entscheiden (Abbott/Snidal 1998).5 Die zweite Frage ist: »Haben Agenten, d. h. delegierte Organe wieinternationale Bürokratien, eine eigenständige Bedeutung? (›do agents matter?‹)Wenn ja, wie groß ist ihr Handlungsspielraum vis-à-vis den Prinzipalen?« Um Ant-worten auf diese Fragen zu finden, haben IB-Forscher die agency-Theorie der Öko-nomie und principal-agent-Modelle fruchtbar gemacht (Pollack 2003; Nielson/Tier-ney 2003). Beides sind sehr relevante Fragen. Doch führen diese Fragen dazu, dassinternationale Bürokratien weitgehend als black box behandelt werden. Das Innen-leben des »Agenten« wird in bester behavioristischer Tradition ausgeblendet: ÜberFunktionsweise, Organisationskultur, innerbürokratische Beziehungen, Performanzund Rechenschaftsmechanismen internationaler Bürokratien sagen diese beiden For-schungsstränge wenig aus.

Erfreulicherweise gibt es im Rahmen des wiederaufkeimenden Interesses an For-schung zu internationalen Organisationen in den letzten Jahren einige Studien, welchedie black box der internationalen Organisationen durch einen Brückenschlag zur Or-ganisationsforschung öffnen und IOs als Organisationen analysieren (jüngst etwaSenghaas-Knobloch et al. 2003; Weaver 2008; Kerwer 2009; Barnett/Finnemore1999, 2004). Dieser forschungsprogrammatische Beitrag baut auf diesen Studien aufund entwickelt eine Forschungsagenda für internationale Bürokratien. In einem erstenSchritt präsentieren wir einige zentrale Fragen, denen sich das Feld stellen sollte. Ineinem zweiten Schritt skizzieren wir die Operationalisierung einer solchen For-schungsagenda am Beispiel von Organisationslernen als einem Teilaspekt, in demsich zentrale konzeptionelle und empirische Herausforderungen dieser Agenda her-auskristallisieren. Abschließend benennen wir einige Kernherausforderungen, denensich zukünftige Forschung in diesem Bereich stellen muss, um eine bessere Einbet-tung in die Disziplin IB zu erreichen.

Internationale Bürokratien: Forschungskontext und Forschungsthemen

Dieser Abschnitt skizziert die grundlegenden Definitionen und den Forschungskon-text sowie Prinzipien und Themen einer neuen Forschungsagenda zu internationalenBürokratien, in welche die Forschung zu Organisationslernen eingebunden ist.

Was sind internationale Bürokratien?

Michael Barnett und Martha Finnemore (2004: 177) definieren eine internationaleOrganisation als »an organization that has representatives from three or more states

2.

2.1.

5 In ähnlicher Stoßrichtung gibt es für den Sonderfall der EU (in der die delegierten Organeeine sui generis-Qualität haben) Untersuchungen zur Frage, für welche Funktionen sich Staa-ten für die Delegation an welchen »Agenten« entscheiden (dies ist eine der Hauptfragestel-lungen der Studie von Mark Pollack (2003)). Pollack setzt hier Hypothesen aus der Trans-aktionskostenökonomie zum principal-agent-Verhältnis ein.

Aufsätze

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supporting a permanent secretariat to perform ongoing tasks related to a commonpurpose«. Nationalstaaten sind die »Prinzipale«, internationale Bürokratien (oft auch»Sekretariat« genannt) sind die »Agenten«. Internationale Bürokratien beruhen aufdem nationalstaatlichen Bürokratiemodell. Max Weber betrachtete Bürokratien alsIdealtypus einer »besonders modernen Verwaltung« (Weber 1980 (1921): 124). Erhob dabei ihren rationalen Charakter hervor: »Regel, Zweck, Mittel, ›sachliche‹ Un-persönlichkeit beherrschen ihr Gebaren« (Weber 1980 (1921): 578). In Anlehnungan Weber haben Politikwissenschaftler diese Eigenschaften weiter ausdifferenziert:Hierarchie (»each official has a clearly defined sphere of competence within a divisionof labor and is answerable to superiors«, Barnett/Finnemore 2004: 17), Stetigkeit,Unpersönlichkeit (»the work is conducted according to prescribed rules and operatingprocedures«, Barnett/Finnemore 2004: 18) und Kompetenz wurden zu den zentralenEckpunkten der politikwissenschaftlichen Analyse von Bürokratien.6 Dabei gilt es,Webers Idealtypus für die realhistorische Analyse mit vernachlässigten Elementen zuergänzen.7 Dazu gehören Zielsetzungsprozesse sowie Umweltbeziehungen genausowie informelle Elemente der Organisation, die »Abweichungen vom und Hinzufü-gungen zum formellen Sollschema, die durch die soziale Natur der Mitglieder, ihrepersönlichen Wertvorstellungen und Bedürfnisse entstehen« (Mayntz 1968: 29).

Obwohl internationale Bürokratien auf dem Modell nationaler Bürokratien beru-hen, gibt es wichtige Unterschiede. Keine nationale Bürokratie muss in einem Umfeldvon 192 Prinzipalen agieren, wie zum Beispiel das Sekretariat der Vereinten Natio-nen. Das Konzept eines »internationalen Beamtenstabs« basiert auf den Prinzipiennationaler Verwaltungen: Sachkunde, Integrität, Unbefangenheit, Unabhängigkeitund Ermessensfreiheit. Jedoch haben internationale Beamtenstäbe durch die multi-nationale Zusammensetzung sowie die Zwänge geographischer Quoten meist einensehr eigenen Charakter.

Forschungskontext

Das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Genese des UN-Systems hat die ersteForschungswelle über internationale Organisationen ausgelöst. Bereits 1945 veröf-fentlichte Egon Ranshofen-Wertheimer seine Geschichte des Ständigen Sekretariatsdes Völkerbunds unter dem Titel The International Secretariat: A Great Experimentin International Administration. Für Ranshofen-Wertheimer war die Lehre aus derGeschichte des Völkerbunds klar: »it is possible to establish an integral body of in-ternational officials, loyal to the international agency and ready to discharge faithfully

2.2.

6 Kompetenz und Fachwissen wurden bereits von Weber als wichtige Alleinstellungsmerkmalemoderner Bürokratien pointiert: »Bürokratische Verwaltung bedeutet: Herrschaft kraft Wis-sen« (Weber 1980 (1921): 129).

7 Renate Mayntz merkt an: »Selbstverständlich haben Weber und die frühen Organisations-theoretiker um die Existenz der sogenannten informellen Phänomene gewusst, aber es kamihnen nicht auf eine Beschreibung der Wirklichkeit, sondern gerade auf die Formulierung desmaximal zweckmäßigen Sollschemas an« (Mayntz 1968: 29).

Thorsten Benner/Stephan Mergenthaler/Philipp Rotmann: Internationale Bürokratien und Organisationslernen

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the international obligations incumbent upon them. It was not for lack of executiveefficiency that the League system failed« (zitiert in Fosdick 1946: 692). Mit derGründung der Europäischen Gemeinschaft richtete die Europaforschung (speziell dieneo-funktionalistische Schule um Ernst B. Haas) das Augenmerk auf die Rolle derEuropäischen Kommission als eine neue supranationale Bürokratie. Im Laufe der1970er Jahre wurde dieses Interesse an internationalen Bürokratien weiter verfestigt:Die Public Administration Review publizierte eine Sonderausgabe mit dem TitelTowards an International Civil Service. Ferner wurden einige individuelle Studienwie zum Beispiel Thomas G. Weiss' International Bureaucracy (Weiss 1975) veröf-fentlicht. Weiss monierte darin den vorherrschenden Mangel an fundierten Analyseninternationaler Bürokratien: »There have been too few critical case studies of inter-national secretariats and inadequate theoretical efforts to determine the relevance ofpresent international bureaucracy for future global welfare« (Weiss 1975: xv).

Die dreißig Jahre nach Weiss' Mahnung haben keine signifikante Verbesserung desForschungsstands hervorgebracht. Erst seit wenigen Jahren lässt sich eine Renais-sance des Interesses an internationalen Bürokratien verzeichnen. Darunter fallenideologisch motivierte Generalabrechnungen mit der UN (Sanjuan 2005; Shawn2006) genauso wie am anderen Ende des politischen Spektrums die Studien desUnited Nations Intellectual History Project (UNIHP) sowie offizielle institutionelleBiographien einzelner UN-Unterorganisationen, wie zum Beispiel Craig N. Murphys(2006) Studie über das UN-Entwicklungsprogramm UNDP. John Mathiasons (2007)Invisible Governance: International Secretariats in World Politics und die Geschich-te des UN Sekretariats von Thant Myint-U und Amy Scott (2007) sind weitere Bei-träge der letzten Jahre, die jedoch weitgehend organisationskundlicher Natur sind undkeine Verzahnung mit der jüngeren IB-Forschung aufweisen.

Die große Ausnahme bildet Barnett und Finnemores (2004) Rules for the World:International Organizations in Global Politics. Es gehört zu den Ironien der IB-Ge-schichte, dass es zweier US-amerikanischer Forscher bedurfte, um der IB-Forschungdas Erbe Max Webers in Erinnerung zu rufen und eine Rückbesinnung auf die Analyseinternationaler Organisationen als Bürokratien (mit Fokus auf das Zusammenspielvon Herrschaft, Ideen und Wissen) einzuleiten. Barnett und Finnemore bieten einenAusgangspunkt dafür, die Analyse internationaler Bürokratien und deren Beitrag zurGlobal Governance ins Zentrum der IB-Forschung zu rücken. Die zentrale Heraus-forderung auf diesem Weg besteht darin, eine kohärente Forschungsagenda zu for-mulieren, die sowohl theoretisch anspruchsvoll als auch empirisch belastbar und re-levant für die politische Praxis ist.

Zentrale Forschungsthemen

Andrea Liese und Silke Weinlich (2006: 13) erklären in ihrem hervorragenden For-schungsüberblick zu internationalen Bürokratien die Frage »ob, und wenn ja, waruminternationale Verwaltungen das Handeln von internationalen Organisationen mitbe-stimmen statt lediglich die Interessen mächtiger Staaten zu vertreten oder im Dienste

2.3.

Aufsätze

208

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des gemeinsamen Nenners staatlicher Interessen zu stehen« zum Hauptanliegen vonForschung über internationale Bürokratien. Dies muss sicher ein wichtiger Bestand-teil der Forschungsagenda sein, sollte jedoch nicht der einzige Blickwinkel bleiben.Schon die Formulierung der Forschungsfrage offenbart eine defensive Grundeinstel-lung, die hauptsächlich auf die Kontroverse zwischen Realisten, rationalen Institu-tionalisten und konstruktivistischen Institutionalisten zurückgeht und die es zumHauptzweck der Forschung macht, grundsätzlich die Bedeutung und Handlungs-mächtigkeit internationaler Bürokratien als Untersuchungsobjekte zu etablieren. DieForschung sollte sich von der Engführung auf Fragen wie »Warum schaffen Staateninternationale Bürokratien?« oder »Was ist die eigenständige Bedeutung internatio-naler Bürokratien in einem anarchischen internationalen System?« befreien und denBlick auf die Arbeits- und Funktionsweise internationaler Organisationen und ihrePerformanz erweitern. Nur so lässt sich ihr Beitrag zum globalen Regieren verstehen.Um das Verständnis von internationalen Bürokratien auf systematische und problem-orientierte Weise zu verbessern, sollte sich die zukünftige Forschung folgenden The-men eingehend widmen.

(1) Interne Strukturen und Kontrollmechanismen: Für die tiefgehende Analyse in-ternationaler Bürokratien ist es unabdingbar, ein präzises Verständnis der wesentli-chen Verwaltungsstrukturen und -prozesse zu entwickeln. Dies beinhaltet die formaleOrganisationsstruktur, innerorganisatorische Koordinationsmechanismen (v. a. ingroßen und/oder geografisch weit verzweigten Organisationen, mit besonderem Au-genmerk auf die Interaktion zwischen Zentralen und Außenstellen im »Feld«), Bud-get- und Finanzplanung, Personalrekrutierung und Karriereentwicklung, Wissens-management und Informationstechnologie, Ambitionen und Realitäten eines»internationalen öffentlichen Dienstes« sowie Quellen und Folgen verschiedener Or-ganisationskulturen.8

(2) Führung: Robert Cox (1969: 205) konstatierte bereits vor 40 Jahren, dass dieQualität von executive leadership zur wichtigsten Determinante für die Ausweitungder Handlungsmacht und -breite von Internationalen Organisationen werden könnte.Trotz Cox' Hoffnung, die Geschichte internationaler Organisationen könne »Elemen-te einer Leadership-Theorie hervorbringen« (Cox 1969: 205), ist in dieser Hinsichtüber die Jahre vergleichsweise wenig Fortschritt zu verzeichnen. Wolfgang Seibelkonstatierte jüngst die Bedeutung von executive leadership durch »politische Büro-kraten«: »Hierbei handelt es sich um Schlüsselpersonen in den oberen Rängen desVerwaltungsapparates der Vereinten Nationen, die in der Lage sind, durch die Aus-wahl von Personal, die Etablierung und Ausnutzung persönlicher Netzwerke, die Ab-

8 Organisationskultur ist ein notorisch unpräziser Begriff. Nielson et al. entwickelten mit Blickauf die Weltbank folgende Definition: »We define organizational culture here as the sharedideologies, norms, and routines that shape staff members' expectations about how agendasare set, mandates are operationalized, projects are implemented and evaluated, and what staffbehavior will be rewarded or punished in promotions and demotions. Organizational culturealso influences the worldview of Bank staff, shaping the way they understand the meaningof ›development‹ and the role or identity of the Bank in promoting development. Likewise,organizational culture affects how Bank staff respond to or proactively engage the demandsand pressures in their external authorizing and task environment« (Nielson et al. 2006: 109).

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fassung und Dosierung von Sprachregelungen, die Wahl des richtigen Zeitpunkts fürEntscheidungen und Maßnahmen und nicht zuletzt durch Mut und Entschlusskraftsowohl die bürokratischen als auch die politischen Hemmnisse außer Kraft zu setzenoder wenigstens zu mildern« (Seibel 2009). Marco Schäferhoff untersuchte kürzlich(am Beispiel der Rolle von Verwaltungsstäben in der globalen Gesundheitspolitik)»institutionelle Leadership«, reduziert jedoch ihre Rolle auf das Setzen von Koope-rationsanreizen durch Zuckerbrot und Peitsche (Schäferhoff 2009). Diese Untersu-chungen sind jedoch Ausnahmen. Generell gilt: Politikwissenschaftler (inklusive derIB) haben das Thema leadership weitgehend ignoriert, und somit das Feld diversenAnsätzen aus der BWL und Managementlehre überlassen (Seibel 2003: 228). DieseForschung zu leadership hat Skeptiker wie James G. March zu der Feststellung ver-anlasst: »I doubt that ›leadership‹ is a useful concept for serious scholarship. The ideaof leadership is imposed on our interpretation of history by our human myths, or bythe way we think that history is supposed to be described« (March/Coutu 2006: 85).Ferner bekräftigt March »until a link to significant scholarship can be made, the thin-king on leadership will produce more […] homilies and tautologies than powerfulideas« (March/Coutu 2006: 85).9 In der Tat muss die Forschung ein differenzierteresVerständnis von leadership entwickeln. Es gibt zahlreiche anekdotische Belege fürdie Bedeutung von individueller und institutioneller leadership. Eine systematischeBetrachtung der Bedingungen und Wirkungsweise von leadership in internationalenBürokratien steht jedoch noch aus. Eine solche könnte auch für die gesamte IB einenBeitrag zu einem besseren Verständnis eines vernachlässigten Phänomens leisten.

(3) Interaktion mit Prinzipalen und Umfeld: Interne Prozesse einer internationalenBürokratie können nicht vollständig verstanden werden, ohne die »Umwelten« derBürokratie einzubeziehen. Es ist zunächst einmal notwendig zu analysieren, wie Bü-rokratien mit ihren direkten Prinzipalen, d. h. mit Regierungen der Mitgliedsstaatensowie den Hauptorganen, in denen Mitgliedsstaaten repräsentiert sind, umgeht. Jeg-liche Analyse der »Autonomie« internationaler Sekretariate muss unterschiedlicheFormen und Ausmaße von Autonomie berücksichtigen. Das Handeln internationalerBürokratien kann analysiert werden als »independently from, but consistently with,state interests, interpreting mandates and implementing policy in ways that are per-haps unanticipated but agreeable to states. They also might operate in areas to whichstates are indifferent. They might fail to carry out state interests, oppose state interests,or change state interests« (Barnett/Finnemore 2004: 11). Deshalb ist es wichtig, dentraditionellen Fokus von IB-Theorien auszuweiten und auf die Interaktion interna-tionaler Bürokratien mit anderen Global Governance-Akteuren einzugehen.

(4) Autorität internationaler Bürokratien: Barnett und Finnemore konstatieren:»authority provides the substance of which IOs are made« (Barnett/Finnemore 2004:21). Internationalen Bürokratien werden in der Regel mindestens drei Formen von

9 Akademische Arbeiten zu leadership in internationalen Bürokratien sind rar. Einige Aus-nahmen sind zum Beispiel John Ruggies Analyse des UNO-Generalsekretärs Kofi Annan als»norm entrepreneur«, die flüchtige Betrachtung von leadership in Mathiason (2007: Kapitel3) und Bauer (2006) sowie die detaillierten Sammelbände über den UNO-Generalsekretärvon Chesterman (2007) und Kille (2006).

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Autorität zugeschrieben: delegierte Autorität (Mandate, die von Mitgliedsstaatenübertragen werden), moralische Autorität (internationale Bürokratien als Wächter,Verkörperung und Verfechter von bestimmten Prinzipien und Werten) und Exper-tenautorität (jene Expertise und spezialisiertes Wissen, welches Staaten davon über-zeugt, »Bürokratien und die darin angesiedelten Experten dazu zu befugen, Entschei-dungen zu treffen und Probleme zu lösen«, Barnett/Finnemore 2004: 24). Forschungüber die Autorität internationaler Bürokratien ist gleichzeitig eine Gelegenheit, zurAusdifferenzierung des Machtbegriffs in den Internationalen Beziehungen beizutra-gen. Die von Barnett und Raymond Duvall (2005) ausgearbeitete Taxonomie vonobligatorischer, institutioneller, struktureller und produktiver Macht ist ein guterAusgangspunkt für eine Betrachtung der Interaktion von Macht und Autorität zwi-schen Staaten, internationalen Bürokratien und anderen Akteuren von Global Gover-nance.

(5) Interaktion mit »neuen« Akteuren und Einbindung neuer Governanceformen:Forschung sollte auch die Interaktion internationaler Bürokratien mit nichtstaatlichenAkteuren, wie zum Beispiel zivilgesellschaftlichen Akteuren, Unternehmen und For-schungsinstitutionen sowie deren gegenseitige Einflüsse besser hervorheben (Liese2009). Die Beteiligung von internationalen Bürokratien an »neuen Formen des Re-gierens«, wie zum Beispiel öffentlich-private Partnerschaften und global public po-licy networks, ist bisher auch nicht in ausreichendem Maße wissenschaftlich aufge-arbeitet worden. Wann und warum beteiligen sich Bürokratien an solch neuenStrukturen? Wie verändert sich ihre Rolle, beispielsweise mehr in Richtung einesVermittlers, eines convenors oder eines capacity-builders (Benner/Witte 2001)?

(6) Interorganisationale Beziehungen: Wichtig für eine neue Forschungsagenda istauch, Koordinierungs-, Konkurrenz-, Duplikations- und Ergänzungsdynamiken zwi-schen internationalen Bürokratien innerhalb und zwischen einzelnen Politikfeldernzu analysieren. Dieses Problem verfolgt das UN-System seit seiner Geburt. In derGeschichte der UN finden sich zahlreiche Versuche, die interorganisationelle Kohä-renz und Kooperation zu verbessern, zuletzt unter dem Titel »One U.N.« im Ent-wicklungshilfesystem der Vereinten Nationen. Forschung sollte auch Klarheit dar-über schaffen, wann Wettbewerb zwischen unterschiedlichen internationalenBürokratien (wie ihn Ruth Wedgwood z. B. für die UN fordert, Wedgwood 2005a,2005b) nützen oder schaden kann.

(7) Rechenschaftspflicht und Legitimität: Internationalen Bürokratien wird von al-len politischen Lagern ein »Demokratiedefizit« vorgehalten. Die Herausforderung fürForscher und Forscherinnen besteht darin, eine solide Analyse existierender Rechen-schaftsmechanismen internationaler Bürokratien mit klaren Handlungsanweisungenfür die Verbesserung der Mechanismen basierend auf klar formulierten normativenPrämissen zu verbinden. Forschung muss hier, wie Robert Keohane angemahnt hat,auch kreativer in ihren Vorschlägen für neue Verantwortlichkeitsmechanismen wer-den (Keohane 2006).

(8) Wirkung und Evaluierung: Effizienz und Wirksamkeit von internationalen Bü-rokratien sind notorisch unklare und unteroperationalisierte Konzepte (Dicke 1994:352). Auch wenn sich Wirkungsevaluierungen einzelner Programme und Aktivitäten

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zu einer Wachstumsindustrie entwickelt haben, sind die bestehenden Analyseinstru-mente erst ein bescheidener erster Schritt zur Beurteilung von Effektivität und Effi-zienz internationaler Organisationen. Bisher gibt es relativ wenig Forschung überEvaluierung in internationalen Bürokratien. Drei aussichtsreiche Forschungssträngesähen wie folgt aus: erstens, Evaluierung der Evaluierungsmechanismen internatio-naler Bürokratien (inkl. der Prozesse zur Umsetzung ihrer Ergebnisse); zweitens,Fallstudien über die Wirkung internationaler Bürokratien und drittens, Entwicklungbesserer analytischer Konzepte für Evaluierungen. Zunächst müssen Evaluierungenjedoch anhand der Qualität und nicht der Quantität der zur Verfügung gestellten In-formationen bewertet werden. Allen Buchanan und Keohane bekräftigen, dass dieQualität von Evaluierungen abhängig ist von »the extent to which the institution pro-vides reliable information needed for grappling with normative disagreement anduncertainty« (Buchanan/Keohane 2006: 426).

(9) Wandel und Reform: Überraschenderweise hat die Forschung bisher kein sys-tematisches Verständnis der Bedingungen und Einflussfaktoren des Wandels inter-nationaler Bürokratien hervorgebracht (Bauer 2007: 11). Erst seit Kurzem findet dieseFrage größere Beachtung (Barnett/Coleman 2005; Weaver/Leiteritz 2005). Innerhalbdieses aufkommenden Forschungszweigs gilt das besondere Augenmerk der »Re-form« als Prozess gezielter Bemühungen zum Wandel internationaler Bürokratien(Bauer/Knill 2007). Aus diesen Studien geht eine Reihe von Gründen für Reformbe-mühungen hervor: Unzufriedenheit der Hauptakteure, Bemühungen der BürokratiePolitikautonomie zu erlangen, Kontrolle durch nationale Wählerschaft, Überlebens-kampf, normale Lebensdauer und Einfluss moderner Managementkonzepte oderDruck einflussreicher Mitgliedsstaaten (Bauer 2007: 15f). Die Konsequenzen vonReformbemühungen (inkl. unbeabsichtigter Nebenfolgen) sind jedoch weitgehendunerforscht. Eine wichtige Fragestellung ist beispielsweise, ob privatwirtschaftlicheManagementmodelle (wie in den letzten Jahren des Öfteren versucht) erfolgreich ininternationale Bürokratien angewandt werden können. Zudem muss sich die For-schung auch mit Reformrhetorik im Kontrast zu tatsächlicher Implementierung be-schäftigen und dabei auch Widersprüche im Sinne von organized hypocrisy (Brunsson2002; Lipson 2007; Kühl 2007) analysieren.

(10) Gestaltung von Institutionen: Die Frage der Gestaltung von Institutionen(institutional design) ist eng verbunden mit Wandel und Reform. Alexander Wendtunterstreicht, dass IB-Theorien nur wenige Bemühungen unternommen haben, Fra-gen der Gestaltung von Institutionen zu konzeptualisieren. Dabei sei »designing in-stitutions […] a big part of what foreign policymakers actually do« (Wendt 2001:1019). Der Großteil der Forschung zum »rational design of institutions« geht expost der Frage nach, warum Akteure bestimmte institutionelle Formen wählen (Ko-remenos et al. 2001). Wendt konstatiert daher: »We need kinds of knowledge that gobeyond the causes of institutional design, and we need two in particular: knowledgeabout institutional effectiveness and knowledge about values« (Wendt 2001: 1043).Bessere Einsicht über die Effektivität internationaler Bürokratien könnte gleichzeitigErkenntnisse dazu hervorbringen, warum manche Gestaltungsoptionen funktionierenund andere fehlschlagen. Wendt: »we need to think harder about the nature of the

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design problem, its differences from our traditional social scientific concern withexplanation, and the implications for the kind of knowledge we seek to produce«(Wendt 2001: 1049).

(11) Organisationslernen: Die Frage von Organisationslernen in internationalenBürokratien verwenden wir nun, um die Operationalisierung einer solchen For-schungsagenda an einem empirisch hochgradig relevanten Thema zu illustrieren. DieWahl des Beispiels dient dazu, einen großen Teil der generell mit der Erforschunginternationaler Bürokratien verbundenen Schwierigkeiten und zumindest einen mög-lichen Lösungsweg beispielhaft aufzuzeigen. Der im Folgenden vorgestellte konzep-tionelle Rahmen für die Analyse von Organisationslernen ist als Teil einer Studie überdie peacekeeping-Bürokratie der Vereinten Nationen entstanden (Benner et al. 2007),lässt sich jedoch, so unsere These, auch auf andere internationale Bürokratien über-tragen.10

Organisationslernen in internationalen Bürokratien: Entwicklung einesAnalyserahmens

Motivation der Forschungsfrage und Grundannahmen

Im Rahmen der Forschungsagenda zu internationalen Bürokratien lohnt es sich ausvier Gründen, sich besonders mit der Frage des Organisationslernens zu befassen.Erstens nimmt sich die Frage des Organisationslernens eines Kerncharakteristikumsinternationaler Bürokratien an – dem Umgang mit Wissen als zentraler Ressource.Zweitens ist die Frage von Organisationslernen eine bislang unterbeleuchtete empi-rische Frage. In den letzten Jahren haben internationale Bürokratien vermehrt dieDevise ausgegeben, sich in »lernende Organisationen« zu verwandeln und einen grö-ßeren Wert auf »Wissensmanagement« zu legen. Über den Grad der Umsetzung die-ses Ziels gibt es jedoch bislang nur wenige Forschungsergebnisse. Drittens veran-schaulicht Organisationslernen auf besonders eingängige Weise die Notwendigkeitsowie die Schwierigkeiten einer multidisziplinären Forschung, die IB-Ansätze mitAnsätzen aus der Organisationsforschung und Verwaltungswissenschaft zusammen-bringt und sich gleichzeitig an den methodologischen Standards der IB orientiert. EineAnalyse von Organisationslernen kann, wie wir später zeigen, nicht allein durch denRückgriff auf den Fundus der bestehenden Theorien der IB erfolgen. Gleichzeitig istder notwendige Rückgriff auf Konzepte aus der Organisationssoziologie und Ver-waltungswissenschaft nicht ohne Tücken aufgrund der Zersplitterung der Theorie-bildung in diesen Disziplinen. Viertens halten wir aus einer normativen Perspektive

3.

3.1.

10 Das Projekt wird von der Deutschen Stiftung Friedensforschung gefördert. Es analysiertinsgesamt 12 Lernprozesse über einen Zeitraum von neun Jahren (2001-2009) in vierFunktionsbereichen: Polizeiaufbau (Sicherheit), Justizreform (Herrschaft), Wiedereinglie-derung ehemaliger Kämpfer (Wohlfahrt) und »mission integration« (als organisations-weite Herausforderung). Die Ergebnisse werden 2010 in Buchform veröffentlicht.

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Organisationslernen grundsätzlich für ein wünschenswertes Ziel für internationaleBürokratien.11

Anekdotische Hinweise aus der Literatur legen die Schlussfolgerung nahe, dassinternationale Bürokratien eine schwache Lernbilanz aufweisen.12 Bislang fehlen je-doch systematische Untersuchungen. Wir entwickeln im Folgenden einen Untersu-chungsrahmen für solch eingehende Studien. Zu diesem Zweck stellen wir im Fol-genden den Forschungskontext, zentrale Herausforderungen bei der Entwicklungeines Analyserahmens sowie unsere Definition von Organisationslernen, den Lern-zyklus als Analyseinstrument sowie eine mögliche Herangehensweise an die Ein-flussfaktoren vor, die Lernen befördern und behindern können.

Wie Jack Levy anmerkte, ist »das Konzept von Lernen schwierig zu definieren, zuisolieren, zu messen und empirisch anzuwenden« und jeder Versuch in diese Richtungkomme einem »Ritt durch ein konzeptionelles Minenfeld« gleich (Levy 1994: 280).Dies ist der Fall, weil Lernen ein Konzept ist,

»which cuts across virtually all of the major theoretical and meta-theoretical debates in thesocial sciences. A broad range of positions on questions such as the locus of social learning(who or what learns?), the nature of and ›motors‹ driving such learning; developing cor-responding criteria for distinguishing between learning and non-learning-based changephenomena; and the relationship between power and learning are visible in a diverse bodyof literature devoted to the concept« (Stern 1997: 69).

Die Gefahr, sich bei der Analyse von Organisationslernen in meta-theoretischenDebatten zu verlieren, ist daher groß. Wir versuchen, uns diesem Risiko zu entziehen,indem wir einige grundlegende Ausgangspunkte verdeutlichen. Erstens nehmen wiran, von »Organisationslernen« überhaupt als einem eigenen Phänomen getrennt vonindividuellem Lernen sprechen zu können. Zahlreiche Forscher (wie zum BeispielLevy) stellen diese Möglichkeit in Abrede.13 Aus unserer Sicht ignoriert diese Posi-tion die Tatsache, dass internationale Bürokratien auf Grundlage von organisations-weiten Regeln arbeiten, welche die Arbeit der Organisation leiten. Organisationsler-nen kann ein Grund für den Wandel dieser Regeln sein, was wiederum das Verhalteneinzelner Beamten in den Bürokratien beeinflusst.

11 Eine überzeugende Begründung liefern Peter M. Haas und Ernst Haas in ihrem ArtikelLearning to Learn: »[in] the absence of a dominant state willing to lead, a strong shareduniversal vision, or a world government, collective responses to the global problematiquedepend on international institutional mechanisms. Only flexible institutions with expan-ding organizational visions can respond effectively to these problems. […] While ad hocand disjointed responses to these challenges are likely to occur through most processes ofinternational relations, robust and resilient responses are possible in multilateral settingscharacterized by well-developed processes of organizational learning« (Haas/Haas 1995:256).

12 Für den Bereich der UN-Friedensmissionen etwa schlussfolgert eine der führenden Über-blicksbetrachtungen, dass Lernen »has not […] been one of the strengths of the UnitedNations. A senior Secretariat official describes this as an unwritten rule that ›no wheel shallgo un-reinvented‹« (Chesterman 2004: 256).

13 Jack Levy (1994: 287) behauptet, dass »the reification of learning to the collective level –and the assumption that organizations or governments have goals, beliefs, and memories– is not analytically viable«.

Aufsätze

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Zweitens sehen wir es in diesem Kontext nicht als Aufgabe der Forschung zu Or-ganisationslernen an, zu bewerten, ob das »Gelernte« auch richtig und zutreffend ist.Lise Morjé Howard (2008) and viele andere nehmen an, dass Organisationslernen zueiner Verbesserung des Organisationswissens über die Welt im Sinne von »Korrekt-heit« führt und damit zu einer größeren Effektivität bei der Zielerreichung.14 Einsolches Urteil setzt jedoch einen Maßstab zur Bewertung der »Richtigkeit« von Or-ganisationslernen voraus. Im Bereich der Friedenskonsolidierung (wie in vielen an-deren Feldern) gibt es wenig universell akzeptiertes Wissen über Kausalbeziehungen.Grundlegende Annahmen sind höchst umstritten. Das führt oft dazu, dass Forscherbei der Beurteilung der »Richtigkeit« des Gelernten auf die eigenen Präferenzen undVorurteile zurückgreifen (Levy 1994: 292) – eine Falle, die es zu vermeiden gilt.

Drittens stützen wir uns auf keine der etablierten Typologien verschiedener Ideal-typen von Lernen. Der gängigste Ansatz beruht auf verschiedenen Qualitäten vonLernen, die jeweils metaphorisch gefasst werden, etwa die Dichotomie zwischensingle-loop und double-loop-Lernen. Hier unterscheiden Forscher zwischen Lern-prozessen, die innerhalb eines gegebenen Sets von Regeln stattfinden von solchen,die ein ganz neues Set von Regeln und Strukturen schaffen (Argyris/Schön 1978).Solch rigide Unterscheidungen haben sich in der Praxis als schwer operationalisierbarherausgestellt (Nonaka 1994), da die Empirie eher ein Kontinuum als eine scharfeUnterteilung zwischen single und double loop nahelegt. Die diesen Ansätzen zugrun-deliegenden Überlegungen versuchen wir in anderer Form zu berücksichtigen.

Viertens liegt unser Erkenntnisinteresse zunächst auf Organisationslernen als ab-hängiger Variable. Einige Studien (etwa Howard 2008) untersuchen Organisations-lernen als unabhängige Variable (z. B. als Bedingung für den Erfolg von Friedens-missionen). Wir hingegen beschränken uns in einem ersten Schritt, Bedingungen fürvollständige oder abgebrochene Lernprozesse zu identifizieren. Deshalb entwickelnwir einen Untersuchungsrahmen, der es erlaubt, Lernprozesse in internationalen Bü-rokratien nachzuzeichnen und Faktoren herauszuarbeiten, die Lernen befördern undbehindern.

Forschungskontext

Die bisherige Forschung in den IB hat keinen Forschungsrahmen hervorgebracht, denwir für die Analyse von Lernen in internationalen Bürokratien übernehmen könnten.Im Rahmen der IB hat die Arbeit von Ernst B. Haas Pioniercharakter. Vor knapp 20Jahren veröffentlichte Haas sein Werk When Knowledge is Power (Haas 1990). Hierentwickelte Haas eine innovative Typologie von Lernen in internationalen Organi-sationen, die stark auf die kognitive Komponente von Lernen abzielt. Doch bietet dieTypologie keinen leicht operationalisierbaren Rahmen für weitergehende empirische

3.2.

14 Howard beispielsweise argumentiert, dass »the results of cognitive change are only un-derstood to be learning if they enable an organization to better engage with the environ-ment« (Howard 2008: 15).

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Forschung. Zudem ist Haas' Zugangsweise sehr stark auf Lernen mit Blick auf Um-weltpolitik zugeschnitten und den Einfluss, den Konsens innerhalb von epistemiccommunities von Forschern auf das Lernen in internationalen Organisationen hat. BeiUmweltproblemen ist dieser Einfluss von primär naturwissenschaftlichem Wissen(etwa der negativen Wirkung von FCKW auf die Ozonschicht) oft klar nachweisbar.Weit weniger klar ist dies bei komplexen politisch-gesellschaftlichen Problemen (wieFriedenskonsolidierung), bei denen ein Konsens innerhalb der Wissenschaft weitweniger gegeben ist. Nach der Publikation von Haas' Pionierwerk gab es lange Jahrekaum Versuche innerhalb der IB, einen Untersuchungsrahmen für Organisationsler-nen weiterzuentwickeln. Erst in den letzten Jahren nimmt das Interesse an der Un-tersuchung von Organisationslernen in internationalen Bürokratien zu.15

Gleichzeitig hat die Forschung zu Organisationslernen in anderen Disziplinen in-ternationale Bürokratien als Untersuchungsobjekte weitgehend ignoriert. In den bei-den wichtigsten Überblickswerken zur Forschung zu Organisationslernen finden sichüberhaupt keine Verweise auf internationale Organisationen (Berthoin Antal et al.2001a; Easterby-Smith 2005). Die Gründe dafür liegen in der Pfadabhängigkeit vonForschungsprogrammen und den mangelnden Austauschbeziehungen zwischen un-terschiedlichen Disziplinen. Für die Organisationsforschung im anglo-amerikani-schen Raum lag der Fokus auf Unternehmen im Zuge der Migration der Disziplin andie Business Schools nahe.16 Zugleich waren Firmen auch aus empirischer und for-schungspraktischer Sicht logische Untersuchungsobjekte: Sie hatten sich früh denAnsätzen des Wissensmanagements und der »lernenden Organisation« verschrieben.Zudem waren Firmen eher als internationale Sekretariate bereit, sich gegenüber For-schern zu öffnen, die ihnen bei der Evaluierung ihrer Bemühungen helfen konnten.

Weder in der IB noch in einer der Disziplinen, die sich mit OL auseinandersetzen,gibt es somit einen belastbaren Untersuchungsrahmen für Organisationslernen in in-ternationalen Bürokratien, der eine klare Definition von OL mit einer Operationali-sierung der Faktoren, die OL beeinflussen, zusammenbringt. Insofern muss der IB-Forscher bei der Entwicklung eines solchen Rahmens auf verschiedene Disziplinenzurückgreifen – für das grundlegende Verständnis von OL vor allem auf die Organi-sationstheorie (für eine Übersicht siehe Berthoin Antal et al. 2001b; Easterby-Smith2005); für den heuristischen Lernzyklus auf die policy-Forschung; für die deduktiveGenerierung der Faktoren, die Lernen beeinflussen, auch auf die IB-Großtheorien und

15 Senghaas-Knobloch et al. (2003); Breul (2005); Brown et al. (2006); Böhling (2007); Sei-bel et al. (2007); Benner et al. (2007); Siebenhüner (2008); Howard (2008).

16 March bemerkt zum Einfluß des Business School-Umfeldes auf die Organisationsfor-schung: »It encourages the mutual isolation of business school scholars of organizationsand disciplinary scholars. Insofar as it encourages contact with the disciplines, it makescontact with ideas from economics more likely, and contact with ideas from the sciences,psychology, sociology, or political science less likely. It focuses research on the privatesector, reducing the attention to institutions of the public sector that characterized muchearly work in the field. It brings an emphasis on the audience of practitioners, on findingthe correlates of organizational performance rather than other organizational phenome-na« (March 2007: 17f).

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Ansätze aus der Verwaltungswissenschaft und Soziologie. Zudem haben wir induktivFaktoren aus Interviews generiert.

Herausforderungen bei der Entwicklung eines Forschungsrahmens

So notwendig das multidisziplinäre Arbeiten ist, so klar illustriert die Frage des Ler-nens in internationalen Bürokratien auch seine Schwierigkeiten. Die OL-Forschungin der Organisationstheorie ist nicht in der Lage, Modelle für die Analyse von OLbereitzustellen, die man auf internationale Bürokratien ohne größere Modifikationenübertragen könnte. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens ist die Forschung zu OL in derOrganisationstheorie extrem heterogen, wie es ein Überblicksartikel treffend zusam-menfasst:

»Research in organizational learning has suffered from conceptions that were excessivelybroad, encompassing nearly all organizational change, from ontological complaints thatorganizations cannot learn, and from various other maladies that arise from insufficientagreement among those working in the area on key concepts and problems« (Cohen/Sproull1991: Editor‹s introduction).

Dies spiegelt den generellen Zustand in der Organisationsforschung wider, dieMarch wie folgt zusammengefasst hat:

»The field of organization studies is a large, heterogeneous field involving numerous en-claves having distinct styles, orientations and beliefs. It is integrated neither by a sharedtheory, nor by a shared perspective, nor even by a shared tolerance for multiple perspec-tives. It retains substantial intellectual, geographic and linguistic parochialism, with sepa-rate enclaves persisting in their own worlds of discourse and forming a common field onlyby a definition that overlooks the diversity« (March 2007: 9f).

Zweitens wirft der nahezu ausschließlich auf Unternehmen ausgerichtete empiri-sche Fokus Probleme der Übertragbarkeit auf internationale Bürokratien auf. In derOrganisationstheorie gehen viele Ansätze davon aus, dass Unternehmen durch dendarwinistischen Überlebenskampf am Markt zum Lernen motiviert werden. PolitischeFaktoren, die in Unternehmen auch eine große Rolle spielen können, werden hingegenausgeblendet. Dieser Blickwinkel ist jedoch nicht übertragbar, da internationale Or-ganisationen selten in einem markt-ähnlichen Umfeld operieren, in dem sie durch dieKräfte von Angebot und Nachfrage einem Überlebenskampf ausgesetzt wären – undzudem in internationalen Organisationen politische Faktoren eine große, oft die ent-scheidende Rolle spielen.

Obwohl die OL-Forschung keinen maßgeschneiderten Analyserahmen bereitstel-len kann, finden sich in der jüngeren OL-Literatur doch einige nützliche Erklärungs-elemente, die als Bausteine für eine Definition von Lernen in internationalen Büro-kratien dienen können. Diese können auch bei der deduktiven Generierung derFaktoren, die Lernen beeinflussen hilfreich sein. Die jüngere Literatur zu OL in derOrganisationstheorie grenzt sich von älteren Ansätzen an drei Fronten klar ab.

Erstens wurde das klassische Verständnis von Organisationen als geschlosseneSysteme durch ein offeneres Konzept abgelöst, in dem die Interaktion zwischen der

3.3.

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Fokusorganisation und der Umwelt eine zentrale Rolle spielt. Jüngere Ansätze sehendie Organisation und die Umwelt als mutually constitutive an (Breul 2005; Scott/Meyer 1992, 1994).17 Dies erlaubt ein besseres Verständnis der Interaktion der Fo-kusorganisation mit ihrer Umwelt.

Zweitens fand eine Bewegung weg von alten behavioristischen stimulus-response-Modellen hin zu einem stark kognitiv basierten Verständnis von Lernen statt (Argyris/Schön 1978). Kognition ist Vorbedingung für Lernen, denn jeder Lernprozess mussmit neuem Wissen oder einer Neubewertung von Erfahrung starten. Dies macht denAnsatz anschlussfähig an konstruktivistisch geprägte Ansätze in der IB – und auchan das Lernkonzept von Ernst Haas. Laut Haas beruht Lernen auf der Art und Weise,in der »knowledge […] is married to political interests and objectives« (Haas 1990:11).

Drittens fand in der OL-Forschung zunehmend eine Neuorientierung statt, die ver-stärkt Regeln als zentrales »Vehikel« von Lernen hervorhebt (March/Olsen 1976).Dies ist gut anschlussfähig an die jüngste Wiedergeburt Webers in den IB, im Rahmenderer Barnett und Finnemore unsere Aufmerksamkeit zurück auf bürokratische Re-geln gelenkt haben. (Barnett/Finnemore 2004: 18). Dies reflektieren wir in unsererDefinition von Organisationslernen.

Definition von Organisationslernen in internationalen Bürokratien

Wir verstehen Organisationslernen als einen wissensbasierten Prozess der Infrage-stellung und Veränderung von Organisationsregeln zur Veränderung der Organisa-tionspraxis. Diese Definition ist insofern operationalisierbar, als sich die Änderungvon Regeln auf Grundlage von Dokumenten und Interviews (auch in ihren Hinter-gründen) nachzeichnen lässt. Wir bezeichnen einen Veränderungsprozess nur dannals Lernen, wenn die Debatten und Verhandlungen, die zu neuen Regeln geführt ha-ben, wesentlich auf Wissen und Reflexion beruhen. Ein Wandel der Regeln, der alleinaufgrund der Machtverhältnisse erfolgt, fällt nicht unter unsere Definition des Orga-nisationslernens. Die Schwierigkeit der genauen Unterscheidung zwischen Macht undWissen ist offensichtlich. Genauso klar ist es, dass Herrschafts- und Machtbezie-hungen Teil jedes Lernprozesses sind. Dennoch ist die Betonung der kognitiven undreflexiven Komponente zentral für das Verständnis von Organisationslernen und vorallem auch für die Abgrenzung von anderen Prozessen des Wandels von Regeln undRoutinen, die nicht primär kognitiv basiert sind (d. h. reine Anpassungen an verän-derte Macht- und Interessenstrukturen). Hier ist auch eine klare Anschlussfähigkeitan die Debatten um arguing und bargaining in der IB gegeben (Risse 2000).

3.4.

17 Dies entspricht der in der Soziologie und der soziologisch inspirierten IB-Forschung ver-breiteten Vorstellung, dass »structure« und »agency« wechselseitig konstitutiv sind (Bar-nett/Finnemore 2004; Ulbert 2003; Wendt 1987).

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Stadien des Lernzyklus

Ähnlich vielen gängigen Modellen in der OL-Forschung (und dem policy-Zyklus)unterscheiden wir drei Stadien des Lernprozesses (Crossan et al. 1999; March/Olsen1976): (1) Aneignung von Wissen, (2) Überzeugung und Verhandlung, sowie (3)Institutionalisierung. Idealiter werden die institutionalisierten Regeln regelmäßig ei-ner erneuten Überprüfung unterzogen, was den Lernprozess von vorn beginnen ließe.

(1) Aneignung von Wissen: Organisationslernen beginnt damit, dass sich eine kleineGruppe von Organisationsmitgliedern neues Wissen aneignet. Dies geschieht durcheigene Recherchen, durch die Übernahme aus externen Quellen (z. B. Wissenschaft,Vertreter von Mitgliedsstaaten oder andere Organisationen) oder durch die Interpre-tation eigener Erfahrung als neues Wissen. Die »neue Lehre«, das zu Lernende, kannvon einem kleinen technischen Vorschlag bis zu einer Fundamentalkritik zentralerAnnahmen der Organisation reichen.

(2) Überzeugung und Verhandlung: Nach der Wissensaneignung entwickeln dieTräger einer bestimmten »Lehre« konkrete Vorschläge für neue Regeln. Sie schmie-den Koalitionen und verhandeln den Inhalt ihrer Vorschläge, um die wesentlichenEntscheidungsträger der Organisation dafür zu gewinnen. In dieser Phase wird un-tersucht, wie das neue Wissen in konkrete Vorschläge übertragen werden kann undwelche Faktoren beeinflussen, ob diese Lernvorschläge Unterstützung gewinnen oderscheitern. Das Stadium der Überzeugung und Verhandlung endet mit einer autorita-tiven Entscheidung über eine Änderung der Regeln.

(3) Institutionalisierung: Sobald eine Entscheidung über die Änderung von Regelngefallen ist, müssen diese kodifiziert und implementiert werden. Die Implementie-rung folgt dabei keinesfalls automatisch, insbesondere in weitverstreuten Organisa-tionen wie der UN-peacekeeping-Bürokratie. Institutionalisierung ist im Wesentli-chen ein top-down-Prozess, in dem die neuen Regeln in den bestehenden Regelkanonintegriert, bekannt gemacht und in Ausbildungsprogramme eingespeist, und derenAnwendung letztlich durch geeignete compliance-Mechanismen gesichert werden.Erst mit der Anwendung der neuen Regeln in der Organisationspraxis ist der Lern-prozess abgeschlossen. Ein idealtypischer Lernprozess umfasst ebenfalls eine Eva-luierung der Implementierung, auf deren Basis ggf. ein neuer Lernprozess eingeleitetwird. Jedoch kann der Lernzyklus an jedem Punkt unterbrochen werden. Abgebro-chene Lernprozesse sind empirisch häufig anzutreffen.

Dieser rein heuristische Lernzyklus erlaubt uns nicht, kausale Aussagen oder garVorhersagen über Lernen zu machen. Er bietet (neben der Situierung der Lerntypen)lediglich eine Orientierungshilfe, um einzelne Lernprozesse (und die Faktoren, diefür Erfolg/Scheitern an verschiedenen Punkten entscheidend sind) nachzuzeichnen.

Dies bringt uns zur kausalanalytisch entscheidenden Komponente des Analyserah-mens, den Faktoren, die Lernprozesse behindern oder befördern. Im Folgenden dis-kutieren wir die Palette von Faktoren, die wir deduktiv (aus bestehenden Theorien)sowie induktiv (durch Feldforschung) gewonnen haben. Hier haben wir Faktoren ausTheorien verschiedener Disziplinen gewonnen. Im Bereich der IB ergab sich diereichste Zahl an Faktoren aus konstruktivistisch-institutionalistischen Ansätzen –

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aufgrund der Verwandtheit der Forschungsfragen ist das wenig verwunderlich. Zuden realistischen und neorealistischen Theorien gab es keine Anknüpfungspunkte,was wenig überraschend ist, da diese Theorien internationale Bürokratien als eigen-ständig lernende Akteure in ihrem Weltbild nicht verorten können. Rationalistisch-institutionalistische Ansätze sind besser anschlussfähig. Im Kontext der Analyse vonOrganisationslernen haben Prinzipal-Agenten-Ansätze jedoch ihre eigenen An-schlussprobleme. Wie einem kürzlich erschienenem Überblicksartikel zu entnehmenist, ist der Ansatz meist nicht besonders aussagekräftig im Hinblick auf das Verhaltender »Agenten« (Hawkins/Jacoby 2006: 277). Studien mit einem Prinzipal-Agenten-Ansatz haben bisher nur sehr wenige direkte Aussagen über das Verhalten der Agen-ten gemacht, insbesondere mit Blick auf Prozesse mit einer stark reflexiv-kognitivenDimension. Vor mehr als 20 Jahren hat Oliver Williamson den einprägsamen Satzformuliert, Agenten seien »self-interest seeking with guile« (zitiert in Hawkins/Ja-coby 2006: 277). Darauf folgende Prinzipal-Agenten-Studien haben jedoch dieseAussage nicht weiter überprüft. Darren Hawkins und Wade Jacoby (2006: 279) sindunter den ersten Prinzipal-Agenten-Forschern, die feststellen, dass »IOs matter notonly because states have designed rules to resolve problems, but because those IOsare themselves independent actors and interact strategically with states and others«.Jedoch sind die von ihnen postulierten Forschungsdesigns (»associating leverage ofIOs with situations in which only a small pool of agents exists and high costs areassociated with the creation of agents«) zu eng für die Analyse langfristiger Prozessemit kognitiven Komponenten wie zum Beispiel Organisationslernen.

Einflüsse auf Organisationslernen

In weiten Teilen der Organisationsforschung gelten Bürokratien als von Natur auslernresistent. Ihr Beharren auf festgelegte Regeln macht Bürokratien in den Augenvieler Betrachter automatisch zu »nicht-lernenden Organisationen«. Barnett und Fin-nemore argumentieren in diesem Zusammenhang, dass »the absence of a competitiveenvironment that selects out inefficient practices coupled with already existing ten-dencies toward institutionalization of rules and procedures insulates the organizationfrom feedback and increases the likelihood of pathologies« (Barnett/Finnemore 1999:723). Andere Forscher zur »bürokratischen Organisation« bestärken, dass »das bü-rokratische System der Organisation nicht nur sein Verhalten selbst gegenüber er-kannten Fehlern nicht korrigiert; es ist zudem zu starr um sich ohne das Auftreten vonKrisen an die grundlegenden Veränderungen anzupassen, die die beschleunigte Ent-wicklung der Industriegesellschaft immer unvermeidbarer macht« (Crozier 1964:287). Ein Großteil der Forschung geht daher davon aus, dass nur Krisen die natürlicheTrägheit bürokratischer Organisationen überwinden und somit einen Lernprozessauslösen können. Am anderen Ende des Spektrums prägte die Managementliteraturdas Ideal der »lernenden Organisation« als eine Organisationsform, die gezielt»Strukturen und Strategien zur Verbesserung und Maximierung von Organisations-lernen« (Dodgson 1993: 377) konstruiert. In diesem Idealfall, in dem permanentes

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Lernen und die Infragestellung etablierter Regeln zum normalen Arbeitsablauf derOrganisation gehören, wäre eine eingehende Analyse der zu diesem erwünschten Er-gebnis führenden Bedingungen und Umstände nicht mehr notwendig.

Die wenigen Arbeiten, die sich mit der UN-peacekeeping-Bürokratie beschäftigen,basieren fast ausschließlich auf der traditionellen Sicht von Bürokratien als nicht ler-nende Organisationen. Folglich kommen alle diese Studien zu dem Schluss, dass nurschwere Krisen, wie die Katastrophen in Ruanda und Srebrenica, Lernprozesse aus-lösen können (Breul 2005; Seibel 2009).18 Zumindest seit 2005 stimmt diese Stan-dardannahme jedoch nicht mehr mit der Realität des UN-Friedenssicherungsappara-tes überein. Die Reformen der letzten Jahre haben eine bisher noch unvollständigeTransformation ausgelöst, die das Ziel hat, eine lernende Organisation zu schaffen.Folglich ist die UN-peacekeeping-Bürokratie zu Beginn des 21. Jahrhunderts wedereine reine »nicht lernende Organisation«, bei der wir uns damit zufrieden geben kön-nen, nur Krisen als Auslöser für Lernprozesse zu sehen, noch ist sie eine perfekte»lernende Organisation«, in der Lernen automatisch stattfindet. Genau dieses Zwi-schenstadium macht die UN-peacekeeping-Bürokratie zu einem interessanten For-schungsobjekt zur Analyse der Einflussfaktoren auf Lernen.

Es ist daher aber auch nicht mehr ausreichend, Krisen als einzigen Auslöser vonLernprozessen zu sehen. Stattdessen benötigen wir ein nuancierteres Verständnis derverschiedenen Einflüsse, die Lernprozesse fördern oder behindern können. Wir habendiese Einflüsse sowohl deduktiv aus der Literatur, als auch induktiv im Rahmen einerPilot-Studie erarbeitet (Benner et al. 2007). Dabei stellten wir fest, dass die existie-renden Erklärungsversuche der Ursachen, Faktoren und Einflüsse auf den Prozessorganisationalen Lernens unter zwei Problemen leiden, insbesondere wenn sie ver-suchen, politische Kräfte mit einzubeziehen. Beide haben unseren analytischen An-satz wesentlich beeinflusst.

Erstens rührt die Komplexität von Organisationslernen wesentlich aus seiner Naturals ein dynamischer Prozess, der sich über längere Zeitperioden (manchmal Jahre)hinweg entfaltet – Zeiträume, in denen die Organisation und andere Kontextaspektedes Lernprozesses mit hoher Wahrscheinlichkeit Veränderungen durchlaufen. Nuräußerst selten lässt sich ein Lernprozess deshalb vollständig durch eine statischeKonstellation von Kausalfaktoren erklären. Wesentlich zielführender ist es, die dy-namische Interaktion zwischen den verschienen Faktoren über die einzelnen Stadiendes Lernzyklus hinweg zu erfassen, um Fortschritt und schlussendlich Gelingen oderFehlschlag einzelner Lernprozesse zu erklären.

Zweitens macht es die komplexe und schwer zu erfassende Ontologie organisatio-nalen Lernens sehr schwierig, den unbestreitbaren Einfluss sozialer Kräfte wie Macht,die sich häufig in politischen Interaktionen ausdrückt, mit den ebenso unbestreitbarenEigenschaften der Organisation, wie zum Beispiel Hierarchien, Berichtswegen und

18 Howards kürzlich veröffentlichte Studie über die Friedenseinsätze der 1990er Jahre ist eineAusnahme, da sie in ihrer Analyse des Lernens weit über die Krisen-Faktoren hinausgeht.Gleichzeitig ist ihre Studien aber nur auf einzelne Missionen beschränkt und analysiertnicht, wie Lernen funktioniert und von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird (Howard2008, 2009).

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Anreizstrukturen für Mitarbeiter zu verbinden. Aus diesem Grund sind viele beste-hende Lernmodelle äußerst heterogen und nicht widerspruchsfrei in ihrer Auswahlvon erklärenden Faktoren.

Dies versuchen wir zu vermeiden, indem wir die relevanten Einflussfaktoren inzwei Bündel trennen, die beide den Lernprozess auf unterschiedliche Weise beein-flussen: Infrastruktur und Politik. Das Infrastruktur-Bündel beinhaltet die strukturel-len Eigenschaften der Organisation, die zu jedem Zeitpunkt einen statischen Wertannehmen. Obwohl sich diese Eigenschaften im Laufe der Zeit ändern können, ent-wickeln sie sich häufig nur sehr langsam und mit starker Pfadabhängigkeit. Das Po-litik-Bündel umfasst individuelle und gemeinschaftliche Elemente von agency, alsodie dynamischen und häufig volatilen Faktoren leadership, politischer Druck undbureaucratic politics, die jeweils innerhalb der Organisation oder in Interaktion mitihrem Umfeld auftreten können.

Infrastruktur

Die Lerninfrastruktur umfasst diejenigen Teile der Organisationsarchitektur, die zueiner für einzelne Lernprozesse zuträglichen Umgebung beitragen. Innerhalb dieserInfrastruktur-Kategorie können wir systematisch zwischen fünf verschiedenen Ein-flussfaktoren unterscheiden: formelle Struktur, Ressourcen, Standardabläufe, An-reizsysteme und Organisationskultur. Obwohl diese Faktoren analytisch unterschie-den werden müssen, stehen sie in engem Zusammenhang zueinander. In der UN-peacekeeping-Bürokratie wurde zum Beispiel der Aufbau von Ressourcen undStandardabläufe zur Unterstützung von Wissensmanagement und Lernen nur zusam-men mit einem fundamentalen Wandel der Organisationskultur möglich, die sichwiederum zum Großteil das Resultat bestimmter Ressourcen und Standardabläufe ist.Besteht eine Organisation aus verschiedenen Teilen, deren Eigenschaften sich teil-weise von denen der Hauptorganisation unterscheiden, dann können die einzelnenFaktoren, die die Lerninfrastruktur der Unterorganisation bestimmen, ebenfalls dererder Hauptorganisation abweichen. In der UN-peacekeeping-Bürokratie ist dies amoffensichtlichsten am Beispiel individueller Feldmissionen erkennbar; aber auch Tei-le der Bürokratie des Hauptquartiers operieren in Hinblick auf Wissensmanagement,Doktrinentwicklung und Lernen mit einiger Autonomie, wie zum Beispiel die Poli-zeiabteilung von DPKO.

Schlüsselelemente der formellen Struktur, wie etwa die Verteilung von Befugnissenund Handlungsspielräumen innerhalb einer formellen Hierarchie und die Offen- oderGeschlossenheit von Informationsflüssen und horizontaler Kommunikation, könnendie Menge an Vorschlägen für wissensbasierte Regeländerungen beeinflussen undden Fürsprechern von spezifischen Veränderungen Möglichkeiten eröffnen oder neh-men, um bestehende Annahmen in Frage zu stellen und mit Managern und Kollegenaus anderen Teilen der Organisation zu diskutieren. Im Falle des UN-Friedenssiche-rungsapparats ist die Art und Weise, in der die Beziehungen zwischen Hauptquartierund Feld organisiert sind von besonderer Bedeutung. In ähnlicher Weise können auch

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so genannte boundary spanning units, die Wissen von außerhalb (von Organisationen,die vor ähnlichen Herausforderungen stehen, lokalen Akteuren im Feld, Universitätenund Think Tanks, aber auch den Prinzipalen der eigenen Organisation, den Mit-gliedsstaaten) in die Organisation tragen, eine unterstützende Rolle spielen, besondersin der Wissenserwerb-Phase (Thompson 1967; Ansell/Weber 1999; Böhling 2005).

Ressourcen umfassen zweckgebundene Einheiten, Personal- und Finanzmittel so-wie Datenbanken, die Wissensmanagement und Lernen unterstützen. Am wichtigstenist wahrscheinlich ein dem Anschein nach banales Element: Zeit. Ausschließlich fürWissensmanagement (Dokumentieren und Analysieren von Erfahrungen) vorgese-hene Arbeitszeit und adäquate Personalmittel zur Abdeckung der Kernfunktionen derLernunterstützung (Doktrinentwicklung, Training und Evaluierung) kommt eineSchlüsselrolle zu. In einer unter ständigem Druck stehenden Organisation wie derUN-peacekeeping-Bürokratie, müssen lernrelevante Arbeitskapazitäten aktiv vordem Zugriff alltäglicher operationeller Ansprüche abgeschirmt werden. Leicht zu-gängliche, auch beschränkte, finanzielle Mittel sind hilfreich, um auf Wissen vonaußerhalb zugreifen zu können, insbesondere um Vorschläge zu vertiefen, Doktrinenoder Trainingsmaterialien zu entwickeln, die zur Institutionalisierung beitragen kön-nen. Eine wachsende und leicht zugängliche Wissensbasis gefüllt mit Berichten undStudien kann Doktrinentwicklung unterstützen, zum informellen Informationsaus-tausch beitragen und die Erfassung neuer Erfahrungen vorantreiben.

Standardabläufe bilden das Herz einer bürokratischen Organisation. Die Existenzund Akzeptanz von Standardabläufen, die Wissensmanagement und Lernen unter-stützen, bestimmt maßgeblich, ob Lernen ein ständiger »Kampf gegen die Bürokratie«sein wird oder aus der Bürokratie selbst hervorgeht. Im Friedensmissions-Apparat derUNO sind dies zum Beispiel festgelegte Doktrinentwicklungs- und Entscheidungs-prozesse sowie sowohl technische als auch soziale Hilfsmittel wie zum Beispielcommunities of practice, Datenbanken, regelmäßige lessons learned-Studien, Ab-schlussberichte und Evaluationsmechanismen. Im Idealfall sollten diese Hilfsmittelund Prozeduren alle drei Stufen des Lernzyklus abdecken, von der Wissensakquisebis zur Institutionalisierung.

Anreizstrukturen sind von höchster Bedeutung für die Art und Weise, wie Men-schen in Organisationen arbeiten, besonders um sie dazu zu bringen, neue Vorschlägeeinzubringen, sich für Wandel einzusetzen und um Änderungen nach einer formellenEntscheidung umzusetzen. Viele wissensbasierte Organisationen wie zum BeispielUnternehmensberatungen haben starke Anreizstrukturen entwickelt, die den indivi-duellen Beitrag zum gemeinsamen Wissen und Lernen mit der mittel- und langfris-tigen Karriereentwicklung verbinden. Solche Anreize haben nicht nur traditionell imUN-System gefehlt, vielmehr hat das gesamte Personalsystem für Friedensmissionensogar negative Anreize für die hauptsächlich mit befristeten Verträgen angestelltenMitarbeiter gesetzt. Die fehlenden Berufsaussichten sind demotivierend und haltenviele Mitarbeiter davon ab, zur gemeinsamen Wissensbasis beizutragen.

Organisationskultur schlussendlich bezieht sich auf die interpretativen Rahmenund kulturelle Normen, die in der Haupt- oder Unterorganisation vorherrschen (Bar-nett/Finnemore 2004: 39). Die Auswirkungen dieser Kultur können Lernen entweder

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fördern oder behindern. So haben zum Beispiel Anhänger der idealtypischen »ler-nenden Organisation« aufgezeigt, dass eine Kultur, die Lernen fördern soll, eine seinmuss »that fosters inquiry, openness, and trust« (Lipshitz et al. 2002: 84; siehe auchArgyris/Schön 1978). Diese Kultur muss allerdings nicht in der gesamten Organisa-tion einheitlich sein. Eine Organisation kann verschiedene Sub-Kulturen beinhalten,jede davon mit eigenen interpretativen Rahmen.

Politik

Das Faktorenbündel Politik beinhaltet verschiedene Arten politischer Dynamiken, dieden Lernprozess beeinflussen können. Diese Dynamiken können sowohl von inner-halb der Organisation, als auch von externen Akteuren und Ereignissen kommen. Fürjeden gegebenen Lernprozess besteht das Bündel aus dem Ergebnis des Wechselspielsvon unterstützenden und behindernden Einflüssen. Es ist anzunehmen, dass diesesBündel insbesondere in der entscheidenden Überzeugungs- und Verhandlungsphasedes Lernzyklus zum Tragen kommt, aber politische Faktoren sind auch, nachdem eineEntscheidung getroffen wurde, von enormer Bedeutung, vor allem während der In-stitutionalisierung. Innerhalb des Politik-Bündels unterscheiden wir zwischen dreiwichtigen, eng miteinander in Beziehung stehenden Dynamiken: leadership, externerpolitischer Druck und bureaucratic politics. Nicht jede dieser Dynamiken spielt not-wendigerweise in jeder Fallstudie eine Rolle und manchmal kombinieren sie sich ineiner Weise, die es unmöglich macht, sie analytisch getrennt zu betrachten.

Leadership bezieht sich auf die Rolle von Individuen, die sich (häufig zusammenmit anderen) jenseits ihrer formellen Rolle für die Unterstützung von Lernprozesseneinsetzen. In großen und komplexen Organisationen wie der UN sind häufig Koali-tionen zwischen Individuen auf verschiedenen Ebenen der Hierarchie, aus verschie-denen Teilen der Organisation oder sogar aus anderen Organisationen nötig, um denLernprozess effektiv zu unterstützen. Die aktive Unterstützung von hochrangigenFunktionären innerhalb der Organisation kann knappe Ressourcen mobilisieren, hel-fen eine Eigendynamik aufzubauen und politische Deckung für die Fürsprecher einesLernprozesses bieten. Eine ähnlich wichtige Rolle spielen Akteure des mittleren Ma-nagements. Sie sind häufig gut vernetzt und daher gut positioniert als wichtige Für-sprecher und engagierte Individuen auf der Arbeitsebene, die bereit sind über ihrePflichten hinaus an den Details eines Reformvorschlags mitzuarbeiten oder es in ei-nem überzeugenden Memo voranzubringen (Rid 2007: 19-21). Eine unterstützendeWirkung von leadership kann auch das Ergebnis einer erfolgereichen Koalition überOrganisationsgrenzen hinweg sein. Diese Koalitionen können sich auf unterschied-liche Akteurskonstellationen stützen, zum Beispiel auf Mitarbeiter anderer UN-Or-ganisationen, um best practices zu verbreiten oder um ein gesundes Maß an Grup-penzwang aufzubauen, auf Think Tank-Experten, die Wissen und Fürsprachebeisteuern können, oder etwa auf besonders engagierte Diplomaten in Botschaftenoder Hauptstädten der Mitgliedsstaaten, zur Bereitstellung externer (Finanz-)Mittel.Im Detail ist es daher oft schwer, zwischen individueller leadership und offizieller

3.6.2.

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politischer Unterstützung zu unterscheiden. Leadership ist auch nötig, um die selte-nen, aber durchaus bedeutenden Lernmöglichkeiten, die sich aus Krisen ergeben, zuschaffen und zu nutzen. Ein Beispiel hierfür ist Kofi Annans geschickte Nutzung derBrahimi-Kommission, um die extrem schmerzhaften Erinnerungen an Ruanda undSrebrenica in positives Momentum für eine neue Welle von Friedensoperationen um-zumünzen (Durch et al. 2003).

Politischer Druck erwächst hauptsächlich aus dem Verhalten von Mitgliedsstaaten,den Prinzipalen der UN, und kann den Lernprozess entweder fördern oder behin-dern.19 Im Gegensatz zu den seltenen Fällen, in denen leadership von Diplomateneine Rolle spielt (häufig angesichts eines freundlichen Desinteresses des jeweiligenAußenministeriums), bezieht sich politischer Druck auf überlegte Politik gegenüberder UN, wenn auch nicht notwendigerweise bezogen auf spezifische Lernprozesse.Die Mitgliedsstaaten bestimmen den finanziellen und politischen Spielraum, in demsich die UN bewegt. Die Interessen und Standpunkte der Mitgliedsstaaten sind des-wegen Schlüsselelemente in internen Debatten über die politische Machbar- undDurchsetzbarkeit bestimmter Lernprozesse. Häufig genügt für die erfolgreiche Un-terstützung eines Lernprozesses allein die Tatsache, dass ein einflussreicher Mit-gliedsstaat sich besonders interessiert zeigt, regelmäßige Anfragen stellt und gele-gentlich finanzielle Mittel einsetzt. Umgekehrt kann politische Einflussnahme denLernprozess deutlich erschweren, falls einflussreiche Staaten einen bestimmten Lern-prozess ablehnen oder wenn der Lernprozess einem nicht mit ihm in Beziehung ste-henden politischen Konflikt zum Opfer fällt. Politische Obstruktion kann soweit ge-hen, dass sie das Verhalten der Bürokraten selbst beeinflusst und sie dazu veranlasst,Änderungsvorschläge einer Selbstzensur zu unterwerfen.

Bureaucratic politics innerhalb der Organisation und des gesamten UN-Systemskann zu ähnlicher Obstruktion bestimmter Lernprozesse führen. Die Analyse vonbureaucratic politics hat durchwegs gezeigt, dass Bürokratien häufig nicht die »rich-tigen« und angemessensten politischen Linien verfolgen, weil individuelle Einheitenund Unterorganisationen dazu neigen, primär ihre eigenen Partikularinteressen zuverfolgen. Sie verfolgen also

»competitive, not homogeneous interests; [their] priorities and perceptions are shaped bypositions; problems are much more varied than straightforward, strategic issues; the ma-nagement of piecemeal streams of decisions is more important than steady state choices;making sure that the government [or the UN] does what is decided – and does not do whathas not been directed – is more difficult than selecting the preferred solution« (Allison/Halperin 1972: 44).

Selbst an den besten und gutwilligsten Reformvorschlägen können sich bürokrati-sche Konflikte entzünden, da individuelle Akteure einen Anreiz haben, ihren Einflussund ihre Macht sicherzustellen und zu maximieren (Halperin/Clapp 2006: 25f). Ähn-

19 Die Medien könnten eine andere Druckquelle für die Bürokratie sein. Allerdings zeigtekeine unserer Fallstudien einen nennenswerten Einfluss medialen Druckes jenseits dessendurch die Mitgliedsstaaten wirkenden. Auch wenn der Einfluss der globalen Medien aufdie internationale Agenda nicht unterschätzt werden sollte, ist er höchstwahrscheinlich fürdie seltenen, aber maßgeblichen, fundamentalen Krisen wie etwa Ruanda und Srebrenicaam wichtigsten.

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lich wie politischer Druck muss bureaucratic politics allerdings nicht notwendiger-weise den Lernprozess behindern. Zum Beispiel können geschickte Manager bu-reaucratic politics nutzen, um Unterstützung von jenen zu sammeln, die vielleichtvom jeweiligen Lernprozess nicht überzeugt sind, durchaus aber von den Änderungenprofitieren könnten.

Sowohl die Auswirkungen politischen Druckes, als auch bureaucratic politics sinddeutlich stärker, sofern der Inhalt oder die Wissensbasis eines Lernprozesses zwi-schen den verschiedenen Akteuren umstritten sind. Es kann leicht passieren, dassbestimmte Lernprozesse oder Reformvorschläge der spezifischen Sichtweise einerbestimmten Institution zugeschrieben werden und dadurch anderen als bedrohlicherscheinen. Es ist häufig empirisch unmöglich zu unterscheiden, ob ein spezifischesArgumente das Resultat strategischer Kalkulation oder Glaubens and einen Wahr-haftigkeitsanspruch ist. In fast jedem Aspekt des peacebuilding ist es äußerst selten,dass alle Akteure über Ursache und Wirkung übereinstimmen. Das Resultat ist, dassLernprozesse sehr häufig politisiert und zum Spielball von bureaucratic politics undideologischen Konflikten zwischen Mitgliedsstaaten werden.

Einflussmuster auf den Lernprozess

Für die empirische Forschung anhand von Fallstudien bleibt die Aufgabe, das Ausmaßder Wechselwirkung der verschiedenen Faktoren in den zwei Kategorien zu analy-sieren und zu ermitteln, welche Faktoren bzw. realistischer welche Interaktionsmusterin welchen Kontexten bestimmte Lernprozesse fördern, behindern oder keinen Ein-fluss auf sie haben. Anstatt jedes Faktorenbündel oder jeden Faktor unabhängig voneinem konkreten Lernprozess zu bewerten, gehen wir davon aus, dass auch die Sub-stanz jedes Lernprozesses – das Thema, das Ausmaß der vorgeschlagenen Reformund die Art und Weise, wie der Lernprozess wahrgenommen und politisiert wird –einen maßgeblichen Einfluss auf Erfolg oder Fehlschlag eines Lernprozesses hat.

Aus diesem Grund ist kein einzelner Einfluss oder Faktor unter allen Umständennotwendig oder hinreichend für den Erfolg eines Lernprozesses. Der positive Einflusseines Faktorenbündels kann, muss aber nicht hinreichend sein in Abwesenheit vonabträglichen Faktoren, je nachdem wie »schwierig« (ambitioniert oder umstritten) diezu lernende Lektion ist. Eine einigermaßen entwickelte Lerninfrastruktur könnte zumBeispiel sehr gut dazu in der Lage sein, einen kleineren technischen Vorschlag in dieTat umzusetzen (also für diesen spezifischen Prozess positiv ausgeprägt sein), wäreaber mit der Durchsetzung einer fundamentalen Neuausrichtung in einer sensiblenpolitischen Angelegenheit vollkommen überfordert (wäre also für diesen Fall bes-tenfalls neutral ausgeprägt).

Befinden sich Infrastruktur- und Politikfaktoren im Konflikt, so gehen wir generelldavon aus, dass sich politischer Einfluss adäquater Stärke auf kurze Sicht durchsetzenwird, egal ob es sich um Lernen trotz schwacher Infrastruktur oder das Blockierendes Lernprozesses trotz starker Infrastruktur handelt. Da wir individuellen Einflussund die kurzzeitigen Effekte politischen Einflusses dem Politik-Bündel zugeordnet

3.6.3.

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haben, ist dies schlicht eine Konsequenz unserer Definition. Mittel- und langfristig,zum Beispiel nachdem die formale Entscheidung getroffen wurde, ist jedoch auchausdauernde politische Einflussnahme nicht immer genug, um eine Institutionalisie-rung gegen infrastrukturbedingten Widerstand durchzusetzen. Während sich Politikalso nicht immer auf lange Sicht durchsetzt, ist sie im Allgemeinen ein sehr effektivesBlockademittel, egal wie hoch entwickelt die Lerninfrastruktur ist.

Basierend auf diesen Erwägungen können wir davon ausgehen, dass die Interaktionder Effekte der Politik- und Infrastruktur-Bündel zu jedem Zeitpunkt eines von viermöglichen Mustern aufweist (Abb. 1). Der Prozess kann aus politischen Gründenvorangetrieben werden, eine Situation, die wir als politikgetrieben bezeichnen, ge-fördert von politischem Einfluss wie etwa leadership oder politischem Druck undunabhängig von der Ausprägung des Infrastruktur-Bündels. Der Prozess kann auchinfrastrukturgetrieben sein, also angetrieben durch eine positiv ausgeprägte Lernin-frastruktur bei einer weitgehend neutralen Ausprägung des Infrastruktur-Bündels.Anders ausgedrückt, falls kein politischer Druck besteht, kann eine effektive Infra-struktur das Lernen fördern. Falls dagegen weder Infrastruktur noch Politik einenunterstützenden Einfluss ausüben, bezeichnen wir die Situation als infrastrukturellgehemmt, mit dem Ergebnis, dass der Lernprozess zum Stillstand kommt oder letzt-endlich fehlschlägt. Als politisch gehemmt bezeichnen wir jene Prozesse, in denendas Lernen durch Faktoren des Politik-Bündels verhindert wird, unabhängig vonAuswirkungen der Infrastruktur.

Abbildung 1: Interaktionsmuster zwischen Infrastruktur und Politik

POLITIK

fördernd neutral behindernd

INFR

AST

RU

KTU

R fördernd politikgetrieben(Fortschritt)

infrastrukturgetrieben(Fortschritt)

politisch gehemmt(Stillstand oder

Fehlschlag)neutral infrastrukturell

gehemmt(Stillstand oder

Fehlschlag)behindernd

Es kann nicht Anspruch dieses programmatischen Beitrages sein, bereits empiri-sche Forschungsergebnisse mit Blick auf die Frage des Organisationslernens in in-ternationalen Bürokratien zu präsentieren. Die Fallstudien des skizzierten Projekteswerden diese Lernmuster im Detail untersuchen. Wir werden bei jedem Vorkommeneines der Muster nach Regelmäßigkeiten Ausschau halten, natürlich unter Beachtungder Verschiedenartigkeit der Fälle und Prozesse. Insgesamt hoffen wir mithilfe dieserMethode ein tieferes und detaillierteres Verständnis der verschiedenen Konstellatio-nen und Formen der auf Lernen Einfluss nehmenden Faktoren zu gewinnen.

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Doch mit einer Einzelorganisationsstudie ist es nicht getan, auch wenn der Aufwandzur Erhebung hinreichend detaillierter Daten für die Fallstudien enorm ist. WeitereStudien sollten daher insbesondere Varianz analysieren: Lässt sich überhaupt Varianzzwischen unterschiedlichen Lernprozessen beobachten? Unterscheidet sich die rela-tive Bedeutung der Faktoren zwischen einzelnen Politikbereichen, z. B. aufgrund derunterschiedlichen politischen Rolle von Sicherheit gegenüber eher technokratischenVerwaltungsaufgaben oder nach dem Grad der Umstrittenheit der Wissensbasis in-nerhalb einer epistemic community (Klimawandel im Laufe der letzten Jahre)? Spielenbestimmte Faktoren in bestimmten Stadien des Lernzyklus eine besondere Rolle? Hatsich die relative Wichtigkeit bestimmter Faktoren im Laufe der Zeit verändert, undspielt die Dauer eines Lernprozesses eine entscheidende Rolle? Dafür sind weitereStudien erforderlich, die den skizzierten Rahmen empirisch anwenden und weiter-entwickeln. Erst eine kritische Masse solider, empirisch gesättigter und konzeptionellkompatibler Einzelfallstudien wird uns den Schritt zu komparativen Studien ermög-lichen.

Nichtsdestotrotz hoffen wir, mit der Illustration zur Frage organisationalen Lernenseinige der Herausforderungen, aber auch einige der potenziellen Früchte einer For-schungsagenda zu internationalen Bürokratien aufgezeigt zu haben. Die meisten derim ersten Teil dieses Beitrags vorgeschlagenen Forschungsstränge sind theoretisch,forschungskonzeptionell und methodisch alles andere als leicht zu fassen, und nichtwenige sind empirisch verhältnismäßig aufwändig in der Umsetzung. Demgegenüberhat die jüngere Literatur zu internationalen Organisationen als Organisationen bereitsbegonnen, erste Lösungsansätze für diese Herausforderungen aufzuzeigen, und derDruck zu steigender Rechenschaft und Verantwortlichkeit hat auch die Bereitschaftzu Offenheit und Transparenz auf Seiten der internationalen Bürokratien bereits er-höht.

Ausblick: Herausforderungen der Verankerung der Forschungsagenda in denInternationalen Beziehungen

Der Doyen der Organisationsforschung, James G. March, beschrieb jüngst die Auf-gabe für Organisationsforscher folgendermaßen: »Our task is to make small piecesof scholarship beautiful through rigor, persistence, competence, elegance and grace«(March 2007: 18). Gegen rigorose, kompetente und zugleich elegante Forschungser-gebnisse ist nichts einzuwenden; sie sind die Juwelen jeder Disziplin. Gleichzeitig istjedoch von zentraler Bedeutung, dass diese einzelnen Forschungsjuwelen sich kon-sistent in ein größeres Ganzes einfügen. In diesem Sinne, und inspiriert durch ImreLakatos, haben Kratochwil und Ruggie bereits Mitte der 1980er Jahre gefordert, dassein »progressive problem shift« den analytischen Fokus jedes neuen Forschungspro-gramms bestimmen sollte (Kratochwil/Ruggie 1986: 754). Das bedeutet, dass dieseVeränderungen lediglich dann »progressiv und kumulativ« sein können, wenn diesegeleitet sind von einem »overriding concern with what has always preoccupied stu-dents of international organization: how the modern society of nations governs itself«

4.

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(Kratochwil/Ruggie 1986: 774). Daher ist es wichtig, Forschung über internationaleBürokratien in dem umfassenderen Forschungsfeld zu Global Governance zu veror-ten. Dies sollte außerdem dazu beitragen, dass internationale Bürokratien nicht wei-terhin als Randgebiet betrachtet, sondern in die Kerndebatten der IB-Forschung in-tegriert werden. Dies ist auch die Perspektive der Herausgeber eines jüngsterschienenen Sammelbandes zum Thema »Internationale Beziehungen und Organi-sationsforschung«. Sie fassen den Forschungsstand wie folgt zusammen: »An derSchnittstelle von Internationalen Beziehungen, Vergleichender Politikforschung undVerwaltungswissenschaft ist in den vergangenen Jahren ein sehr dynamisches undinnovatives Forschungsfeld entstanden, in dem sich drei überwiegend komplementärepolitikwissenschaftliche Forschungsperspektiven ausmachen lassen: Die Binnenper-spektive zielt auf Strukturen und Prozesse einzelner Organisationen, die Interakti-onsperspektive nimmt die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Organisatio-nen in den Blick, die Ordnungsperspektive fragt nach der Rolle internationalerOrganisationen bei der Herausbildung globaler Ordnung und ihrer Gesamtstruktur«(Dingwerth et al. 2009: 21). Der vorliegende Beitrag hat dabei den Fokus auf dieBinnen- und Interaktionsperspektive internationaler Bürokratien gelegt. RenateMayntz merkt mit Blick auf die Ordnungsperspektive an, die »Frage nach dem Stel-lenwert formaler Organisationen im Kontext von Global Governance [ließe] sich nuraus der Perspektive eines Konzepts von Global Governance und nicht aus der Orga-nisationsperspektive beantworten« (Mayntz 2009: 11). Dem ist zu entgegnen, dassein Konzept von Global Governance ohne eine bessere Erforschung der Schlüssel-akteure, zu denen internationale Bürokratien an vorderster Front gehören, kaum trag-fähig sein wird.

Wie stehen nun die Chancen, dieses von Klaus Dingwerth, Dieter Kerwer und An-dreas Nölke als »dynamisch und innovativ« bezeichnete Forschungsfeld im Herzender Disziplin IB zu verankern? Es ist keinesfalls selbstverständlich, dass die hierskizzierte Forschungsagenda zu internationalen Bürokratien dabei erfolgreich seinwird. Die Erfahrung des Feldes der Außenpolitikanalyse (Foreign Policy Analysis,FPA) sollte ein mahnendes Beispiel sein. Die Außenpolitikanalyse schickte sichebenfalls an, eine black box zu öffnen (in diesem Falle die des Nationalstaates) unddas Innenleben der außenpolitischen Entscheidungsmaschinerie in den Blick zu neh-men mit Hilfe eines multidisziplinären Vorgehens, das Brücken zur Soziologie, Psy-chologie und Verwaltungswissenschaft geschlagen hat (Hudson/Vore 1995). Den-noch hat die FPA nie einen Platz im Herzen der Disziplin Internationale Beziehungengefunden. Wie eine Bilanz des Forschungsfeldes jüngst feststellt, ist die Außenpoli-tikanalyse weiterhin »eine Art frei-schwebendes Projekt, logisch unverbunden mitden Großtheorien der Internationalen Beziehungen« (Houghton 2007: 24).

Es wäre bedauerlich, wenn die Forschung zu internationalen Bürokratien den Wegder FPA ginge. Eine weitergehende Integration in die Disziplin IB ist für beide Seitenvon Vorteil. Zum einen verspricht der mit dem Fokus auf internationale Bürokratienund Organisationslernen verbundene multi-disziplinäre Ansatz, die Disziplin IB inden theoretischen Ansätzen intellektuell diverser zu machen. Speziell in einer Diszi-plin, die sich in den letzten Jahrzehnten stark auf den Import von Konzepten aus der

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Wirtschaftswissenschaft verlassen hat (z. B. Transaktionskostenökonomie, rationalchoice-Modellierung), führt dies gerade im US-amerikanischen Kontext zu einerdringend notwendigen Pluralisierung. Im deutschen Kontext, der schon immer stärkerAnsätze aus der Soziologie (etwa im Rahmen des IB-Konstruktivismus, gleich ob erNormen oder Argumentieren in den Blick nimmt) integriert hat, würden diese Ansätzesehr von einer Ergänzung durch weitere, bisher unbeachtete Ansätze aus der Orga-nisationsforschung profitieren (genauso wie von der Tatsache, dass internationaleBürokratien ergiebige Untersuchungsobjekte für die IB sind).

Zum anderen kann die Forschung zu internationalen Bürokratien von den For-schungsstandards in der IB sowie der Tatsache, dass Theoriediskussionen in der IBfokussierter geführt werden und Ansätze stärker aufeinander aufbauen, profitieren.Im gleichen Zug kann die IB durch die Integration der Forschung zu internationalenBürokratien und Organisationslernen im Besonderen nur gewinnen. Zunächst einmalschließt die Disziplin damit einen wichtigen empirischen Blindfleck. InternationaleBürokratien spielen in allen Feldern von Global Governance wichtige Rollen. Dassollte Grund genug sein für die IB, zu einem besseren Verständnis ihrer Funktions-weise, Erfolge und Pathologien beizutragen. Der erfreuliche Trend in der deutschenIB, auch Regieren außerhalb der OECD-Welt in den Blick zu nehmen (»Governancein Räumen begrenzter Staatlichkeit«, Risse/Lehmkuhl 2007) wird sehr von einembesseren Verständnis der Rolle internationaler Bürokratien, die gerade in »schwachenStaaten« von zentraler Bedeutung sind, bereichert werden.

Hypothesengenerierende Einzelfallstudien (wie das dem Beispiel zu Organisati-onslernen in diesem Artikel zugrunde liegende Projekt oder Studien wie die vonWeaver 2008) sind ein erster Schritt bei der Umsetzung der Forschungsagenda. Je-doch muss bald der nächste Schritt folgen im Sinne hypothesentestender verglei-chender Studien. Vergleiche können sowohl entlang verschiedener Politikfelder, ver-schiedener internationaler Bürokratien oder auch mit anderen Organisationenerfolgen. Dazu gehören beispielsweise auch global operierende Nicht-Regierungsor-ganisationen, die ebenfalls bürokratisch organisiert sind und über deren Wirken undInnenleben wir aus IB-Sicht ein höchst oberflächliches Verständnis haben.20

Der Erfolg der Forschungsagenda wird neben guten Fragestellungen und Theorienauch von den Methoden der Datenerhebung abhängen. Große Bestände quantitativerDaten gibt es bislang vor allem für den Internationalen Währungsfonds und die Welt-bank; für die meisten anderen Organisationen müssten solche quantitativen Daten-sätze erst generiert werden. Viele Prozesse lassen sich auch nur in Verbindung miteingehenden qualitativen Methoden angemessen untersuchen. Es ist hier eine guteNachricht, dass das Internet den Zugang zu offiziellen Dokumenten internationalerOrganisationen stark verbessert hat. Dennoch sind viele Dokumente weiterhin unterVerschluss und Archive internationaler Organisationen (besonders was die Arbeit im»Feld« betrifft) notorisch lückenhaft. Eingehende Befragung von Akteuren (sowohl

20 Die Studie von Hopgood (2006) zum Generalsekretariat von Amnesty International undvon ist eine der wenigen bemerkenswerten Ausnahmen; zu Akteuren der Friedenskonso-lidierung siehe Campbell (2008).

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in der Zentrale als auch im Feld) wird deshalb auf absehbare Zeit eine der wichtigstenMethoden der Datenerhebung sein. Auch Evaluationsstudien können eine gute Quellesein. Hier wäre es von großem Vorteil, wenn sich Forscher dabei auf längere Prozesseteilnehmender Beobachtung stützen könnten, etwa im Rahmen von »eingebetteterForschung« (embedded research) in internationalen Organisationen. Hier können IB-Forscher viel von den Methoden der Sozialanthropologie lernen. Einige der bestenWerke zu internationalen Bürokratien basieren auf solch »eingebetteter Forschung«.Barnetts Arbeit zum UN-Sekretariat und dem Umgang mit dem Völkermord in Ru-anda etwa profitierte stark von seinem einjährigen Aufenthalt an der US-Vertretungbei den Vereinten Nationen (Barnett 2002). Längere Aufenthalte in der Praxis odergar im »Feld«, wie sie im Rahmen einer solch eingebetteten Forschung nötig sind,sind gegenwärtig schwer mit den Förderprioritäten und Karriereanreizen in der IBvereinbar. Dies muss sich ändern, wenn wir bessere Daten zu internationalen Büro-kratien (wie auch allen anderen im Feld aktiven Organisationen) generieren wollen.Das ist gleichzeitig eine Chance, einen Beitrag zur Praxisrelevanz und -akzeptanz derIB zu leisten.

Für die IB ist es Chance und Verpflichtung zugleich, zu einem besseren Verständnisinternationaler Bürokratien beizutragen. Dabei gilt für die IB dasselbe, was LaPortefür die Organisationsforschung schreibt: »This obligation rests on the tacit claims wemake that we are the stewards of theory building, teachers of potential practitioners,and advisors vis-à-vis the critique and reform of ongoing public organizations and thedesign of new ones« (LaPorte 1994: 5).

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Martin Nonhoff/Jennifer Gronau/Frank Nullmeier/Steffen Schneider

Zur Politisierung internationaler InstitutionenDer Fall G8

Ob, inwiefern und warum man von einer zunehmenden Politisierung internationalerInstitutionen sprechen kann, wird intensiv diskutiert. Der vorliegende Beitrag willdiese Diskussion anhand des Beispiels der G8 empirisch unterfüttern. Dabei wirddeutlich, dass im Gegensatz zu jüngeren Vermutungen, dass vor allem Prozesse derTrans- und der Supranationalisierung zu Politisierung führen, sich gerade die G8 alsintergouvernementale Institution Legitimationsanforderungen und Prozessen derPolitisierung ausgesetzt sieht. Trans- und Supranationalisierung sind also keine hin-reichende Erklärung für die Politisierung internationaler Institutionen; andere Fak-toren wie die Symbolhaftigkeit und die Übersichtlichkeit einer Institution sowie ihrediskursiv vermittelte Allzuständigkeit müssen in Rechnung gestellt werden.

Einleitung1

Für kurze Zeit stand das sonst meist recht beschauliche Seebad Heiligendamm imJuni 2007 im Fokus der Weltpolitik. Gastgeber Deutschland hatte Heiligendamm alsOrt für das 33. Gipfeltreffen der Gruppe der Acht (G8) gewählt und die Staats- undRegierungschefs Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Japans, Kanadas, Russlandsund der USA waren der Einladung von Angela Merkel an die Ostseeküste gefolgt,um globale Probleme zu beratschlagen, allen voran Globalisierungseffekte und Kli-mawandel. Doch nicht nur die politischen Eliten richteten ihre Aufmerksamkeit aufHeiligendamm, auch die internationale Öffentlichkeit beobachtete das Geschehen in-tensiv und zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen begleiteten den Gipfel vor Ort.Mindestens 60.000 Demonstranten aus vielen Ländern waren über mehrere Tagehinweg an den Protesten gegen eine ihrer Ansicht nach verfehlte Weltpolitik der G8beteiligt.

Diese Konfrontation mit umfangreichen und intensiven Protesten ist nichts Neuesfür G8-Gipfel. Spätestens seit 1998, als der Gipfel von Birmingham Zielscheibe derKampagne »Jubilee 2000« wurde, die auf die Entschuldung Afrikas hinarbeitete, kames aus Anlass der G8-Treffen regelmäßig zur Mobilisierung mehrerer 10.000 De-monstranten. Einen Höhepunkt in Anzahl und Intensität der Proteste bildete im Jahr

1.

1 Der vorliegende Artikel ist im Rahmen des Forschungsprojekts »Legitimationswandel durchInternationalisierung und Deparlamentarisierung: Auf dem Weg zu postnationaler undpostdemokratischer Legitimation?« am DFG-geförderten Sonderforschungsbereich 597»Staatlichkeit im Wandel« der Universität Bremen entstanden. Die Autoren und Autorindanken Zuzana Krell-Laluhová, Dominika Biegoń und Henning Schmidtke für Unterstützungbei der Auswahl und Codierung des empirischen Materials und ihre hilfreichen Kommentare.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen16. Jg. (2009) Heft 2, S. 237 – 267

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2001 der Gipfel von Genua, wo an den z. T. gewalttätigen Demonstrationen (im Zugederer der Demonstrant Carlo Giuliani zu Tode kam) mindestens 200.000 Menschenteilnahmen. Doch auch an den weitgehend friedlichen Protesten anlässlich des Gipfelsim britischen Gleneagles 2005 war eine vergleichbare Anzahl von Personen beteiligt.

Diese Geschichte der Proteste gegen die G8 deutet darauf hin, dass hier ein bemer-kenswerter Politisierungs- und Delegitimierungsprozess in der Sphäre internationalerPolitik vorliegt. Offenbar wird die Legitimität dieses Gipfelregimes und seiner Politikenergisch bestritten, ja man kann begründet behaupten, dass keine andere politischeMobilisierung gegen eine Einrichtung der internationalen Politik ein solch dauerhafthohes Niveau erreicht hat wie die gegen die G8-Gipfel. Nur vereinzelt erreichte dasinternationale Protestniveau ein ähnliches Ausmaß, so etwa angesichts der WTO-Konferenz von Seattle im November 1999 oder des Treffens von IWF und Weltbank1988. Keine internationale Einrichtung stieß aber in einem Zeitraum von wenigstenszehn Jahren auf einen derart wiederkehrenden und dauerhaften Widerstand wie dieG8.

Die G8 könnte daher als herausragender Fall eines Prozesses gelten, der in jüngsterZeit vermehrt die Aufmerksamkeit wissenschaftlicher Diskussionen sowohl im Be-reich der Internationalen Beziehungen als auch der Europäischen Integration (Zürnet al. 2007; Hooghe/Marks 2009) auf sich gezogen hat: die Politisierung internatio-naler Institutionen. Spätestens mit den Protesten gegen die G8 und den gescheitertenReferenden zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden sind politischeInstitutionen jenseits des Nationalstaates nicht nur mit ihren policies, sondern auchin ihrer institutionellen Verfasstheit Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Über die-se erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit internationaler Institutionen scheint in derwissenschaftlichen Debatte Übereinstimmung zu herrschen. Umstritten sind aberAnnahmen über die Ursachen dieses Prozesses, wobei sich hinter diesen Kontrover-sen auch unterschiedliche Verständnisse des Begriffs der Politisierung zeigen: Mo-dernisierungsansätze gehen davon aus (Inglehart/Welzel 2005), dass eine zunehmen-de kognitive Mobilisierung immer breiterer gesellschaftlicher Schichten inVerbindung mit einer sich globalisierenden Medienlandschaft zu einer steigendenPolitisierung führt. Eine stärker die Rolle von Deliberationen denn Informationenbetonende Forschungsrichtung unterstützt die These, dass die Ausweitung von »In-seln« rationalen Argumentierens in den internationalen Beziehungen zugleich Räumefür Politik anstelle des bloßen Einsatzes von (Macht-)Mitteln eröffnet (Deitelhoff2007). Andererseits wird gerade das enorme Machtungleichgewicht innerhalb wieaußerhalb der OECD-Welt als Erklärungsfaktor für die zunehmende Politisierunginternationaler Institutionen herangezogen (Nölke 2007). Lisbet Hooghe und GaryMarks (2009) erklären Politisierungsprozesse aus der Spannung zwischen fortschrei-tender Supranationalisierung und relativ stabil bleibenden kollektiven Identitäten.

Besonders prominent ist allerdings eine These von Michael Zürn und anderen (Zürnet al. 2007; Ecker-Ehrhardt/Zürn 2007), die die Politisierung internationaler Institu-tionen und ihren steigenden Legitimationsbedarf in eine enge Verbindung zum all-mählich wachsenden Grad an Supra- und Transnationalisierung dieser Institutionenbringen (kritisch hierzu u. a.: Brock 2007; Nölke 2007; Wiener 2007). Erstens, so die

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Überlegung von Zürn und seinen Ko-Autor(inn)en, habe das System der internatio-nalen Institutionen des Nachkriegsregimes (v. a. Bretton Woods und die UN) ein bisdahin ungekanntes Maß an Verregelung der internationalen Sphäre mit sich gebracht,wodurch es sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf der Ebene politischer Pro-blemlagen zu Denationalisierungsprozessen gekommen sei. Im Sinne einer nicht in-tendierten Nebenfolge sei so allmählich der Grad der Supranationalisierung (verstan-den als Abweichung vom Einstimmigkeitsprinzip rein vertraglicher Beziehungenzwischen souveränen Nationalstaaten) und Transnationalisierung (definiert als Auf-bau globaler Regime durch nicht-staatliche Akteure) gestiegen. Denn in dem Maße,wie internationale Institutionen neue weltgesellschaftliche Problemlagen bearbeiten,»erhöht sich die Nachfrage nach supranationalen und transnationalen Komponenten«(Zürn et al. 2007: 138). Die Supra- und Transnationalisierung bewirke nun zweitens,dass die internationalen Institutionen für gesellschaftliche Gruppen zu immer wich-tigeren Bezugspunkten und schließlich zu »zentralen Bestandteilen einer normativgehaltvollen Ordnung« (Zürn et al. 2007: 139) würden. Als solche bedürften sie auchder Legitimation. Im Gefolge dieses steigenden Legitimationsbedarfs, der nur dortauftrete, wo Institutionen von Global Governance jenseits intergouvernementalerKooperation entstanden sind, komme es zu Politisierungsprozessen, zu Kritik, Protestund Widerstand, wodurch der reale Legitimationsdruck steige, Anforderungen anDemokratie und Partizipation zu entsprechen.

Bei Zürn et al. (2007: 160) wird durchaus gesehen, dass sich politischer Protestrecht ungleich auf die verschiedenen internationalen Institutionen verteilt und insbe-sondere kaum transnationale Institutionen betrifft (vgl. auch Nölke 2007: 198). Dochdie zweite, die Politisierungsthese, muss nicht nur weiter differenziert werden, sie istim Kern empirisch unzutreffend: Es sind nicht so sehr die transnationalen bzw. su-pranational gestalteten internationalen Institutionen, die dauerhaft und im besonderenMaße unter Legitimationsdruck stehen, die in Politisierungsprozesse hineingezogenoder -geführt werden und massive Proteste erdulden müssen, sondern vor allem eineEinrichtung, die klassisch intergouvernementalen Charakter hat: die G8. Der Politi-sierungsprozess, so unsere Gegenthese, setzt gerade bei modernisierten Formen klas-sisch intergouvernementalen Regierens ein. Die G8 provoziert mehr als jede andereinternationale Institution die internationale Protestöffentlichkeit. Zugleich bildet sieaber unter den einflussreichen internationalen Institutionen insofern einen Sonderfall,als sie eben gerade nicht den von Zürn und seinen Koautor(innen) beschriebenenSupra- und Transnationalisierungsprozessen unterworfen ist. Stattdessen wird die G8im Allgemeinen als intergouvernementale Institution eingeordnet und dabei insbe-sondere mit den Institutionen der klassischen Diplomatiepolitik von Großmächtenverglichen, etwa dem Konzert der europäischen Mächte im 19. Jahrhundert (Dobson2007: 2). Die G8 als »merkwürdiges« Element (Dobson 2007: xvi) im Institutionen-gefüge der internationalen Beziehungen passt nicht so recht zum Zürnschen For-schungsprogramm und kann auch von Modernisierungstheorien nicht umfassend er-klärt werden. Wenn Politisierung und Legitimationsfragen sich in höchstem Maße anintergouvernementalen Institutionen entzünden und diese dauerhaft begleiten, ist dieZürnsche Überlegung, »dass intergouvernementale Institutionen zur Verregelung von

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zwischenstaatlichen Problemlagen im Zuge der gesellschaftlichen Denationalisie-rung zugunsten von supra- und transnationalen Institutionen an Bedeutung verlieren«(Zürn et al. 2007: 149), zwar vielleicht für die policy-Dimension von Politik zutref-fend, nicht aber für die politics-Dimension, in der es um Macht- und Legitimations-fragen geht. Politisierung und Steigerung von Legitimationsanforderungen spielensich auch und gerade dort ab, wo intergouvernementale Regierungsformen wirksamsind. Im Fall der G8 liegen die Gründe dafür, so unser Argumentationsziel, in dermedial transportierten Allzuständigkeit dieser Regierungsform sowie in ihrer hohenSymbolhaftigkeit und der damit einhergehenden Übersichtlichkeit im Vergleich zukomplexeren, meist funktional spezialisierten internationalen Institutionen. Eine Ver-knüpfung von Trans- und Supranationalisierung mit dem Auftreten von Politisierungund Legitimationsauseinandersetzungen greift hingegen zu kurz.2

Ziel dieses Beitrags ist es, angesichts des aktuellen Fehlens eines systematischenVergleichs zwischen internationalen Einrichtungen an einem Fall, der G8, als einerArt Falsifikationsinstanz, aufzuzeigen, dass besonders intensive Politisierungspro-zesse gerade bei einer intergouvernementalen Einrichtung auftreten.3 In einem erstenSchritt führen wir aus, was die G8 als Institution ausmacht und inwiefern sie einwiderständiges Element für Analysen bildet, die mit Supra- und Transnationalisierungargumentieren (Abschnitt 2). Anschließend (Abschnitt 3) wollen wir einen Beitragzur näheren Bestimmung des Begriffs Politisierung leisten und insbesondere zeigen,dass konflikthafte Legitimationskommunikation ein wesentlicher Aspekt von Politi-sierung ist. Nach einigen kurzen Anmerkungen zum Forschungsdesign und zur Me-thode (Abschnitt 4) folgt dann (Abschnitte 5 bis 7) die Darstellung der Ergebnisseeiner Studie, die sich der Politisierung der G8 über die Untersuchung von Legitima-tionskommunikation in der Öffentlichkeit annähert.

Wir wollen dadurch den Befund, dass die G8 politisiert wird, erhärten und die ge-naue Form dieser Politisierung in Legitimationskämpfen nachzeichnen. Das heißtinsbesondere, dass wir einerseits die Argumente, mit denen diese Kämpfe ausge-fochten werden, rekonstruieren und dass wir andererseits untersuchen, wer die argu-mentierenden Konfliktparteien sind. Der Blick auf die Legitimationskommunikationeröffnet dabei eine neue, besonders aussagekräftige Perspektive. Denn so imposantdie eingangs genannten Zahlen des Protests auch sind: Sie können nur als ein Indizfür die Politisierung und für eine Diskussion der Legitimität der G8 (als Element imFeld internationaler Institutionen) verstanden werden. Demonstrationsintensität sagtnämlich zunächst nur etwas über die politische Relevanz einer Institution für eine

2 In einer weiteren Perspektive könnte man beispielsweise auch die Kritik an den USA undihrer Hegemonie bzw. ihrem Imperialismus als Ausdruck einer Politisierung des internatio-nalen Systems betrachten, aus der sich Legitimationsansprüche ergeben. Der Neuigkeitsgradvon Legitimationsfragen im internationalen System scheint uns geringer zu sein, als die ak-tuelle Konjunktur des Themas in der Politikwissenschaft vermuten lässt.

3 Für die Überprüfung der These, dass es bei internationalen Institutionen einen Zusammen-hang zwischen einer bestimmten strukturellen Entwicklung (Trans- bzw. Supranationalisie-rung) und dem Phänomen der Politisierung gibt, stellt die G8 also einen critical case dar, weilsie eben dieser strukturellen Entwicklung bislang nicht unterliegt. Vgl. zur Auswahl voncritical cases Gerring/Seawright (2007).

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vergleichsweise kleine und aktive Gruppe der Zivilgesellschaft aus. Über die breitereAnerkennung von politischer Relevanz und Legitimität einer Institution können wirhingegen mehr erfahren, wenn wir die Debatten der medialen Öffentlichkeit betrach-ten. Dasselbe gilt für die wichtigsten Argumentationsmuster der Legitimation undDelegitimation. Über einen Zeitraum von zehn Jahren wird daher der G8-Legitima-tionsdiskurs der meinungsführenden Tagespresse analysiert. Die Ergebnisse gewin-nen dadurch an Erkenntniswert, dass sie international vergleichend in vier medialenÖffentlichkeiten gewonnen wurden: jenen Deutschlands, Großbritanniens, derSchweiz und der USA. In einem kurzen Fazit (Abschnitt 8) fassen wir die Ergebnisseder Studie zusammen und geben Hinweise auf eine Weiterführung der Forschungs-agenda zu Fragen der Politisierung.

Die G8: Eine klassisch intergouvernementale Institution?

Betrachtet man unseren Untersuchungsgegenstand, die G8, genauer, so fällt rasch auf,dass es sich nicht um eine gewöhnliche internationale Institution handelt. Ja sogar,ob man es überhaupt mit einer Institution zu tun hat, ist mit guten Gründen bezweifeltworden. Denn die G8 verfügt weder über eine Charta noch über eine formale Ge-schäftsordnung, sie kennt weder ein geregeltes Aufnahme- noch ein Ausschlussver-fahren für ihre Mitglieder, sie hat weder einen klar abgegrenzten Aufgabenbereichnoch einen formalen Entscheidungsmechanismus, und nicht zuletzt verfügt sie wederüber eigene Finanzen noch über Mittel, ihre Beschlüsse auch gegen Widerstanddurchzusetzen (Dobson 2007: xv-xvi; Gstöhl 2007). Trotz dieser Einschränkungenwird die G8 jedoch sowohl von der Wissenschaft oft als bedeutende internationaleInstitution verstanden4 als auch von den Medien regelmäßig als eine Art Zentralin-stitution der Global Governance konstruiert (selbst im Konkurrenzverhältnis zurUNO). Als ein Grund für die unterschiedlichen Einschätzungen der G8 kann ihrespezifische institutionelle Ausgestaltung gelten. Einen institutionellen Rahmen be-sitzt die G8 durchaus. Dieser ist allerdings stark an die nationalen Bürokratien ge-bunden. Nach ihrem Reformgipfel in Birmingham 1998 hat sich die G8 eine Paral-lelstruktur geschaffen, die die jährlichen Treffen im Format der »heads only« undeinen kontinuierlich gewachsenen institutionellen Unterbau zeitlich voneinander ent-koppelt. Neben den jährlichen Treffen der Regierungschefs, die als »G8-Treffen«bzw. »G8 summit« erwartungsgemäß die größte mediale Aufmerksamkeit erfahren,finden regelmäßige Treffen auf verschiedenen Fachministerebenen (z. B. Außen-,Finanz- oder Umweltminister) statt. Zudem stehen die G8-Sherpas – vormals Unter-händler der G7, heute eine eigenständige Akteursgruppe im G7/8-System – im be-ständigen Kontakt untereinander und treffen sich bis zu fünf Mal innerhalb der jähr-lich rotierenden G8-Präsidentschaft. Sowohl die Fachminister als auch die Sherpas

2.

4 Wenngleich der Institutionenbegriff oft umgangen wird; vgl. z. B. Fratianni et al. (2007: 6f):»The G8 is thus emerging, in terms of the new corporate governance agenda, as the globalgovernor of first and last resort«.

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setzen teilweise eigene, von den G8-Treffen unabhängige thematische Schwerpunk-te.5 Insgesamt sind organisatorische Strukturen jedoch nach wie vor nur auf nationalerEbene vorhanden, doch durch die Vernetzung spezialisierter nationaler Spitzenbüro-kratien entsteht eine internationale Institution, die 365 Tage im Jahr funktionstüchtigist (Gstöhl 2005: 407). Die G8 verfügt zwar nicht über etablierte Stäbe oder auch nurStandardprozeduren zur Umsetzung von Beschlüssen ihrer Konferenzen, die im Ein-stimmigkeitsmodus gefasst und meist in den Abschlussdokumenten niedergeschrie-ben werden. Für die Umsetzung spielt aber die Kooperation mit anderen internatio-nalen Institutionen eine entscheidende Rolle. Die G8 greift je nach Politikbereich aufInstitutionen wie den IWF, die Weltbank, die OECD und auch die UNO zurück. Mit-unter werden auf Anregung der G8 sogar eigene Task Forces bei diesen Institutionenneu eingesetzt (so etwa die 1989 im Rahmen der OECD entstandene Financial ActionTask Force, Gstöhl 2007: 25). Der Zugriff auf die anderen internationalen Institutio-nen ist nur deshalb möglich, weil sich im G8-Kreis beträchtliche Machtressourcenbündeln, neben der ökonomischen Stärke insbesondere knapp die Hälfte der Stimm-rechte in IWF und Weltbank sowie vier von fünf ständigen Sitzen im UN-Sicher-heitsrat.

Fehlende Eigenorganisation und institutionelle Verfestigung durch eine Mischungaus Vernetzung und Tagungsevents sind Hauptcharakteristika der G8. Hinzu kommtdie in hohem Umfang variable Agenda dieser Einrichtung.6 Im Unterschied zu fastallen anderen internationalen Regimen und Organisationen schreibt sich die G8 mitt-lerweile eine thematische Allkompetenz zu. Auf den G8-Gipfeln tauschen sich dieStaats- und Regierungschefs der sieben größten Industrieländer und Russlands jeweilsüber eine Fülle internationaler Fragestellungen aus. Während die G8 zunächst – beimersten Treffen 1975 in Rambouillet, damals noch ohne Kanada und Russland als G6– als Forum konzipiert war, das weltwirtschaftliche Probleme beraten sollte, weitetesich die Agenda schon zu Beginn der 1980er Jahre hin zu Sicherheitsfragen und imVerlauf der 1990er und 2000er Jahre zu Fragen der Entwicklungspolitik, der Terro-rismusabwehr und der Umweltpolitik. Dass die G8-Agenda nicht fixiert ist, zeigt sichauch daran, dass häufig sehr kurzfristig aktuelle weltpolitische Probleme auf die Ta-gesordnung kommen. Somit lässt sich die G8 zusammenfassend als eine Knoten-punktinstitution beschreiben, deren besondere Fähigkeit im Zugriff auf ein breitesThemenspektrum, in der Bündelung von Handlungsmacht und in Zugriffsmöglich-keiten auf andere internationale Institutionen sowie in der flexiblen Delegation derThemenbearbeitung an spezialisierte Institutionen besteht. Sie eignet sich die thema-

5 Einen nach wie vor aktuellen Überblick über die Struktur des G7/8-Systems gibt Bayne(2005). Unter http://www.g8.utoronto.ca/meetings.html (23.4.2009) befindet sich eine Auf-listung der regelmäßig oder ad hoc stattfindenden Ministertreffen, unter http://www.g8.utoronto.ca/sherpas/ (23.4.2009) eine Auflistung der Treffen der (Sous-)Sherpas. ImZuge des Heiligendamm-Prozesses hat sich eine wenig institutionalisierte Kooperation mitden »Outreach Five«, Brasilien, China, Indien, Mexiko und Südafrika, verstärkt, vgl. z. B.Cooper (2008). Im Zuge der Finanzkrise gewinnt die G-20 an Bedeutung.

6 Die Agendasetzung obliegt dem jeweiligen nationalen Vorsitz der G8 und wird im Vorfelddurch die Sherpas diskutiert. Zum Teil werden bestimmte Themen zyklisch wieder aufgeru-fen, also nach auf den Gipfeltreffen festgelegten Zeitspannen erneut erörtert.

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tische Allzuständigkeit als typisches Merkmal nationalstaatlicher Gebietskörper-schaften an, steht aber mit dem Fehlen eigener Organisation und Administration amGegenpol zu jeder Form staatlich verfasster Politik. Ein weiteres Merkmal der G8 istihre hochgradig ritualisierte und symbolische Politik, die sich beispielsweise auf denFamilienfotos im Strandkorb (Heiligendamm 2007) oder bei der tatkräftigen und me-dial inszenierten Pflanzung von Bäumen im Zeichen des Klimawandels (Hokkaido2008) zeigt.

Aus dieser Beschreibung der G8 lässt sich ersehen, dass sie gänzlich frei von Ele-menten der Supra- und Transnationalisierung ist. Supranationalisierung definierenZürn et al. (2007: 141) als »einen Prozess, bei dem internationale Institutionen ein-zelne Komponenten wie Mehrheitsentscheidungen oder Schiedsgerichtsbarkeit ent-wickeln, die sich von dem zwischenstaatlichen Konsensprinzip lösen und mithin eineObligation einzelner Mitglieder entsteht, Maßnahmen auch dann zu implementieren,wenn sie selbst nicht zustimmen.« In diesem Sinne kann die G8 keinesfalls als su-pranationale Institution gelten: Nicht nur arbeitet sie nach wie vor auf Basis des Ein-stimmigkeitsprinzips, auch ihre Beschlüsse sind nicht bindend im Sinne einer einklag-oder auch nur sanktionierbaren Obligation. Noch weniger Anhaltspunkte gibt esdafür, die G8 als transnationale Institution zu verstehen, da in solchen Institutionendefinitionsgemäß nichtstaatliche Akteure bei politischen Entscheidungen maßgeblichmitbestimmen (Zürn et al. 2007: 141). Nein, auch wenn keine völlige Einigkeit dar-über besteht, wie die G8 als Institution zu rubrizieren ist –, zu finden sind z. B. Vor-schläge wie Gipfelregime (Gstöhl 2005: 406) oder »world`s biggest think tank onglobal governance« (Dobson 2007: xvii) – die Beschreibung als supra- oder transna-tionalisierte Institution trifft nicht zu. Es ist vielmehr naheliegend, die G8 als reinintergouvernementale Institution, als Institution einer klassischen, auf diplomatischenBeziehungen zwischen Nationalstaaten beruhenden Außenpolitik zu charakterisieren– und damit als Überbleibsel einer vielleicht nur vermeintlich alten Ordnung. In die-sem Sinne passt die G8 weder in das Erklärungsschema des Zürnschen Forschungs-programms, noch kann es umfassend von Modernisierungsansätzen erklärt werden.

Politisierung und Legitimation

Es stellt sich also die Frage nach dem Ausmaß und der Gestalt der Politisierung derG8. Politisierung ist ein Begriff, der für die Thesen von Zürn et al. (2007, 2008) sowieHooghe und Marks (2009) eine zentrale Rolle spielt, allerdings ohne dass er in einerWeise definiert wäre, die sich für empirische Überprüfungen hinreichend eignenwürde. Ehe wir uns dem empirischen Diskursmaterial zuwenden, gilt es folglich nochgenauer zu klären, wonach wir dort suchen, wenn wir »Politisierung« untersuchen.Grundlegend für den hier verwendeten Begriff der Politisierung ist ein konfliktori-entierter Begriff des Politischen, der allerdings zugleich die Notwendigkeit mitdenkt,dass gemeinsame Entscheidungen über gemeinsame Angelegenheiten getroffen wer-den müssen. Das Politische begreifen wir somit als Regelmäßigkeit sozialen Han-delns, bei der über das für alle Beste, das Gemeinwohl, konflikthaft verhandelt wird

3.

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(Nonhoff 2006: 109). In einer sehr grundlegenden Weise kann man Politisierungdementsprechend verstehen als das Umstritten-Machen des vermeintlich Gesetzten,Natürlichen oder Normalen hinsichtlich des gemeinen Besten.7 Wenn eine Institutionoder die Politik dieser Institution derart interpretiert werden, dass sie als gar nichtoder nicht in hinreichender Weise einem Gemeinwohl, das im Zuge der Institutio-nenkritik zugleich erst verfertigt oder spezifiziert wird, zuträglich erscheinen, kannman somit von der Politisierung dieser Institution sprechen. Jenseits dieser grundle-genden Definition erfolgt die Annäherung an den Begriff der Politisierung, wie wirihn hier verstehen wollen, nun in drei Schritten: (a) eine Präzisierung dessen, was mitPolitisierung gemeint ist; (b) die Klärung des Verhältnisses von Politisierung undLegitimität bzw. Legitimation; (c) die Erläuterung der einzelnen Elemente von Poli-tisierung, die wir anschließend empirisch erfassen möchten.

Betrachten wir zuerst den Begriff der Politisierung. Zürn et al. definieren Politi-sierung als einen Prozess, »in dessen Folge gesellschaftliche Akteure, seien sie na-tional oder transnational organisiert, vermehrt Ansprüche an das Regieren jenseitsdes Nationalstaats richten. Im Ergebnis führt dies zu einer Pluralisierung der Akteureund Positionen in internationalen Institutionen« (Zürn et al. 2007: 149). Der zweiteSatz dieser Definition verdeutlicht, dass man von einer Politisierung sprechen kann,wenn sich die »Logik« einer Institution, d. h. ihre regelmäßigen und anerkannteninternen Operationsmuster so verändern, dass die Institution im Rahmen ihrer Ziel-verfolgung und Funktionserfüllung verschiedenen Positionen Raum gibt und über denKonflikt zwischen diesen Positionen zu Lösungen kommt. Die Institution organisiertsich also so, dass man vom Vorherrschen der Logik des Politischen sprechen kann.Das klassische demokratische Verfahren der Austragung von Konflikten sind regu-lierte Debatten und Mehrheitsentscheide. Will man den Gegenstand eines solchenVerständnisses von Politisierung untersuchen, muss man institutionell geregelte Ver-fahren und das Handeln von Akteuren in diesen Verfahren analysieren. Im ersten Satzder Definition wird aber ein noch grundlegenderes Verständnis von Politisierung an-gedeutet. Hier ist Politisierung ein Prozess, in dessen Folge Akteure vermehrt An-sprüche »an das Regieren« richten. Die hier noch etwas unklare Formulierung wirddeutlicher, wenn Zürn et al. an anderer Stelle von enttäuschten Ansprüchen und demdaraus resultierenden Widerstand gegen internationale Institutionen sprechen (2007:150). Unter Politisierung sind dann Prozesse zu verstehen, in denen eine Institutionin Frage gestellt wird.

Wir orientieren uns im Folgenden insbesondere an diesem Teil der Definition, alsoan den Herausforderungen, die für Institutionen durch gestiegene gesellschaftlicheAnsprüche und durch Infragestellungen entstehen. Den anderen Aspekt, also die Plu-ralisierung von Positionen in einer Institution und die damit einhergehende Intensi-vierung intra-institutioneller Konflikte, berührt unsere Untersuchung nicht. UnterPolitisierung wollen wir also Prozesse verstehen, in denen eine Institution, sei es

7 Ganz ähnlich spricht etwa Philippe C. Schmitter von« »politicization« als »increasing con-troversiality of joint decision making« (Schmitter 1969: 166), eine Definition, die auch injüngsten Debatten zur Politisierung der Europäischen Union wieder eine Rolle spielt (vgl.Hooghe/Marks 2009).

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grundsätzlich in ihrem Bestand oder in ihrer spezifischen Form und Funktion, in Fragegestellt wird. Wenn eine Institution grundsätzlich oder in einem spezifischen Aspektihres Wirkens als dem allgemeinen Besten nicht zuträglich dargestellt wird, wenn siedeshalb als veränderbare und als zu verändernde Institution in Erscheinung tritt, undwenn zugleich (innerhalb oder außerhalb der Institution) Beharrungskräfte ausge-macht werden, die im Zuge der Veränderung überwunden werden müssen, dann kannman von der Politisierung dieser Institution sprechen.8 Empirisch zeigt sich Politi-sierung insbesondere dann, wenn Akteure, die einer politischen Institution nahe ste-hen bzw. in ihr mitwirken, diese verteidigen, während sie insbesondere von zivilge-sellschaftlichen Akteuren und der veröffentlichten Meinung attackiert wird.

Wenn die Politisierung von Institutionen stets auch mit ihrer Infragestellung ein-hergeht, liegt es nun zweitens auf der Hand, nach den Kriterien dieser Infragestellungund damit nach der Legitimation oder genauer: der fehlenden Legitimation dieserInstitutionen zu fragen. Entsprechend gehen auch Zürn et al. vor, die ihre Politisie-rungsdiskussion eng mit der Frage verknüpfen, nach welchen Kriterien die Legitimitätinternationaler Institutionen behauptet oder verneint werden kann (vgl. Zürn et al.2007: 154-157). »Legitimationsdruck« gilt mithin als ein Kennzeichen von Politisie-rung (Zürn et al. 2007: 139). Es ist dieser Aspekt der Politisierung, den man als dendiskursiven Kampf um die Legitimität internationaler Institutionen bezeichnen kann,der uns in diesem Beitrag besonders interessiert. Dabei erschöpft sich Politisierunggewiss nicht im Ringen um Legitimität. Politische Widerstandspraxen wie Proteste,Demonstrationen und auch handgreifliche Aktionen tragen gewiss ganz wesentlichzur Politisierung bei, und wir werden uns auch nochmals kursorisch auf Demonstra-tionsdaten beziehen. Doch in den Vordergrund rücken wir im Folgenden die medialePolitisierung via Legitimationskommunikation.

Mit der Betonung der Kommunikation über die Legitimität einer politischen Ord-nung oder Einrichtung wird schon deutlich, dass hier nicht die in den InternationalenBeziehungen intensiv diskutierte Frage der normativen Anerkennungswürdigkeit9weiter verfolgt werden soll, sondern die empirische Frage nach der Zuschreibung vonLegitimität in der politischen Auseinandersetzung. Es geht um die empirischen Pro-zesse, in denen die Legitimität von Normen und Institutionen generiert, aufrechter-halten, in Frage gestellt und zerstört wird. Legitimität wird damit verstanden als auchgraduell veränderbare Resultante kontinuierlich andauernder politischer Kommuni-kation. Will man diese Kommunikation erforschen, so ist dabei allerdings eine prä-zisere Fassung der Begrifflichkeit hilfreich: Wir werden deshalb – ähnlich wie Rod-ney Barker (2001: 22-25) – zwischen Legitimität und Legitimation unterscheiden unddie Frage der Anerkennungswürdigkeit unter dem Namen Legitimität verbuchen, die

8 Wir präzisieren den Begriff der Politisierung an dieser Stelle also vor allem mit Blick auf dieempirische Überprüfung der oben diskutierten Thesen. Darüber hinaus wäre allerdings einetheoretische Spezifizierung wünschenswert. So ist in den bisherigen Diskussionen z. B. unklargeblieben, ob Politisierung als Alternative zu Judizialisierung und Bürokratisierung verstan-den werden sollte, oder ob Judizialisierung und Bürokratisierung zusammen mit Demokra-tisierung als Teilprozesse der Politisierung zu verstehen sind.

9 Vgl. z. B. Majone (1998); Scharpf (1999); Dingwerth (2003, 2007); Kratochwil (2006); Clark(2007); Føllesdal (2007); Steffek (2007); Breitmeier (2008).

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Frage der empirischen Zuschreibung von Legitimität aber als Legitimation bezeich-nen (Weber 1980: 19f). Somit ist das Folgende keine Studie zur Legitimität, sondernzur Legitimation der G8.10 Unseren Untersuchungsgegenstand bildet eine Vielzahlvon Legitimationsaussagen, aus denen erkenntlich wird, mit welchen Begründungendie Legitimität der G8 bekräftigt oder bestritten wird. Im Netz dieser Aussagen wirdschließlich deutlich, inwieweit man von einer diskursiven Politisierung der G8 spre-chen kann und welche Positionen und Argumente dabei eine wichtige Rolle spielen.

Drittens gilt es zu erläutern, wonach genau wir im empirischen Diskursmaterialsuchen, d. h. wie die Untersuchung der Politisierung der G8 operationalisiert wird.Drei Bedingungen müssen erfüllt sein, um von einer Politisierung der G8 zu sprechen:Zunächst ist es nur sinnvoll, von der Politisierung einer Institution zu sprechen, wenndieser auch ein Mindestmaß an diskursiver Relevanz zukommt. Die Institution mussalso diskursiv präsent sein. Oder genauer: Da Politisierung über Legitimationskom-munikation erfasst wird, muss sich eine derartige Kommunikation auch in nennens-wertem Ausmaß nachweisen lassen. Von Politisierung kann des Weiteren nur danngesprochen werden, wenn der Institution auch Kritik und diskursiver Widerstandentgegengesetzt wird, d. h. wenn ihre Legitimität in nennenswertem Ausmaß inZweifel gezogen oder verneint wird. Dass die Legitimität einer Institution in Fragegestellt wird, dass es also zu Legitimationskonflikten kommt, kann als das entschei-dende Element der Politisierung im hier untersuchten Sinne verstanden werden. Die-ses Element kann nochmals in vier Aspekte von besonderem Interesse untergliedertwerden: (a) das Gesamtniveau der Delegitimation der G8, also der Anteil delegiti-mierender Aussagen an allen Aussagen; (b) die Qualität der Infragestellung, also dieFrage, ob man es mit einem für demokratische Verhältnisse normalen Kritikniveauoder mit einer verschärften Politisierung im Sinne einer tiefergehenden Legitimati-onskrise zu tun hat; (c) die Legitimationskriterien, anhand derer geurteilt wird; und(d) die spezifische Sprecherkonstellation, die sich mit dem Legitimationskonflikt er-gibt. Schließlich kann man sinnvollerweise nur dann von einer Politisierung der G8im Sinne eines Prozesses sprechen, wenn eine zeitliche Dynamik der Legitimations-konflikte, d. h. eine quantitative Ausweitung und/oder ihre qualitative Verschärfungfestgestellt werden kann. Anderenfalls könnte man zwar von einem anhaltend hohenGrad der Politisierung der G8 sprechen, nicht aber von einem Prozess der Politisie-rung. Daher müssen die angesprochenen Aspekte immer auch im Zeitverlauf analy-siert werden.

10 Insofern folgen wir Friedrich Kratochwils Überlegung, wonach »the task is not to resolvethe conceptual ambiguities by definitional fiat […], but rather to discover the ›grammar‹of the concept, i.e. show how it functions in political discourse« (Kratochwil 2006: 306,Hervorh. dort).

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Forschungsdesign und Methode

Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf Daten der medialen Legitimationskom-munikation und greift kursorisch auf Daten des Legitimationsverhaltens (Protestda-ten) zurück; Erhebungen über Bürger- oder Elite-Einstellungen gehen hingegen nichtin das Folgende ein.11 Wir erheben die Legitimationskommunikation, wie sie sich inder meinungsbildenden Qualitätspresse niederschlägt. Dafür haben wir in unserenvier Untersuchungsländern (Schweiz, Deutschland, Großbritannien, USA)12 jeweilszwei Qualitätszeitungen ausgewählt, die im politischen Spektrum jeweils eher demMitte-Rechts- bzw. dem Mitte-Links-Lager zugerechnet werden können. Wir arbeitenmit einer Mischung aus quantitativen und qualitativen, automatisierten und herme-neutischen Verfahren: In einem ersten Schritt wurden für eine Zeitspanne von zehnZeitungstagen um die G8-Gipfel der Jahre 1998 bis 2007 alle Artikel mit der Nennungder »G8« aus einer elektronischen Datenbank erhoben.13 Anschließend wurden dieseArtikel im Volltext gelesen und dabei auf Legitimationskommunikation hin ausge-wertet und kodiert. Die analytischen Grundeinheiten, die aus dieser Auswertung re-sultieren, nennen wir Legitimationsäußerungen. Dabei handelt es sich um Statements,die sich sinngemäß in die Form der folgenden Legitimationsgrammatik übertragenlassen.

Die wesentlichen Daten, die für insgesamt 2076 Legitimationsäußerungen erhobenwurden und im Folgenden ausgewertet werden, sind also (a) das Legitimationsobjekt(das hier stets die G8 ist); (b) der evaluierte Aspekt dieses Objekts (mit David Easton(1965) unterscheiden wir Evaluierungen von policies und authorities der G8 sowiedes G8-Regimes insgesamt); (c) die positive oder negative Bewertung; (d) die Be-gründung dieser Bewertung unter Zuhilfenahme eines Legitimationsmusters;14 sowieschließlich (e) der Sprecher, dem eine Äußerung zugerechnet werden kann.

4.

11 Die Vor- und Nachteile jeder der drei Dimensionen der Legitimationsforschung haben wiran anderer Stelle ausführlich diskutiert (Schneider et al. 2007: 127-133).

12 Die Länderauswahl bietet mit Blick auf den Fall G8 ein gutes Maß an Variation: DasSample umfasst drei Mitglieder und ein (Nicht-)Mitglied (CH) der G8, das aber gleichwohldurch einen G8-Gipfel (Evian 2003) besonders betroffen war. Repräsentiert sind ein klei-nes Land (CH), zwei mittelgroße (D, GB) Staaten und ein großes Land (USA). Die Fälledifferieren zudem hinsichtlich ihrer eher offenen bzw. parochialen (USA) Mediensysteme.Schließlich dürfen – aus ganz unterschiedlichen Gründen – die Schweiz und die USA eherals multilateralismusskeptisch gelten, Großbritannien und vor allem Deutschland hingegenals vergleichsweise multilateralismusfreundlich. All diese Variablen lassen also vermuten,dass die nationalen Legitimationsdiskurse und -stile rund um die G8 so unterschiedlichsind, dass eine Verzerrung unserer generalisierenden Aussagen durch »selection bias«vermieden wird. Allerdings ist bei der Länderauswahl auch in Rechnung zu stellen, dasswir uns auf den angelsächsischen Raum einerseits und auf den mitteleuropäisch-deutsch-sprachigen Raum andererseits konzentrieren, damit sind auch nur Medien aus der OECD-Welt repräsentiert.

13 Die untersuchten Zeitungen, die Gipfelorte und -daten, die Untersuchungszeiträume unddie Anzahl der elektronisch erhobenen Artikel sind Tabelle A im Anhang zu entnehmen.

14 Unter Legitimationsmustern verstehen wir generalisierende, normativ gehaltvolle Begrün-dungen für die vorgetragenen Bewertungen. Das zugrunde gelegte Kategoriensystem mitinsgesamt 26 Mustern wurde teils aus der Sekundärliteratur und teils induktiv aus demTextmaterial gewonnen (vgl. Fußnote 23).

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ZIB 2/2009 247

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Tabelle 1: »Legitimationsgrammatik«

LegitimationsobjektLegitimationsobjekt X

Bewertungist (nicht) legitim, weil

LegitimationsmusterBegründung Y

Sprecher(in), sagt Sprecher Z

Beispiel G8-Policy»Trotzdem fehlen in der Deklaration des Gipfels Reduktionsziele und Zeithorizonte. Und noch schlimmer:Die Regierungschefs vermieden es mit Rücksicht auf die USA tunlichst, den Klimawandel als vom Menschenverursacht anzuerkennen.«15

Die Klimapolitik der G8 ist nicht legitim, weil sie von der G8 nichteffektiv angegangen wird

, sagt JournalistMartin Läubli.

Beispiel G8-Verantwortliche»Mit der Rückkehr zu intensiven und ergebnisorientierten Gesprächen im kleinen Kreis hatte sich derkanadische Gastgeber Chrétien offenbar erfolgreich um eine Straffung des Programms bemüht.«16

G8-Präsident Chrétien ist legitim, weil seine Führung zueffizientem Verhandelngeführt hat

, sagt die FAZ.

Beispiel G8-Regime als Ganzes»The G8 are staying in their compounds but they are hypocritical and cynical, selling their guns, starting wars,detaining and torturing people and adding to the misery.«17

Die G8 ist nicht legitim, weil sie unglaubwürdighandelt

, sagt derProtestierendeRogelio Sastre-Rosa.

Für die Einordnung der empirischen Ergebnisse spielen im Folgenden die beidenBegriffe Delegitimationsniveau und Legitimationskrise eine wichtige Rolle. Als De-legitimationsniveau bezeichnen wir den Anteil der delegitimierenden Legitimations-äußerungen an allen Legitimationsäußerungen (insgesamt, eines Jahres, in Bezug aufein bestimmtes Legitimationsmuster etc.). In Studien zur Legitimation von national-staatlichen Institutionen hat sich dabei gezeigt, dass ein mittleres Delegitimationsni-veau innerhalb lebendiger demokratischer Ordnungen eher als Normalfall gewertetwerden kann (vgl. Hurrelmann et al. 2009): Öffentliche Kritik an der gewählten Füh-rung, an einzelnen policies und auch an Elementen des demokratischen Institutio-nengefüges ist ein wesentlicher Teil jedes demokratischen Staatswesens und kanndamit als Ausdruck der Politisiertheit der nationalstaatlichen Ebene erwartet werden.Ein erheblich gesteigertes Niveau der Delegitimation drückt aber nicht nur Politisie-rung aus, sondern auch die ernsthafte Infragestellung einer Institution oder politischenOrdnung. In Anlehnung an unsere Untersuchungen zur Legitimation nationalstaatli-cher politischer Ordnungen wollen wir von einer Legitimationskrise im Folgendendann sprechen, wenn wenigstens zwei Drittel alle Legitimationsäußerungen delegi-

15 »Nicht im Ansatz ein Fortschritt«, in: Tagesanzeiger, 9.7.2005.16 »Russland von 2006 an eine führende Industrienation«, in: FAZ, 28.6.2002.17 »The protester«, in: Guardian, 23.7.2001.

Aufsätze

248

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timierend sind (Delegitimationsniveau 66 % oder höher). Liegt ein solches krisen-haftes Delegitimationsniveau vor, kann man die Schwere einer Legitimationskriseweiter einschätzen nach der absoluten Anzahl von delegitimierenden Äußerungen (70delegitimierende von insgesamt 100 Äußerungen wiegen schwerer als sieben vonzehn), nach der Dauer, für die das krisenhafte Niveau besteht, sowie danach, wie vieleund welche Aspekte eines Legitimationsobjektes delegitimiert werden (wobei diedauerhafte krisenhafte Delegitimierung des G8-Regimes am schwersten wiegen wür-de).

Wachsende Medienaufmerksamkeit bei anhaltender Skepsis

Damit Institutionen überhaupt als politisch relevante, legitime oder nicht legitimeInstitutionen beurteilt werden können, müssen sie in der öffentlichen KommunikationBeachtung finden. Solange, mit anderen Worten, eine Institution nicht zum öffentli-chen Thema wird, kann man auch nicht von einer Legitimation bzw. Politisierungdieser Institution sprechen. Entscheidend ist dabei, dass es zu einem nennenswertenAusmaß an bewertender Aufmerksamkeit kommt, unabhängig davon, ob es sich umpositiv oder negativ evaluierende Stellungnahmen handelt. Wichtig ist also zualler-erst, dass wir es nicht mit einer »a-legitimen« (Steffek 2007: 190), sondern mit einerregelmäßig normativ eingeordneten Institution zu tun haben (vgl. auch Zürn et al.2008: 107). Die pure Zahl der bewertenden Stellungnahmen ist daher durchaus vonpolitischer Relevanz. Tabelle 2 gibt die Zahl der Legitimationsäußerungen in den vierUntersuchungsländern zwischen 1998 und 2007 an.

Tabelle 2: Legitimationsäußerungen, nach Land und Jahr

Jahr N

1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

Land CH 17 9 12 20 12 85 8 17 19 73 272

DE 49 30 44 75 17 57 30 85 77 365 829

GB 53 22 63 86 80 102 39 176 21 84 726

US 24 11 22 42 14 16 16 54 21 29 249

N 143 72 141 223 123 260 93 332 138 551 2076

Aufgrund dieser Zahlen können wir drei Feststellungen treffen: Erstens ist die G8keine a-legitime Institution, d. h. ihr kommt regelmäßig in nennenswertem Umfang

5.

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kritisch bewertende oder unterstützende Medienaufmerksamkeit zu.18 Zweitens istdie Medienaufmerksamkeit jedoch in unseren vier Untersuchungsländern recht un-terschiedlich verteilt. Während sich in amerikanischen bzw. Schweizer Zeitungenüber zehn Jahre hinweg 249 bzw. 272 Legitimationsaussagen fanden, waren es inbritischen bzw. deutschen Zeitungen mit 726 bzw. 829 zwei- bis dreimal so viele.Man kann vermuten, dass diese Unterschiede darin begründet sind, dass die Wahr-nehmung der Bedeutung der G8 durch die jeweiligen Öffentlichkeiten sehr unter-schiedlich ist: Während die Schweiz kein Mitglied der G8 ist und die USA zwarMitglied sind, aber sich weitgehend über die eigene Position als letzte verbliebeneSupermacht definieren, ist die G8-Mitgliedschaft für Deutschland und Großbritanni-en eine Angelegenheit des Prestiges, der Ausweis der eigenen Bedeutung auf derweltpolitischen Bühne. In jedem Fall verdeutlichen diese Ergebnisse aber eines: Esist Vorsicht angebracht, wenn man sehr allgemein von einem Trend zur Politisierungvon internationalen Institutionen bzw. von wachsenden Legitimationsanforderungenan sie spricht. Das Legitimationsgeschehen läuft nicht uniform ab, sondern in deneinzelnen nationalen Öffentlichkeiten in recht verschiedenem Ausmaß. Drittens zeigtsich – nimmt man die vier untersuchten Öffentlichkeiten zusammen – im Zeitverlaufvon 1998 bis 2007 ein zwar fluktuierender, aber im Trend allmählich zunehmenderUmfang der Medienaufmerksamkeit. In der folgenden Abbildung 1 sind die für alleuntersuchten Länder aggregierten Zahlen dargestellt:

Abbildung 1: Anzahl von Legitimationsaussagen und Delegitimationsniveau, nachJahr, aggregiert für alle vier Untersuchungsländer

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

Birm

ingh

am Köln

Oki

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1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

Del

egiti

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)

0

100

200

300

400

500

600

Anzahl der Legitim

ationsaussagen

Delegitimationsniveau (alleAussagen)gl. Ø (Deleg.-Niv.; 3 Jahre)

Anzahl von Leg.-Aussagen

gl. Ø (Anzahl Aussagen; 3 Jahre)

18 Es ist freilich zu beachten, dass wir in zweierlei Hinsicht die Medienaufmerksamkeit nureingeschränkt darstellen können: Zum einen geben unsere Zahlen nur die bewertende Me-dienaufmerksamkeit wieder, d. h. die berichtende und konstatierende Medienaufmerk-samkeit wird nicht erfasst. Schlösse man sie mit ein, gäbe es deutlich mehr Aussagen mitG8-Bezug. Zum anderen geben die Zahlen keinen Aufschluss darüber, ob eine Institutionim Verhältnis zu anderen Regimes hohe Aufmerksamkeit genießt oder nicht (entsprechen-de Studien zu anderen internationalen Institutionen folgen jedoch).

Aufsätze

250

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Die untere, durchgezogene Kurve zeigt die Entwicklung der Zahl der Legitimati-onsaussagen über zehn Jahre hinweg. Zuallererst fällt dabei das Fluktuieren der Kurveauf, die seit 2000 einer steten Pendelbewegung folgt. Jenseits dieses Auf und Abjedoch kann man eine allmähliche Zunahme der Anzahl der Legitimationsaussagenausmachen, wie die gestrichelte Linie des gleitenden Dreijahresdurchschnitts ver-deutlicht. Das Auf und Ab selbst ist aber natürlich bemerkenswert: Offensichtlichhaben einzelne G8-Gipfel deutlich mehr kritische Aufmerksamkeit erregt als andere.Sieht man genauer hin, so erkennt man erstens, dass das Interesse an den Gipfeln inBirmingham (1998), Köln (1999) und Okinawa (2000) durchweg noch unterdurch-schnittlich war. Als Auslöser für wachsende Medienaufmerksamkeit darf man denvon Gewalt überschatteten Gipfel von Genua vermuten, auch wenn die Werte für2001 selbst weniger stark hervorstechen, als man vielleicht hätte erwarten können.Zweitens ist zu erkennen, dass seit 2001 diejenigen Gipfel, die in Westeuropa (Genua,Évian, Gleneagles, Heiligendamm) stattfanden, stets stärkeren Eingang in die Medi-enöffentlichkeit fanden als die Gipfel in Nordamerika (Kananaskis und Sea Island)und Russland (St. Petersburg). Bei letzteren war neben einer geringen Intensität desmedialen Legitimationsgeschehens auch eine geringe Protestintensität festzustellen,sei es aufgrund der mangelnden Mobilisierbarkeit der lokalen Protestgruppen, derUnzugänglichkeit einiger Gipfelorte19 oder weil Proteste weitgehend unterbundenwurden wie in Sankt Petersburg. Insofern könnte man von einem Ableitungszusam-menhang von Protestintensität und Legitimationsintensität im öffentlichen Diskursausgehen. Dies ist allerdings, wie Tabelle 3 zeigt, nur zum Teil der Fall (ein Umstand,der nicht zuletzt auch den analytischen Mehrwert unseres Blicks auf Legitimations-kommunikation unterstreicht). Im Untersuchungszeitraum ist die Abhängigkeit derProtestintensität von der Wahl des Gipfelortes recht augenfällig, während die hoheProtestintensität mehrerer Gipfel seit 1998 sich nur bedingt und allmählich in einerentsprechenden Kommunikationsintensität niederschlägt.

Tabelle 3: Protestintensität, Anzahl bewertender und Anteil kritischer Aussagen(1998-2007)

Gipfel/Jahr Demonst-rant(inn)en(geschätzt)a

Protest-intensitätb

# bewer-tender

Aussagenc

% kritischerAussagend

Birmingham 1998 70.000-80.000 hoch mittel mittel

Köln 1999 35.000-50.000 mittel niedrig mittel

Okinawa 2000 27.000-70.000 hoch niedrig mittel

Genua 2001 200.000-300.000 hoch hoch hoch

19 Dies trifft für die Gipfelorte Kananaskis und Sea Island zu. Gegen die These, dass dieschwere Erreichbarkeit eines Gipfelortes die Protestintensität mindert, spricht jedoch derumfangreiche Protest gegen den Gipfel von Évian, der sich alternative Protestorte suchte,allen voran Genf.

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Gipfel/Jahr Demonst-rant(inn)en(geschätzt)a

Protest-intensitätb

# bewer-tender

Aussagenc

% kritischerAussagend

Kananaskis 2002 2.000-3.000 niedrig niedrig sehr hoch

Évian 2003 30.000-100.000 hoch hoch sehr hoch

Sea Island 2004 < 300-1.000 niedrig niedrig sehr hoch

Gleneagles 2005 200.000-300.000 hoch mittel mittel

Sankt Petersburg 2006 < 1.000 niedrig niedrig hoch

Heiligendamm 2007 60.000-80.000 hoch hoch mittel

a Quellen: Baruchel/Dasilva (2005); Dafoe/Lin (2007); Hajnal (2006, 2007); Kirton (2002);Holzapfel/König (2001); Rucht (2002). Jeweils kleinste und größte genannte Zahl.b Protestintensität: Niedrig: < 10.000; mittel: zwischen 10.000 und 50.000; hoch: > 50.000Demonstrant(inn)en.c Anzahl bewertender Aussagen: Zugrunde gelegt wurde die Anzahl der Legitimationsaussagenin jedem der zehn Jahre; hoch = Zahl der Aussagen des jeweiligen Jahres im 4. (obersten)Quartil, mittel = Zahl der Aussagen im 3. Quartil, niedrig = Zahl der Aussagen kleiner als derMedian.d Anteil kritischer Aussagen: Zugrunde gelegt wurde der Prozentsatz delegitimierenderAussagen in jedem der zehn Jahre; sehr hoch = Prozentsatz des jeweiligen Jahres im 4.(obersten) Quartil, hoch = Prozentsatz der Aussagen im 3. Quartil, mittel = Prozentsatz kleinerals der Median.

Blickt man also auf das Ausmaß des bewertenden Medienechos auf die G8, so kanndie von Zürn et al. vorgetragene These, dass internationale Institutionen politisiertund zum Gegenstand von Legitimationskommunikation werden, vorsichtig bestätigtwerden. Diese Bestätigung gewönne an Qualität mit der Schärfe der Legitimations-auseinandersetzung, weil gemäß der obigen Definition insbesondere die konfronta-tive, mit negativen Bewertungen einhergehende Auseinandersetzung mit Institutio-nen für deren Politisierung spricht. Wir haben alle bewertenden Aussagen in unseremKorpus entweder als positive, legitimierende oder als negative, delegitimierendeAussagen eingeordnet. Aggregiert man die Aussagen der einzelnen Jahre des Unter-suchungszeitraums von 1998 bis 2007, so erhält man ein relativ eindeutiges Ergebnis:Der Anteil delegitimierender Aussagen bewegt sich in einem Korridor zwischen58 % (1999) und 81 % (2003) (vgl. Abb. 1, oben) und liegt über alle Untersuchungs-jahre hinweg bei 70,4 %. Dies sind, nimmt man die von uns für das Jahr 2004 erho-benen Delegitimationsniveaus nationalstaatlicher Institutionen zum Vergleich, sehrhohe Werte, so dass man von einer deutlich geringeren Legitimation der internatio-nalen Institution G8 sprechen muss (Hurrelmann et al. 2005, 2009). Es ist daher nichtverfehlt zu sagen, dass sich die G8 in einer anhaltenden medialen Vertrauenskrisebefindet (Delegitimationsniveau über 66 %). Ausnahmen bilden nur die Jahre 1999und 2005, in denen das Delegitimationsniveau mit etwa 60 % aber immer noch hoch

Aufsätze

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ist. Ein Trend hin zu einer erfolgreicheren oder noch weniger erfolgreichen Legiti-mation lässt sich aber über die zehn Jahre hinweg nicht erkennen.20 Das durchgängighohe Ausmaß an Delegitimation ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sie als inter-nationale Institution äußerst umstritten ist. Von einem Prozess der Politisierung kannman aber nur insofern sprechen, als die prozentual anhaltend hohe Delegitimierungim Kontext einer absolut steigenden Anzahl von Legitimationsäußerungen größereSichtbarkeit erhält. Wir haben es also mit einer Politisierung im Sinne der Ausweitungder Legitimationskommunikation zu tun, nicht aber mit einer Politisierung durch eineVerschärfung der Delegitimierung.

Unsere bisherigen Ausführungen sind nun in einer wichtigen Hinsicht zu qualifi-zieren. Institutionen können auf drei Ebenen bewertet werden: Bewertungen der In-stitution als solcher – mit Easton (1965) gesprochen: des institutionellen Regimes –finden sich neben Bewertungen des politischen Personals, das Ämter innerhalb einerInstitution ausfüllt (die Eastonschen authorities), und Bewertungen der policies, dieeine Institution verantwortet. Um zu einem möglichst umfassenden ersten Überblickzu kommen, sind in die oben vorgenommenen Ausführungen sämtliche bewertendeÄußerungen auf allen drei Ebenen eingeflossen. Dabei ist jedoch in Rechnung zustellen, dass Bewertungen von policies und Amtsinhabern (authorities) zwar kritischeEinschätzungen bezüglich Institutionen zum Ausdruck bringen, aber im Allgemeinennicht gleichbedeutend mit einer Infragestellung der Institution als solcher sind. AlsLegitimationsäußerungen im engeren Sinne verstehen wir deshalb nur Bewertungenauf der Regime-Ebene. Diese machen 1210 der insgesamt 2076 kodierten Aussagenaus (ca. 58 %), die für alle folgenden Auswertungen die Grundgesamtheit bilden.21

Im Vergleich der zehn Jahre und vier Länder wird die G8, betrachtet man nur dieBewertungen auf Regime-Ebene, noch kritischer beurteilt (Delegitimationsniveau76,9 %) als auf Grundlage aller bewertenden Aussagen (70,4 %). Abbildung 2 zeigtdie Entwicklung des Delegitimationsniveaus der G8 auf der Regime-Ebene sowiezum Vergleich auch die Entwicklung des Gesamtniveaus und des Niveaus der poli-cy-Aussagen (746 oder knapp 36 % aller Aussagen).22 Es fällt auf, dass die G8 aufder Regime-Ebene in acht von zehn Jahren schlechter bewertet wird als auf der po-licy-Ebene (die Ausnahmen sind 1998 und 2000). Die Unterschiede sind zum Teilbeträchtlich: So ist etwa 1999 das Delegitimationsniveau auf der policy-Ebene bei56 % und somit im Normalbereich, auf der Regime-Ebene erreicht es mit 71 % Kri-

20 Auch über die vier Vergleichsländer hinweg sind die Unterschiede gering: Das höchsteDelegitimationsniveau von 73,8 % ist in Großbritannien festzustellen, das niedrigste von64,7 % in den USA (Deutschland 68,4 %, Schweiz 72,8 %; jeweils aggregiert über zehnJahre).

21 Durch die Konzentration auf die Regime-Ebene verschiebt sich auch der Länderanteil ander Grundgesamtheit: Von unseren 1210 Fällen sind 216 (17,9 %) aus der Schweiz, 485(40,1 %) aus Deutschland, 416 (34,4 %) aus Großbritannien und 93 (7,7 %) aus den USA.

22 Es wurden zudem 120 authority-Aussagen (5,8 %) kodiert. Diese vergleichsweise geringeAnzahl erklärt sich aus der restriktiven Kodieranweisung, nur Personen, die dezidiert inihrer Funktion als G8-Vertreter benannt und beurteilt werden, als G8-authorities zu ko-dieren. Dies traf zumeist nur auf den jeweiligen Vorsitzenden zu.

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senniveau. Auf der Regime-Ebene lässt sich die Legitimation der G8 durchgehendals kritisch beschreiben (Delegitimation mindestens 66 %).

Folgt man einer Art Eskalationstheorie der Delegitimation, die implizit auch derUnterscheidung von policies, authorities und Regime in der Eastonschen Theoriezugrunde liegt, müsste die Kritik zunächst die policies betreffen. Kritik macht sichzunächst an umstrittenen Themen fest. Erst wenn sich auf dieser Ebene keine Ände-rung zeigt, greift die negative Bewertung auf die authorities über. Und erst wennderen Wechsel die Situation für die Beobachter nicht verbessert, sollte mit einer In-fragestellung der Institution selbst gerechnet werden. Im Fall der G8 ist ein derartigesEskalationsmuster über die Zeit nicht festzustellen. Unabhängig von der Bewertungder Themen und Probleme, die die G8 aufgreift und in mehr oder minder hoch be-werteten Lösungsansätzen zu bearbeiten sucht, bleibt die Institution, das Regime imEastonschen Sinne, dauerhaft umstritten. Nicht die Amtsinhaber oder policies bildendas Problem, um das sich die öffentliche Debatte primär rankt, sondern die G8 in ihrerGesamtheit. Die G8 bildet den besonderen Fall einer »freischwebenden«, von poli-cies durchaus unabhängigen Institutionenkritik. Damit dürfte die G8 der Musterfalleiner Institution sein, die als Institution in Frage gestellt wird. Bei ihr liegt eine seitmindestens zehn Jahren anhaltende genuine Legitimationskrise vor.

Abbildung 2: Delegitimationsniveaus der G8 als Regime sowie ihrer policies

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Delegitimationsniveau (alleAussagen)Delegitimationsniveau (nurRegime)Delegitimationsniveau (nur policy)

Politisierung der G8 – Argumentationslinien

Wir wollen nun genauer untersuchen, mit welchen Gründen der G8 die Legitimitätweitestgehend abgesprochen wird. Es geht also um den argumentativen Zusammen-hang der Politisierung. Im Kontext der modernen Demokratie und des Rechtsstaatswäre dabei zu erwarten, dass – neben dem materiellen Ertrag einer Ordnung – insbe-sondere die Frage eine Rolle spielt, inwieweit die G8 demokratischen und rechts-

6.

Aufsätze

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staatlichen Kriterien genügt. Vor dem Hintergrund der demokratietheoretischen De-batten zur Legitimität internationaler Institutionen wäre insbesondere damit zurechnen, dass Argumente wie nicht gegebene Partizipationsmöglichkeiten, mangel-hafte Rückführbarkeit von Entscheidungen auf den Volkswillen und intransparenteVerfahren eine wichtige Rolle spielen. Im Kontext rechtsstaatlicher Debatten wie-derum kann man erwarten, dass Argumente wie die nicht vorhandene rechtlicheGrundlage der Institution G8 oder die Parteilichkeit von G8-Entscheidungen vorge-bracht werden. Nimmt man den Entwurf von Zürn et al. als Erwartungsmaßstab, sodrückt sich die »normativ gehaltvolle Ordnung«, die sich auf internationaler Ebeneneu konstituiert, ganz wesentlich darin aus, dass internationale Institutionen ihr po-litisches Handeln begründen müssen (Transparenz, Deliberation) und dass diesesHandeln den Zielen von Gerechtigkeit und Fairness dient (Zürn et al. 2008: 108).Daneben spielen nach Zürn et al. (2007: 154-157) auch Argumente zur Partizipationund Repräsentativität von Institutionen, zur effektiven Problemlösung und zur Auto-nomie niederer politischer Einheiten eine Rolle. Man kann diese Argumente zu Ar-gumentationslinien zusammenfassen und sie als Argumente zur Input- (Volkssouve-ränität, Partizipation, Legalität etc.), zur Throughput- (Transparenz, Deliberation,Vermittlung etc.) und zur Output-Legitimität (Gerechtigkeit, Förderung des öffent-lichen Wohls, Effektivität, Effizienz etc.) klassifizieren.23 Erwartbar wäre nach demGrundtenor vieler theoretischer Debatten und auch nach dem Zürnschen Diktum der»normativ anspruchsvollen Ordnung« ein Vorherrschen von demokratietheoretischoder rechtsstaatlich begründbaren Input- und Throughput-Argumenten sowie von»anspruchsvollen« Output-Argumenten wie Beförderung von »Gerechtigkeit«. Eben-falls von Bedeutung, aber nicht so zentral sollten dagegen Argumente zu wenigeranspruchsvollen Output-Kriterien wie Effektivität oder Effizienz sein.24

In Tabelle 4 ist dargestellt, wie häufig Input-, Throughput- und Output-Argumenteim medialen Diskurs über die G8 Verwendung finden, welche einzelnen Argumente

23 Die zur Analyse verwendeten Legitimationsmuster wurden aus dem Abgleich der wissen-schaftlichen Literatur zu politischer Legitimation mit den in der Forschungsgruppe erar-beiteten Interpretationen ausgewählter Aussagen aus dem Textsample gewonnen. Insge-samt haben wir für diese Studie 25 verschiedene Legitimationsmuster erhoben und dendrei Kategorien Input, Throughput und Output folgendermaßen zugeordnet: Partizipation,Handlungsmacht (eine Institution ist legitim, weil sie wirksame Mittel aufbringen kann),Volkssouveränität, Führerschaft, Tradition, Legalität, internationale Legalität, Expertise(alle Input); Ernsthaftigkeit der Politik (keine Show), Vermittlung/Ausgleich, Glaubwür-digkeit, sinnvolle Agenda, Transparenz, Rechenschaftspflicht, Deliberation (alle Through-put); Effektivität, Effizienz, Förderung des Gemeinwohls (in einem spezifischen Sinn,Bewertung der G8 als Institution, die (nicht) nur die Interessen ihrer Mitglieder im Sinnhat), Verteilungsgerechtigkeit, Innovation, Schutz der Menschenrechte, Beitrag zur Mo-ralität, Demokratieförderung, Beitrag zur Stabilität, guter internationaler Ruf (alle Out-put). In der wissenschaftlichen Literatur ist umstritten, ob oder in welchem Maße die Le-gitimität internationaler Institutionen nicht anhand klassisch demokratischerLegitimationsmaßstäbe beurteilt werden kann. Unsere Analysen zeigen nur, das im öf-fentlichen Diskurs diese klassischen Maßstäbe regelmäßig zur Bewertung internationalerInstitutionen herangezogen werden, eine normative Aussage darüber, welche Legitimati-onskriterien angemessen sind, ist nicht beabsichtigt.

24 Vgl. zur qualitativen Auswertung von Input-, Throughput- und Output-Argumentationen:Gronau et al. (2009).

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innerhalb dieser Sammelkategorien am häufigsten sind (genannt sind jeweils die dreihäufigsten Einzelmuster von Input, Throughput und Output) und in welchem Ausmaßdiese Argumente zur Delegitimierung der G8 beitragen. Auf der aggregierten Ebeneerkennt man zunächst, dass Argumente, die sich auf die Input-Legitimität beziehen,insgesamt (über alle vier Länder und zehn Jahre hinweg) nur knapp 20 % aller Beur-teilungen des G8-Regimes ausmachen. Interessanterweise wird die Legitimität derG8 deutlich häufiger auf der Throughput- und der Output-Ebene diskutiert: Argu-mente zur Throughput-Argumentation machen 33 % und Argumente zur Output-Ar-gumentation 34 % aller Argumente aus. Hinzu kommen noch gut 13 % Bewertungender G8, die allgemeiner Natur ohne die genaue Angabe eines Grundes sind.

Aufsätze

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Tabelle 4: Häufigkeit und Delegitimationsniveau von Argumenten zur Bewertung derG8 (nur Aussagen zum Regime G8)

Legitimationsmuster Anzahl % vonInput

% vonallen

Deleg.-niveau

Input Partizipation 83 34,9 6,9 88,0 Handlungsmacht 47 19,7 3,9 80,9 Volkssouveränität 47 19,7 3,9 76,6 weitere Input-Muster 61 25,6 5,0 75,4

Input gesamt 239 100,0 19,7 81,1

% vonThroug

hput

Throughput ernsthafte Politik (keine Show) 136 34,0 11,2 91,9 Vermittlung/Ausgleich 85 21,3 7,0 38,8 Glaubwürdigkeit 60 15,0 5,0 95,0 weitere Throughput-Muster 119 29,8 9,8 65,5

Throughput gesamt 400 100,0 33,1 73,3

% vonOutput

Output Effektivität 199 48,5 16,4 85,4 Effizienz 67 16,3 5,5 92,5 Förderung des Gemeinwohls 41 10,0 3,4 87,8 weitere Output-Muster 103 25,1 8,5 75,7

Output gesamt 410 100,0 33,9 84,4 Andere kein explizites Muster 162 13,4 60,5 Alle Bewertungen 1210 100,0 76,9

Betrachten wir nun einzelne Legitimationsmuster, so fällt auf der Input-Ebene auf,dass dort nicht nur die klassischen, demokratietheoretischen oder rechtsstaatlichenArgumente wie Volkssouveränität, Partizipation und legale Konstituiertheit der In-stitution auftreten. Diese bilden zusammen genommen gut die Hälfte aller input-be-zogenen Argumente und prägen nur 11,8 % aller Legitimationsäußerungen (darunterdas Argument »Partizipation« mit 6,8 und das Argument »Volkssouveränität« mit 3,9Prozentpunkten). Daneben finden sich aber auch Argumente, welche die Legitimitätder G8 danach beurteilen, welche Fähigkeiten dort zur Verfügung stehen und einge-setzt werden, z. B. Handlungsmacht (3,9 %) und Führungskompetenz (2,6 %).

Martin Nonhoff/Jennifer Gronau/Frank Nullmeier/Steffen Schneider: Zur Politisierung internationaler Institutionen

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Im Bereich der Throughput-Legitimation stößt man auf eine Überraschung: Diegenuinen demokratietheoretischen Throughput-Kriterien Transparenz (4,5 %) undDeliberation (1,4 %) sind in ihrer expliziten Form unter den drei am häufigsten ver-wendeten Argumentationen nicht zu finden. Mit Abstand am häufigsten wird die G8auf der Throughput-Ebene danach bewertet, ob sie ernsthafte Politik betreibt oder nureine Showveranstaltung ist (11,2 %). Die G8 erscheint also als eine Institution, derenStatus zwischen Politik und Theater noch nicht ganz geklärt ist. Es folgen die Kriterien»Vermittlung/Ausgleich« (im Sinne diplomatische Mäßigung bzw. der Qualität derG8, ein Gesprächsforum zu bieten) (7,0 %) und »Glaubwürdigkeit« (5,0 %).

Die Output-Ebene der Argumentation wird ganz klar dominiert von der Evaluierungder G8 nach den formalen Maßstäben von Effektivität (16,4 %; Effektivität ist damitdas häufigste aller Legitimationsmuster) und Effizienz (5,5 %). Normativ besondersaufgeladene, output-bezogene Evaluationskriterien finden hingegen verhältnismäßigselten Verwendung: so z. B. die Förderung des Gemeinwohls mit 3,4 %, Verteilungs-gerechtigkeit mit 2,5 % und der Schutz der Menschenrechte mit 1,5 %.

Es ist weiter zu prüfen, ob sich das oben festgestellte hohe Delegitimationsniveauder G8 und damit ihre kommunikative Politisierung in ähnlicher Weise auf die ganzePalette möglicher Beurteilungskriterien zurückführen lässt oder ob bestimmte Argu-mente ganz besonders die Politisierung befördern und der Kritik der G8 dienen. Aufder aggregierten Ebene wird die G8 am kritischsten anhand von Output-Argumentenbeurteilt (84,4 % aller Äußerungen sind delegitimierend); etwas niedriger, aber immernoch sehr hoch sind die Delegitimationsniveaus in den Bereichen der Input- (81,1 %)und der Throughput-Legitimation (73,3 %). Unter den am häufigsten verwendeteneinzelnen Legitimationsmustern sind die Delegitimationsniveaus der G8 am höchstenmit Verweis auf die Glaubwürdigkeit (95,0 %), die Effizienz (92,8 %) und die Ernst-haftigkeit der von ihr betriebenen Politik (91,9 %). Da das kritische Potenzial einerArgumentation sich neben dem Anteil delegitimierender Äußerungen auch noch inder Gesamtzahl der Äußerungen, die diese Argumentation aufnehmen, ausdrückt,kommt auch dem am häufigsten verwendeten Muster »Effektivität« große delegiti-mierende Bedeutung zu, selbst wenn hier das Delegitimationsniveau mit 85,5 % etwasniedriger ist. Eine Ausnahme bildet das Argumentationsmuster »Vermittlung/Aus-gleich«, das als einziges der oft verwendeten Muster eine deutlich legitimierendeFunktion hat (Delegitimationsniveau mit 38,8 % klar unter 50 %). Ansonsten fallennur noch die allgemeinen Bewertungen ohne Bezug auf ein klares Argumentations-muster etwas milder aus: Sie sind zu 60,5 % delegitimierend.

Man kann zusammenfassen, dass die G8 über die zehn Jahre von 1998 bis 2007hinweg nicht nur am häufigsten, sondern auch am kritischsten nach ihrem Outputbeurteilt wird. Von den konkreten Kriterien, die am häufigsten zur Evaluierung an-gewendet werden, werden mit einer Ausnahme (Vermittlung/Ausgleich) alle in sehrhohem Ausmaß zur Delegitimierung der G8 verwendet. Interessant ist dabei aller-dings, dass von den Legitimationskriterien, die im Kontext von demokratie- oderrechtsstaatstheoretischen Debatten oft diskutiert werden – insbesondere Volkssou-veränität, Partizipation, Legalität, Transparenz, Deliberation –, nur dem Kriteriumder Partizipation (und eingeschränkt jenem der Volkssouveränität) eine gewichtige

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kritische Rolle zufällt (hoher Anteil und hohes Delegitimationsniveau). Doch auchmit diesem Argument verbindet sich oft keine klassische demokratietheoretische Kri-tik, weil es ähnlich häufig zur Kritik mangelnder Beteiligungsmöglichkeiten vonStaaten, die nicht G8-Mitglieder sind, verwendet wird wie zur Kritik fehlender Kanäleder Bürgerbeteiligung. Die kommunikative Politisierung der G8 in der Qualitätspres-se beruht hingegen vor allem auf zwei Argumentationslinien, deren Prominenz vorder Folie der vorliegenden Theoreme zur Politisierung internationaler Institutionenin dieser ausgeprägten Form nicht zu erwarten war: auf der Kritik der Effektivität derG8 einerseits und auf der Missbilligung ihres Showcharakters bzw. der Nicht-Ernst-haftigkeit ihrer Politik andererseits.

Die Legitimationskrise der G8 beruht mithin nicht vorrangig auf der Infragestellungdes nicht-demokratischen, bloß intergouvernemetalen und Club-Charakters dieserEinrichtung. Vielmehr dominiert eine Kritik, welche die Erfolgsträchtigkeit undErnsthaftigkeit des gesamten Unternehmens in Frage stellt. Diese Institution gilt alsgenuin illegitim, weil sie mit hohem Aufwand nicht lösungsförderlich wirkt. Die G8steht in der Öffentlichkeit als ineffektive Showveranstaltung da, die zudem noch par-tizipationsfeindlich und intransparent ist. Bemerkenswert ist, dass sich diese Kritikam Regime der G8 nicht von den konkreten Ergebnissen in einzelnen Politikfeldernirritieren lässt. Unabhängig vom Grad der policy-Kritik scheint festzustehen, dass dieG8 zu policy-Lösungen nichts Wesentliches beitragen kann.

Diese Ergebnisse bestätigen sich auch im Zeitverlauf. Abbildung 3 zeigt die Anteileder aggregierten Legitimationsmusterkategorien. Man erkennt deutlich, dass Input-Argumente in jedem der zehn Untersuchungsjahre eine geringere quantitative Be-deutung haben als Throughput- und Output-Argumente, wobei letztere etwa gleich-gewichtig vertreten sind. Wie oben dargestellt, finden innerhalb der drei aggregiertenLegitimationsmuster die einzelnen Muster Partizipation, ernsthafte Politik und Ef-fektivität am häufigsten Verwendung. Abbildung 4 zeigt die prozentuale Häufigkeitdieser Muster im Zeitverlauf. Hier sind drei Ergebnisse hervorzuheben: Erstens istdie hohe Bedeutung des Legitimationsmusters »Effektivität« über die Jahre hinwegrelativ konstant. Zweitens existiert ein loser negativer Zusammenhang zwischen Ef-fektivitäts- und Partizipationsargumenten, da beide Kurven eine fast durchgehendgegenläufige Entwicklung zeigen: Wenn Effektivitätsargumente häufiger verwendetwerden, kommen Partizipationsargumente seltener zum Einsatz und umgekehrt. Diesist ein Indiz dafür, dass es eine Konkurrenzbeziehung zwischen input- und output-orientierten Argumentationen gibt. Drittens schließlich zeigt sich, dass die Verwen-dung des Musters »ernsthafte Politik«, das ja üblicherweise im Sinne von »keineernsthafte Politik« delegitimierend eingesetzt wird, seit dem Jahr 2001 in interessanterWeise schwankt: Es kommt bei jenen Gipfeln verhältnismäßig selten zum Einsatz, indenen die Protestintensität am höchsten ist: Genua, Évian, Gleneagles und Heiligen-damm (vgl. Tab. 3). Zugleich wird seit dem Jahr 2001 der Showcharakter immer dannbesonders betont, wenn die Gipfel eine niedrige Protestintensität und ein geringeskritisches Medieninteresse hervorriefen: Kananaskis, Sea Island und St. Petersburg(vgl. oben Tab. 3 und Abb. 2). Mit wachsendem Ausmaß der Proteste scheint die G8also interessanterweise medial als ernsthaftere Institution wahrgenommen zu werden.

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Abbildung 3: Anteil der aggregierten Begründungsmuster im Legitimationskampf umdie G8

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50

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70B

irmin

gham Köl

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Gen

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Kan

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kis

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an

Sea

Isla

nd

Gle

neag

les

Pet

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urg

Hei

ligen

dam

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1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

Ant

eil a

n al

len

Äuß

erun

gen

eine

s Ja

hres

InputThroughputOutputallg. Bewertungen

In Variation des Sprichworts »Viel Feind, viel Ehr« tragen die Proteste, die gewissprimär auf die Delegitimation der G8 hinzielen, somit in bestimmter Hinsicht auchzu ihrer Legitimation bei.25

25 Neben der prozentualen Häufigkeit, mit der es überhaupt eingesetzt wird, bemisst sich daskritische Gewicht eines Arguments auch nach seinem Delegitimationsniveau. Da diesesbei den drei hier genauer beleuchteten Argumenten über die zehn Jahre hinweg durchge-hend sehr hoch ist – mit einer Ausnahme liegen die dreißig Werte alle bei wenigstens76 % – verzichten wir hier jedoch auf eine detailliertere Darstellung. Eine Ausnahme stelltdas Legitimationsmuster »Partizipation« im Jahr 2002 mit einem Delegitimationsniveauvon 67 % dar.

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Abbildung 4: Anteil der Begründungsmuster

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5

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Birm

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Köl

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1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

Ant

eil a

n al

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gen

eine

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PartizipationEffektivitäternsthafte Politik

Wer streitet? Die Sprecher des G8-Diskurses

Der G8-Diskurs wird in den untersuchten Qualitätszeitungen ganz wesentlich von dervierten Gewalt getragen, also von Sprechern, die man der Presse selbst zuordnen kann.Wie Tabelle 5 zeigt, stammen gut 60 % der 1210 Aussagen, die das G8-Regime be-urteilen, von Journalisten. Die zweitgrößte Sprechergruppe (25,5 %) sind Zivilge-sellschaftsakteure, zu denen Wissenschaftler, Kulturschaffende (z. B. die »CelebrityDiplomats« Bono und Bob Geldof) und »einfache Bürger« zählen, deren bedeutendsteUntergruppe aber aus den Vertretern von Nichtregierungsorganisationen besteht(10,9 % von allen). Die drittgrößte Gruppe, auf die jedoch lediglich noch 8,8 % allerwertenden Aussagen entfallen, sind nationale Politiker. Sogar nur 1,7 % der Aussagenstammen von politisch Verantwortlichen, die nicht in ihrer Funktion als nationalePolitiker, sondern als Vertreter der G8 sprechen. Sieht man von den Journalisten selbstab, so ergibt sich das interessante Ergebnis, dass der Großteil der Akteure, die indiesem Forum zu Wort kommen, nicht die Gestalter des G8-Prozesses (G8-Vertreterund nationale Politiker) sind, sondern zivilgesellschaftliche Akteure, v. a. Vertreterder NGOs, die den Prozess von außen betrachten und analysieren. Und diese äußerenBetrachter sind überaus kritisch eingestellt: Genau neun von zehn Äußerungen vonZivilgesellschaftsakteuren sind delegitimierender Natur. Wenig überraschend ist,dass aus dieser ohnehin schon sehr skeptischen Gruppe die Untergruppe derjenigen,die anlässlich der G8-Gipfel demonstrieren, die weitaus kritischste darstellt (auf ei-nem Delegitimationsniveau von 97,6 %). Doch auch die Journalisten, also die zah-lenmäßig weitaus größte Gruppe, delegitimiert die G8 zu nahezu 80 %. Im krassenGegensatz hierzu stehen die Vertreter der G8 selbst, die mit keiner einzigen G8-kri-

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tischen Äußerung zitiert werden. Und auch diejenigen Politiker, die jeweils dem Re-gierungslager zuzurechnen und damit meistens an den Gipfeln unmittelbar beteiligtsind, sehen die G8 in wesentlich hellerem Licht (Delegitimationsniveau von 25,6 %).Die Konstellation des kommunikativen Legitimationsverhaltens der jeweiligen Spre-chergruppen spricht somit zweifellos dafür, von einer Politisierung der G8 auszuge-hen. Denn unter einer Politisierung hatten wir oben einen Prozess verstanden, in demAkteure, die einer politischen Institution nahe stehen bzw. in ihr mitwirken, dieseverteidigen, während sie insbesondere von zivilgesellschaftlichen Akteuren und derveröffentlichten Meinung attackiert wird. Genau das lässt sich mit den gezeigtenZahlen im Fall der G8 gut nachweisen.

Tabelle 5: Beteiligung von Sprechergruppen am G8-Diskurs, Häufigkeit undDelegitimationsniveau (nur Aussagen zum Regime G8)

Gesamt % vonallen

% vonNicht-

Journalisten

Deleg.-Niveau

Journalisten 728 60,2 — 79,0

Politiker(innen) (national)a 106 8,8 22,0 35,8davon … … aus dem des Regierungslager 82 6,8 17,0 25,6… aus dem Oppositionslager 16 1,3 3,3 75,0… weitere 8 0,7 1,7 62,5

Vertreter(innen) intern.Organisationen

29 2,4 6,0 17,2

davon G8-Sprecherb 21 1,7 4,4 0,0

Zivilgesellschaftsakteure 309 25,5 64,1 90,0davon … … Vertreter(innen) von NGOs 132 10,9 27,4 93,9… einzelne Bürgerc 49 4,0 10,2 95,9… Demonstrant(inn)en 42 3,5 8,7 97,6… weitere 86 7,1 17,8 76,7

Sonstige 38 3,1 7,9 89,5

Alle Sprecher 1210 100,0 100,0 76,9

a Hierunter fallen alle Sprecher, die in ihrer Funktion als politisch Verantwortliche einesNationalstaats auftreten (unter Einschluss von z.B. Richter(innen) und Bürokrat(innen), dienicht der Regierung oder Opposition zuzuordnen sind). Zum allergrößten Teil sind diesPolitiker(innen) desjenigen Staates, in dem die jeweils untersuchte Zeitung erscheint.b Dies sind für gewöhnlich die jeweiligen G8-Vorsitzenden.c »Einzelne Bürger« im Sinne von Interviewpartnern, Leserbriefschreibern o. Ä.

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Genau genommen belegen diese Zahlen jedoch noch nicht einen Prozess der Poli-tisierung, sondern nur einen anhaltend hohen Grad an Politisiertheit der G8 im Zehn-jahreszeitraum. Gibt es eine zeitliche Dynamik in den Sprecherpositionen, die unsauch von einer Politisierungstendenz sprechen ließe? Um dieser Frage nachzugehen,haben wir vereinfachend die G8-Vertreter und die Vertreter der nationalen Regie-rungslager zu einem Block der Verteidiger zusammengefasst und ihn den Zivilge-sellschaftsakteuren als Block der Kritiker gegenübergestellt. Diese Gegenüberstel-lung im Zehnjahresverlauf zeigt jedoch nicht den Trend, den man im Fall einerPolitisierung erwarten dürfte: Weder verschärfen die G8-Gegner ihre Kritik, nochnimmt die Vehemenz der G8-Verteidiger seitens ihrer wenigen Freunde zu. Entspre-chend gibt es auch keine Dynamik bzw. Verschärfung der Konfrontation zwischenbeiden Blocks. Die Konfrontation bleibt durchgehend auf unverändert hohem Niveauerhalten. Die Legitimationslage und der Politisierungsgrad der G8 sind über einenZeitraum von zehn Jahren mithin stabil.

Resümee

Nimmt man die Legitimationskommunikation, wie sie in der Qualitätspresse derSchweiz, Deutschlands, Großbritanniens und der USA stattfindet, als Maßstab, sospricht vieles dafür, von einer Politisierung der G8 zu sprechen. Wir konnten erstensfeststellen, dass die G8 eine beachtliche Rolle als Legitimationsobjekt spielt, dass siemithin nicht unbeachtet, ungerechtfertigt und damit a-legitim ist. Zweitens wird dieLegitimität der G8, und zwar sowohl ihrer policies wie auch der G8 als Regime,intensiv in Frage gestellt. Die Kritik am G8-Regime erreicht ein solches Ausmaß,dass man für den Zeitraum zwischen 1998 und 2007 von einer anhaltenden Legiti-mationskrise sprechen kann. Der Legitimationskonflikt manifestiert sich in einerKonfrontation klarer Gegenpositionen: Während die nationalen Regierungsvertreterund die G8-Repräsentanten selbst die Gruppe der Acht weitestgehend in Schutz neh-men, können ihr insbesondere die Presse und die Vertreter der Zivilgesellschaft nursehr wenig abgewinnen und stellen ihre Legitimität anhaltend in Zweifel. Die Maß-stäbe, nach denen die G8 beurteilt wird, bzw. die Argumente, mit denen der Legiti-mationskampf ausgetragen wird, sind allerdings nur zum Teil diejenigen, die manvielen Demokratie- oder Rechtsstaatstheorien folgend erwarten würde: Das bedeu-tendste Kriterium ist das der Effektivität, die der G8 weitestgehend abgesprochenwird. Spiegelbildlich hierzu wird ihr regelmäßig vorgeworfen, keine ernsthafte Politikzu betreiben, sondern nur Politikshow oder »photo opportunity« zu sein. Die klassi-schen demokratietheoretischen Kritiken an der G8 – mangelnde Partizipationsmög-lichkeiten, Aushebelung der Volkssouveränität, keine Transparenz etc. – spielen hin-gegen eine überraschend geringe Rolle. Zudem wird von Partizipation oft im Sinneder Partizipation von Staaten, nicht von Bürgern gesprochen.

In einer dritten, temporalen Hinsicht kann man allerdings nur eingeschränkt vonPolitisierung sprechen: In unserem Zehnjahreszeitraum konnten wir keine klare Dy-namik zu einer Verschärfung der politischen Umstrittenheit ausmachen. Allenfalls

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die quantitative Ausweitung der Legitimationskommunikation insgesamt bei anhal-tend hohem Delegitimationsniveau erlaubt eine dynamische Lesart. Das Delegitima-tionsniveau selbst lässt ebenso wenig einen Trend zur Verschärfung erkennen wie dieKluft zwischen den Sprecherblöcken. Dies mag vielleicht auch daran liegen, dass dasDelegitimationsniveau schon zu Beginn des Untersuchungszeitraums recht hoch warund die Kluft zwischen den Parteien schon deutlich zu Tage trat. Daher kann man mitBlick auf die G8 eher von einem langjährig hohen Grad an Politisierung als von einemEntwicklungsprozess der Politisierung sprechen.

Der Fall G8 gibt uns somit einige weitere Indizien, wie sich die Politisierung in-ternationaler Institutionen erklären lässt: Politisierung ist nicht von einem einzigenstrukturellen Merkmal einer Institution (so ihrem Grad an Supra- oder Transnationa-lisierung) abhängig. Symbolträchtigkeit und Überschaubarkeit einer Institution bil-den weitere für Politisierungsprozesse einflussreiche Faktoren. Die G8 ist durch dasperiodische Zusammentreffen der mächtigsten Staatschefs eine äußerst symbolträch-tige Institution, die auch selbst hohen Wert auf Inszenierung legt (vgl. auch Gronauet al. 2009). Eng hiermit verbunden ist das vergleichsweise einfach zu überschauendeErscheinungsbild: Wo etwa das System der Vereinten Nationen oft als schier un-durchdringliches Geflecht von anonymen Institutionen konstruiert wird, treten beiG8-Treffen acht Staats- und Regierungschefs sehr plastisch und greifbar als »Übel-täter« oder »Hoffnungsträger« in Erscheinung. Im Angesicht der G8 erscheint inter-nationale Politik als relativ wenig komplex, ein Eindruck, der gerade durch dieschwache institutionelle Ausgestaltung befördert wird. Entscheidend dürfte aber sein,dass Überschaubarkeit und thematische Allkompetenz zusammentreffen. Erzeugtschon die personale Zusammensetzung der G8 weitreichende Zuständigkeitsprojek-tionen, so befördert die ständige Ausdehnung der Themen durch die Gipfelteilnehmerselbst die Erwartung, dass hier eine Einrichtung vorhanden ist, die für die Lösung derWeltprobleme umfassend zuständig ist. Diese Fiktion einer Allzuständigkeit, die bis-her nur mit dem Nationalstaat, vielleicht in Grenzen noch mit der UN verbundenwerden konnte, trägt unseres Erachtens entscheidend zu dem hohen Grad an Politi-sierung einer internationalen Institution bei. Während bei internationalen Institutio-nen, die auf engere Aufgabengebiete bezogen und damit funktional spezifiziert sind,immer die Möglichkeit des fachlich-bürokratischen und expertokratischen Auffan-gens von Legitimationsanforderungen besteht, gilt dies für funktional entgrenzte Ein-richtungen nicht. Die Kombination von Symbolhaftigkeit, Übersichtlichkeit und All-zuständigkeit erleichtert es kritischen Akteuren, Infragestellung und Protest zuorganisieren, und macht so die G8 zu einem idealen Politisierungsobjekt globalenRegierens.

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Aufsätze

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Christian Grobe

Wie billig ist Reden wirklich?Kommunikative vs. strategische Rationalität in einem experimentellenDiktatorspiel

Seit Beginn der ZIB-Debatte hat der kommunikationstheoretische Ansatz einen in-teressanten Evolutionsprozess durchlaufen, der zu einer verstärkten Hinwendung zuden institutionellen Rahmenbedingungen für erfolgreiches kommunikatives Handelngeführt hat. Gleichzeitig haben behavioristische Spieltheoretiker – nahezu unbemerktvon der politikwissenschaftlichen Forschung – den rational-choice-Ansatz auf einbreiteres Fundament gestellt. Vor diesem Hintergrund verfolgt dieser Artikel eindoppeltes Ziel: Im theoretischen Teil zeigt er, dass die Ausblendung neuer rationa-listischer Erklärungen die Ergebnisvalidität kommunikationstheoretischer Arbeitengefährdet. Sobald nämlich argumentationsbasierte Verhaltensänderungen auch ausrationalistischer Perspektive erschließbar werden, kann der kontrafaktische Nach-weis kommunikativen Handelns vornehmlich über den institutionellen Kontext in ei-nem Kurzschluss resultieren. Zur Minimierung dieser potenziellen bias-Gefahr be-stimmt der Artikel das Verhältnis zwischen kommunikativer und strategischerRationalität neu, um anschließend im empirischen Teil den relativen Erklärungsbei-trag dieser beiden Rationalitätskonzepte im Rahmen eines Laborexperiments verzer-rungsfrei zu vermessen. Dabei wird auch deutlich, wie die experimentelle Methodedie empirische Feldforschung ergänzen kann – sie sollte daher zukünftig einen gleich-berechtigten Platz im Methodenkabinett der IB einnehmen.

Einleitung1

In der ersten Ausgabe der Zeitschrift für Internationale Beziehungen hat Harald Mül-ler (1994) vor mehr als einem Jahrzehnt den Grundstein für eine sprachphilosophischinspirierte Theorie multilateraler Verhandlungen gelegt. Sein Artikel löste damals dieinteressanteste Debatte der neueren deutschen Internationalen Beziehungen aus. Anihrem Anfang stand die Idee, unter Rückgriff auf die Habermassche Theorie deskommunikativen Handelns, eine Alternative zu den rationalistischen Ansätzen desdamaligen Mainstreams zu entwickeln. Erklärtes Ziel war es, das Konzept der kom-munikativen Rationalität2 für die politikwissenschaftliche Forschung fruchtbar zumachen und seine Stärken gegenüber dem strategischen Rationalitätsbegriff der

1.

1 Für inhaltliche Verbesserungsvorschläge zu früheren Versionen dieses Artikels danke ichJörg Oechssler und Carsten Schmidt sowie der ZIB-Redaktion und ihren GutachterInnen. Beider Durchführung der Experimente haben mich Florentine Kessler und Marco Breit tatkräftigunterstützt; auch ihnen bin ich zu großem Dank verpflichtet.

2 Im Folgenden benutze ich die Begriffe kommunikatives Handeln und kommunikative Ra-tionalität synonym (vgl. Risse 2007: 64f). Gleiches gilt für strategisches Handeln und stra-tegische Rationalität.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen16. Jg. (2009) Heft 2, S. 269 – 297

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Spieltheorie zu demonstrieren. Reden, so das viel zitierte kommunikationstheoreti-sche Credo, sei keineswegs billig, sondern besitze vielmehr die Kraft, »die gegen-seitigen Präferenzen und Nutzenkalküle [der Akteure] wechselseitig zu verändern«(Risse-Kappen 1995: 178) – eine klare Abgrenzung zu rationalistischen Ansätzen,deren theoretischer Kern seit jeher die Annahme fixer Präferenzen ist (Becker 1978:5; Jehle/Reny 2003: 5-19).

Seit diesem ersten Auftritt auf der Bühne der deutschen Internationalen Beziehun-gen hat das Konzept des kommunikativen Handelns einen interessanten Evolutions-prozess durchlaufen, der sowohl zu einer Entkopplung von Interaktionseinstellungenund Kommunikationsmodi als auch zu einer verstärkten Hinwendung zu den institu-tionellen Rahmenbedingungen für erfolgreiches Argumentieren in multilateralenVerhandlungen geführt hat.3 Doch der Reihe nach: Die ersten Versuche, kommuni-katives Handeln in realen Verhandlungssituationen nachzuweisen, zielten auf dieEntdeckung von Sequenzen argumentativer Rede. Diesem Vorgehen lag die Thesezu Grunde, dass ein logischer Konnex zwischen dem argumentativen Sprachgebrauchund einer verständigungsorientierten Interaktionseinstellung der Akteure bestehe. DieAllgegenwart des Argumentierens, die Harald Müller und Thomas Risse in ihremgemeinsam geleiteten Forschungsprojekt zu kommunikativem Handeln in multilate-ralen Verhandlungen feststellten,4 machte es jedoch unmöglich, die Interaktionsein-stellung eines Akteurs eindeutig auf sein Kommunikationsverhalten zurückzuführen:»For methodological as well as practical reasons it proved impossible to infer fromthe use of arguments the interaction orientation of actors« (Deitelhoff/Müller 2005:171).5

Diese Schwierigkeit der eindeutigen Identifikation subjektiver Handlungsorientie-rung hat die Vertreter des kommunikationstheoretischen Ansatzes dazu veranlasst,den institutionellen Kontext für erfolgreiches kommunikatives Handeln verstärkt inden Vordergrund zu rücken.6 Trotz dieser Fokusverschiebung haben sie jedoch andem definierenden Kriterium kommunikativer Rationalität festgehalten: der Bereit-schaft der Akteure ihre ursprünglichen Interessen im Lichte des besseren Argumentsanzupassen und so ihre Handlungspläne einvernehmlich zu koordinieren (vgl. Risse2007: 64). Lediglich die Nachweisstrategie hat sich verändert: Anstatt kommunika-tives Handeln direkt über die Interaktionseinstellungen der Akteure zu identifizieren,wird nun analysiert, unter welchen institutionellen Rahmenbedingungen Argumen-tation zu einem »Interessenwandel durch Überzeugung« (Deitelhoff 2007: 33) führt.

3 Hier ist nicht der Ort, um diesen spannenden Prozess in all seinen Facetten nachzuzeichnen.Der interessierte Leser findet einen hervorragenden Überblick bei Thomas Saretzki (2007).

4 Für eine Zusammenfassung der Projektergebnisse siehe Ulbert et al. (2004) sowie Deitelhoff/Müller (2005).

5 Diese Allgegenwart argumentativer Rechtfertigung ist darauf zurückzuführen, dass auch reinstrategisch kalkulierende Akteure zur Durchsetzung ihrer Ziele oft auf verallgemeinerbareArgumente zurückgreifen. Darauf hatte zuvor bereits Katharina Holzinger (2001) hingewie-sen.

6 Diese Hinwendung zur institutionellen Kontextanalyse bildet auch den gemeinsamen Nenner,auf dem die verschiedenen Ausprägungen der Theorie des kommunikativen Handelns heuteruhen, wie ein Blick in die Beiträge von Nicole Deitelhoff, Thomas Risse und Harald Müllerzu einem Sammelband über Habermas und die IB-Theorie (Herborth/Niesen 2007) offenbart.

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Gewährleistet ein institutioneller Rahmen eine Approximation an die Bedingungender idealen Sprechsituation und ist zugleich eine Verhaltensänderung in Folge argu-mentativen Austauschs gegen die herrschende Macht- und Interessenkonstellation zubeobachten, wird kontrafaktisch auf erfolgreiches kommunikatives Handeln – spricheinen Interessenwandel der Akteure – geschlossen (Deitelhoff 2009: 46).

Solange das rationalistische Theoriegebäude hauptsächlich aus macht- und inter-essenorientierten Ansätzen gemauert war, konnte an dieser Nachweisstrategie kaumetwas ausgesetzt werden. Schließlich fehlte es Rationalisten lange an einer überzeu-genden Erklärung für argumentationsbasierte Verhaltensänderungen, die entgegender herrschenden Macht- und Interessenkonstellation in internationalen Verhandlun-gen beobachtet wurden und nicht das direkte Resultat von strategischen Täuschungen(Crawford 2003), Reputationsängsten in Folge rhetorischer Selbstverstrickungen(Schimmelfennig 2001) oder professionell orchestrierten shaming-Kampagnen wa-ren (Keck/Sikkink 1998). Dies hat sich aber im Zuge der behavioristischen Wendeder Spieltheorie geändert – leider weitgehend unbeachtet von der deutschen politik-wissenschaftlichen Forschung (vgl. Schneider 2007: 12-14).

Ausgerüstet mit den Erkenntnissen zahlreicher Laborexperimente haben behavio-ristische Spieltheoretiker begonnen, den rational-choice-Ansatz auf ein neues, brei-teres Fundament zu stellen.7 In diesem Zusammenhang wurden auch zahlreiche Ein-flüsse interpersonaler Kommunikation – cheap talk im Jargon der Spieltheoretiker –auf das Verhalten einzelner Akteure unter Beibehaltung der Annahme fixer Präfe-renzen identifiziert. Wenn nun aber plötzlich auch rationalistische Ansätze argumen-tationsbasierte Verhaltensänderungen potenziell erklären können, resultiert der Nach-weis von kommunikativem Handeln allein über den institutionellen Kontext in einemKurzschluss. Denn förderliche institutionelle Rahmenbedingungen, selbst wenn sieeine kontextspezifische Dominanz kommunikativer über strategische Rationalitättheoretisch begünstigen, lassen noch genügend Raum für strategisch-rationale Posi-tionswechsel in Folge vorgebrachter Argumente. Werden diese Positionswechsel inder empirischen Verhandlungsanalyse vernachlässigt, droht ein bias, der die Validitätdes kontrafaktischen Nachweises kommunikativen Handelns gefährdet (vgl. Grobe2010).

Zur Minimierung dieser bias-Gefahr ist es notwendig, das Verhältnis zwischenkommunikativer und strategischer Rationalität im Anschluss an die behavioristischeNeujustierung von rational choice und die gleichzeitig stattfindende Evolution deskommunikationstheoretischen Ansatzes konzeptionell neu zu bestimmen (vgl. hierzuauch Saretzki 2007). Dies dient dazu, anschließend den relativen Beitrag dieser beidenRationalitätskonzepte zum Verständnis von argumentationsbasierten Verhaltensän-derungen verzerrungsfrei vermessen zu können.

7 Einzelne Forscher haben zwar schon seit den späten 50er Jahren immer wieder auf die man-gelnde behavioristische Fundierung des orthodoxen Rationalismus hingewiesen (für einenÜberblick s. Crawford 1998; Sally 1995). Doch erst seit Mitte der 1990er Jahre ist es gelungen,vielfach dokumentierte Anomalien durch stetige theoretische Erweiterung des Standardan-satzes langsam aufzulösen.

Christian Grobe: Wie billig ist Reden wirklich?

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Wie die empirische Forschung des letzten Jahrzehnts gezeigt hat, ist eine solcheVermessung in internationalen Verhandlungen sehr schwierig. Der vorliegende Ar-tikel beschreitet daher einen gänzlich neuen Weg: Mittels eines experimentellen Dik-tatorspiels, in dem ein Individuum (der Diktator) einen Geldbetrag erhält, den er be-liebig zwischen sich und einem anderen Teilnehmer (dem Empfänger) aufteilenkann,8 wird in einem kontrollierten Laborumfeld untersucht, wie groß die handlungs-koordinierende Kraft der Sprache tatsächlich ist. Konkret stehen folgende For-schungsfragen im Zentrum des Interesses: Ist Reden ohne Einfluss auf die Präferenzender Akteure, also billig im Sinne der Spieltheorie? Oder sind die Experimentteilneh-mer vielmehr bereit, ihre individuellen Handlungsziele einvernehmlich zu koordi-nieren, selbst wenn dies eine Reformulierung ihrer ursprünglichen Präferenzen ver-langt? Und wenn ja, welcher Nutzen kann aus einer solchen Erkenntnis für dieempirische Verhandlungsforschung gezogen werden?

Die Antwort auf diese Fragen erfolgt in vier Schritten: Zuerst führt Abschnitt zweikurz in den aktuellen Forschungsstand zur Wirkmächtigkeit von Kommunikation inder Spieltheorie ein und identifiziert so Möglichkeiten und Grenzen rationalistischerErklärungen für argumentationsbasierte Verhaltensänderungen. Der dritte Abschnittstellt sodann die Theorie des kommunikativen Handelns vor. Im Vordergrund dieserRekonstruktion stehen die Explikation des kommunikativen Rationalitätsbegriffs so-wie seine Abgrenzung vom spieltheoretischen Konzept der strategischen Rationalität.Abschnitt vier präsentiert anschließend die zu testenden Hypothesen, erläutert dasexperimentelle Design und schildert die zentralen Ergebnisse des Diktatorexperi-ments. Es zeigt sich, dass drei Viertel der Teilnehmer in Einklang mit den Voraus-sagen der (behavioristischen) Spieltheorie handeln, wohingegen das Entscheidungs-verhalten der restlichen 25 % als starke Evidenz für die authentische Verständi-gungsbereitschaft dieser Akteure zu werten ist. Der abschließende fünfte Abschnittdiskutiert die Implikationen dieses Ergebnisses für die empirische Forschung, indemer offene Fragen benennt, das Verhältnis von Experiment und realen Verhandlungenkritisch reflektiert sowie zukünftige Einsatzgebiete der experimentellen Methode inder Politikwissenschaft umreißt.

Cheap talk als Informationsaustausch – die Rolle von Kommunikation inrationalistischen Ansätzen

Die neoklassische Wirtschaftstheorie hat mit ihrer apodiktischen Setzung vollständiginformierter Akteure die Frage nach der Bedeutung von Kommunikation auf das in-dividuelle Entscheidungsverhalten lange ausgeblendet. Erst mit dem Aufkommen derInformationsökonomik ist das Interesse für den Nachrichtenaustausch zwischen Ak-teuren auf die Forschungsagenda gerückt. Solange den Akteuren jedoch lediglichegoistische Präferenzen zugestanden wurden, konnte cheap talk ausschließlich in rei-

2.

8 Ausführliche Erläuterungen zu diesem und weiteren Laborspielen finden sich in Colin Ca-merers (2003) hervorragendem Einführungsbuch zur behavioristischen Spieltheorie.

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nen Koordinationssituationen einen Einfluss auf das Interaktionsergebnis haben.Denn nur in solchen Situationen lohnt es sich für den Sender von Nachrichten, seineAbsichten wahrheitsgemäß zu kommunizieren, um strategische Unsicherheit zu mi-nimieren und allseits unerwünschtes Koordinationsversagen zu verhindern (Farrel1987; Morrow 1994). Fallen individuelle und kollektive Rationalität dagegen aus-einander, ist jede Nachricht ipso facto wertlos. Der Empfänger hat nun allen Grund,erhaltenen Nachrichten zu misstrauen, da der Sender jede Gelegenheit nutzen wird,ihn über seine privaten Informationen bzw. Intentionen zu täuschen. In solchen Fällenmüssen Nachrichten entweder direkte Kostenfolgen haben (Fearon 1997) oder we-nigstens stichprobenweise verifizierbar sein (Grobe 2007: 34-50), um individuelleHandlungskalküle beeinflussen zu können.

Zahlreiche Ergebnisse aus Laborexperimenten widersprechen jedoch dieser einge-schränkten Rolle von Kommunikation (für einen Überblick s. Crawford 1998; Sally1995). Reden ist also scheinbar nicht so billig wie Ökonomen lange Zeit vermutethaben. Wird Akteuren die Möglichkeit eingeräumt, miteinander zu kommunizieren,hat dies einen entscheidenden Effekt auf ihr späteres Entscheidungsverhalten – undzwar ganz unabhängig von einzelnen Variationen in der Entscheidungsstruktur. So-wohl in trust games (Charness/Dufwenberg 2006) als auch in public goods games(Brosig et al. 2003) legen einzelne Akteure ihre Intentionen wahrhaftig offen. Anderewiederum haben Vertrauen in die Authentizität einer Äußerung und richten folglichihre Strategie danach. Kommunikation zeigt sich damit als effektives Medium, umdie Dilemmastruktur kollektiven Handelns zu überwinden und die individuellen Ent-scheidungen auf das pareto-optimale Ergebnis zu koordinieren.

Dieser überraschende, kooperationsfördernde Effekt sprachlicher Interaktion hatSpieltheoretiker dazu veranlasst, die konzeptionellen Grundlagen ihres Handlungs-modells zu erneuern. Jüngste Arbeiten aus dem Kreis der behavioristischen Spiel-theorie ergänzen mittlerweile den orthodoxen rational-choice-Ansatz um vielfältigesoziale Präferenzen, wie z. B. Ungleichheitsaversion (Bolton/Ockenfels 2001), Re-ziprozitätskalküle (Dufwenberg/Kirchsteiger 2004) und die Neigung, situationsspe-zifische Erwartungen anderer Akteure zu erfüllen (Battigalli/Dufwenberg 2007).9Unabhängig davon, welche dieser Erweiterungen sich letztendlich am tragfähigstenerweisen wird, kann jede prinzipiell den kooperationsfördernden Effekt von cheaptalk in Dilemmaspielen plausibilisieren: In der Kommunikationsphase einigen sichdie Akteure explizit auf eine sozial optimale Strategie und benennen Konsequenzenim Falle eines Wortbruchs. So ist im Rahmen von public goods games oft beobachtetworden, dass die Teilnehmer sich darauf verständigen, den eigenen Betrag vollständigzu investieren und nach Abweichen von dieser Übereinkunft sofort die pareto-infe-riore Nash-Strategie spielen oder, wenn möglich, Abweichler sogar monetär bestrafen

9 Diese Erweiterung darf jedoch in keinem Fall als eine Abkehr vom grundlegenden ökono-mischen Verhaltensmodell rationaler Wahl gedeutet werden. Neuere behavioristische Theo-rien geben lediglich die Zusatzannahme des materiell-eigeninteressierten Akteurs auf. Siebleiben aber dem theoretischen Kern von rational choice, d. h. dem Maximierungskalkül undder Annahme stabiler Präferenzen, verhaftet (vgl. Andreoni/Miller 2002; Grobe 2007: Kap.3).

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(Bochet et al. 2006). Bilden Spieler mit sozialen Präferenzen nun während der Kom-munikationsphase die Erwartung aus, dass auch andere Akteure solche Präferenzenhaben, werden sie sich anschließend kooperativ verhalten. Cheap talk dient also pri-mär der Formation von Erwartungen über die Wahrscheinlichkeit prosozialen Ver-haltens der Mitspieler und kann somit auch das Handlungskalkül der Spieler beein-flussen.10

Solange die Akteure partiell verallgemeinerbare Interessen haben, wie das in allensozialen Dilemmasituationen der Fall ist, können die neuen Ansätze der behavioris-tischen Spieltheorie den experimentell beobachteten Einfluss von Kommunikationauf individuelle Entscheidungen somit grundsätzlich erklären. Nun treten solche Ef-fekte aber auch in Spielen auf, die frei von koordinativen Aspekten und Dilemma-strukturen sind. Wird beispielsweise dem Empfänger in einem Diktatorspiel die Mög-lichkeit eingeräumt, einen Aufteilungsvorschlag an den Diktator zu übermitteln odergar mit ihm zu chatten, hat dies einen signifikanten Einfluss auf dessen Abgabever-halten, wie Tetsuo Yamamori, Kazuhiko Kato, Toshiji Kawagoe und Akihiko Matsui(2004, 2007) jüngst feststellten. Für die Autoren ist dieser Befund selbst mit beha-vioristisch inspirierten rational-choice-Erklärungen unvereinbar, da auch soziale Prä-ferenzen kontextinvariant seien und daher nicht gezielt durch Kommunikation ver-änderbar sein dürften (Yamamori et al. 2004: 20).

Grundsätzlich ist dieser Einwand sehr ernst zu nehmen, allerdings ist er a priori nurfür ergebnisbasierte Theorien sozialer Präferenzen gültig: Besitzt ein Akteur bei-spielsweise eine Aversion gegen materielle Ungleichheit, so wird er in jeder Interak-tion versuchen, seine subjektiv favorisierte Verteilung herbeizuführen und folglichsein Abgabeverhalten auf die optimale Erreichung dieses Ziels ausrichten. Kommu-nizierte Forderungen des Empfängers können in diesem theoretischen Rahmen keinenEinfluss auf das Verhalten des Diktators haben.

Für intentionsbasierte Theorien ist der Einwand jedoch nur unter spezifischen Kon-textbedingungen richtig. Natürlich haben Reziprozitätsargumente in Diktatorspielenschon rein situationslogisch keinen Platz: Solange kein Rollentausch erfolgt, bleibendie Empfänger das gesamte Spiel über passiv und können somit ein Verhalten, dassie als nett wahrgenommen haben, niemals erwidern. Auch die subjektive Neigung,situationsspezifische Erwartungen zu erfüllen – Pierpaolo Battigalli und Martin Duf-wenberg (2007) bezeichnen diese soziale Präferenz treffend als Schuldaversion (guiltaversion) – ist bei vollständiger Information nicht durch Kommunikation beeinfluss-bar. Sobald man aber zulässt, dass die Teilnehmer unvollständig über den normativenKontext informiert sind und folglich nicht genau wissen, was andere Akteure vonihnen erwarten, kann cheap talk sehr wohl Einfluss auf das Entscheidungsverhaltenausüben – und zwar indem er den Diktator über die situationsspezifischen Erwartun-

10 In Dilemmasituationen müssen nicht alle Akteure sozial orientiert sein. So lohnt es sichbeispielsweise auch für einen rein egoistischen Akteur in einem public goods game zukooperieren, wenn er erwartet, dass sich in seinem Team Individuen mit sozialen Präfe-renzen finden. Einige prosoziale Individuen können also mit ihrem Verhalten allseitigeKooperation induzieren (Camerer/Fehr 2006).

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gen des Empfängers informiert. Ersterer kann sodann seine Vorstellungen11 über denangemessenen Abgabebetrag aktualisieren und dadurch sein Abgabeverhalten mitden relevanten Fairnessnormen in Einklang bringen (Frey/Bohnet 1995).

Ein simples Beispiel hilft, diese Idee zu verdeutlichen: Man stelle sich einen deut-schen Amerikatouristen vor, der das Land zum ersten Mal bereist. In einem Highway-Diner zahlt er seinen Lunch mit dem in Deutschland üblichen Aufschlag von 5 % fürdas Trinkgeld und erntet daraufhin einen ärgerlichen Blick des Kellners. Überraschtvon dieser unerwarteten Reaktion konsultiert er seinen Reiseführer, wo er folgendeEmpfehlung findet: »In den Restaurantpreisen ist kein Bedienungsgeld enthalten.Daher ist ein Trinkgeld von 15 bis 20 % üblich.« Unser Tourist, sollte er tatsächlicheine Neigung zum Erfüllen situationsspezifischer Erwartungen haben, wird in Folgedieser neuen Information sein Verhalten anpassen und bereits beim Abendessen min-destens 15 % Trinkgeld geben.

In der Tat deuten die Daten von Yamamori et al. (2004) auf einen analogen Effekthin: Das experimentelle Design der Autoren verlangt von den Diktatoren, für jededenkbare Forderung der Empfänger einen Abgabebetrag festzulegen und zwar bevorsie deren tatsächliche Forderungen erfahren. Dabei zeigt sich, dass viele Diktatoreneine Art matching betreiben, d. h. sollten die Empfänger die Abgabe von 10 % desverfügbaren Betrags fordern, planen sie tatsächlich 10 % abzugeben; bei einer For-derung von 20 % erhöhen sie den Abgabebetrag auf 20 % usw.12 Dieses Verhaltens-muster lässt vermuten, dass das Erfüllen von Erwartungen tatsächlich handlungsmo-tivierend für einige Diktatoren war. Zumindest für solche Teilnehmer könnte dieWirkmächtigkeit von cheap talk in Form von übermittelten Abgabeforderungen unterRückgriff auf die behavioristische Spieltheorie erklärt werden – Yamamori und seineKo-Autoren übersehen diese Möglichkeit jedoch.

Kommunikation, soviel sollten die vorangegangenen Überlegungen gezeigt haben,bleibt auch in der behavioristischen Spieltheorie immer auf den Austausch von In-formationen beschränkt. Genau wie in der orthodoxen Variante der Spieltheorie be-einflusst dieser Austausch die Vorstellungen der Akteure und kann so direkt das in-dividuelle Entscheidungsverhalten verändern.13 Die ursprünglichen Präferenzenbleiben von diesem Prozess dagegen weiterhin unberührt. Nur sind es nun nebenreinen Tatsacheninformationen über manifeste Intentionen, verfügbare Machtpoten-ziale oder externe Handlungsrestriktionen auch Informationen über den normativenKontext und die subjektive Erwartungshaltung anderer Akteure, die einen Einflussauf das individuelle Handlungskalkül ausüben. Ist es Akteuren der orthodoxen Spiel-

11 Vorstellungen werden im Folgenden theoriepuristisch und damit abweichend vom alltäg-lichen Sprachgebrauch als beliefs der Akteure im Sinne der Spieltheorie charakterisiert(vgl. Berninghaus et al. 2006: 149-155).

12 Insgesamt ist dieses Geberverhalten für nahezu 40 % aller Diktatoren charakteristisch,wobei die Mehrzahl von ihrer matching-Strategie abrückt, sobald die Empfänger mehr als50 % des verfügbaren Betrags fordern (Yamamori et al. 2004: 35).

13 Auch in früheren innovativen Arbeiten außerhalb der behavioristischen Spieltheorie – hierist im deutschsprachigen Raum vor allem an die Beiträge von Otto Keck (1993, 1995) zudenken – beeinflusst Kommunikation lediglich als Transmissionskanal für neue Informa-tionen das individuelle Handlungskalkül.

Christian Grobe: Wie billig ist Reden wirklich?

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theorie mit ausschließlich eng verstandenem materiellem Eigeninteresse gleichgültig,ob ihre Entscheidungen im Einklang mit grundlegenden Fairnessnormen oder derErwartungshaltung Anderer stehen, beziehen Akteure der behavioristischen Spiel-theorie diese normative Perspektive in ihr Kalkül mit ein. Getrieben von einer Un-gleichheits- oder Schuldaversion reagieren sie folglich auch auf normative Argu-mente, die ihr Handeln als Verletzung selbstgesetzter oder öffentlich vertretener(Verteilungs-)Normen offenbaren.

Natürlich drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, ob der beobachtete Einflussvon Kommunikation in zahlreichen Experimenten tatsächlich über diesen rein infor-mationellen Aspekt der Sprache erschöpfend erfasst werden kann. Ein genauererBlick auf die oben präsentierten Experimentergebnisse lässt dies bezweifeln, da in-terpersonale Kommunikation jeweils zu einem drastischen Anstieg des kooperativenVerhaltens geführt hat. Aber können beispielsweise Diktatoren die Erwartungshal-tung der Empfänger derart schlecht einschätzen, dass sie ihr Geberverhalten nachverbalem Austausch mit dem Empfänger jeweils stark anpassen müssen? Eine solcheAnnahme scheint sowohl der Intuition als auch der Empirie zu widersprechen: Intuitivist es für einen jeden Diktator nahe liegend, davon auszugehen, dass der Empfängereine 50-50-Aufteilung verlangen wird. Und tatsächlich: In der oben erwähnten Studievon Yamamori et al. (2004) liegt der Mittelwert der übermittelten Forderungen bei55 % und damit sehr nah an dem intuitiv zu erwartenden 50-50-Vorschlag. Entspre-chend stellen die Autoren (2004: 20) fest: »Our experimental results [i.e. the signifi-cant effect of communication on individual behavior] can be explained neither by thestandard game theory nor by the behavioral game theory.«

Trotz aller Erweiterungen des rationalistischen Handlungsmodells bleibt also nochgenügend Raum für habermasianisch motivierte Erklärungen argumentationsbasier-ter Verhaltensänderungen. Aber um diesen Raum exakt vermessen zu können, bedarfes einer genaueren Abgrenzung zu neueren rationalistischen Ansätzen, die, wie ge-zeigt, weit über eng verstandene Macht- und Interessenüberlegungen hinausreichen.Dieser Abgrenzung widmet sich der nächste Abschnitt.

Überzeugung und Präferenzwandel – die Rolle von Kommunikation inkonstruktivistischen Ansätzen

Ziel dieses Abschnitts kann nicht eine detailgenaue Rekonstruktion der Habermas-schen Theorie sein. Auch steht nicht im Vordergrund, ihre breite politikwissenschaft-liche Rezeptionsgeschichte im Rahmen der ZIB-Debatte nachzuerzählen – dies habenAndere bereits ausführlich getan (Risse 2000; Schäfer 2007). Vielmehr geht es darum,den kommunikativen Rationalitätsbegriffs zu explizieren und ihn trennscharf von al-ternativen Rationalitätskonzepten abzugrenzen.

Habermas geht in der Theorie kommunikativen Handelns von zwei verschiedenenArten der Handlungskoordinierung aus, die er anschließend unter unterschiedlicheRationalitätsbegriffe subsumiert. Für die Handlungskoordinierung durch Interessen,wie sie spieltheoretischen Modellen zu Grunde liegt, reserviert er den Begriff der

3.

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strategischen Rationalität. Diesem Modus stellt er die Handlungskoordinierung durchnormatives Einverständnis gegenüber, die er über den Begriff der kommunikativenRationalität erschließt. Kern dieses Rationalitätsbegriffs ist das kommunikative bzw.verständigungsorientierte Handeln, in dem »die Handlungspläne der beteiligten Ak-toren nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigungkoordiniert werden« (Habermas 1995a: 385). Verständigung definiert Habermas(1995b: 355, Hervorh. dort) als den »Prozeß der Herbeiführung eines Einverständ-nisses auf der vorausgesetzten Basis anerkannter Geltungsansprüche«. Diese Gel-tungsansprüche beziehen sich auf den propositionalen Gehalt einer Aussage, ihrenormative Richtigkeit sowie auf die subjektive Wahrhaftigkeit, die der Sprecher fürdie Äußerung seiner Intentionen reklamiert. Jeder Sprecher erhebt mit seinen Äuße-rungen folglich den Anspruch, die Wahrheit zu sagen in Bezug auf die objektive Weltexistierender Sachverhalte, das normativ Angemessene zu sagen in Bezug auf diesoziale Welt anerkannter Normen und bestehender Institutionen, sowie das Gesagteauch tatsächlich zu meinen. Als handlungskoordinierender Mechanismus funktioniertVerständigung daher immer nur dann, wenn »sich die Interaktionsteilnehmer über diebeanspruchte Gültigkeit ihrer Äußerungen einigen, d. h. Geltungsansprüche, die siereziprok erheben, anerkennen« (Habermas 1995a: 148, Hervorh. dort).

Damit ist klar: Der Unterschied zwischen Habermas' kommunikativem Rationali-tätsbegriff und dem spieltheoretischen Konzept der strategischen Rationalität liegt inder Bereitschaft der Akteure begründet, ihre individuellen Handlungsziele einver-nehmlich zu koordinieren, auch wenn dies eine Abkehr von ihren ursprünglichenPräferenzen verlangen sollte. Kommunikative und strategische Orientierungen sinddamit disjunkte Interaktionseinstellungen, zwischen denen die Akteure bewusst wäh-len müssen: »Verständigungsprozesse können nicht gleichzeitig in der Absicht un-ternommen werden, mit einem Interaktionsteilnehmer Einverständnis zu erzielen undEinfluß auf ihn auszuüben, d.h. bei ihm etwas kausal zu bewirken« (Habermas 1995b:574).

So bestechend die von Habermas vorgenommene und von Konstruktivisten imRahmen der ZIB-Debatte verwendete Trennung von kommunikativem und strategi-schem Handeln auf analytischer Ebene ist, so viele Probleme erzeugt sie in den Nie-derungen der Empirie. Auch strategisch-rationale Akteure besitzen nämlich zahlrei-che Anreize, ihr Verhalten in Folge eines argumentativen Austauschs mit anderenAkteuren zu verändern. So kann sprachlicher Austausch neben seiner Funktion alsInformationsvehikel (1) auch eine rein opportunistische Unterordnung unter denRechtfertigungszwang öffentlicher Rede herbeiführen (2).

(1) Informationseffekte: Interagieren Akteure in einem Umfeld unsicherer Infor-mationslage, haben sie einen natürlichen Anreiz ihr Verhalten im Zuge neu verfüg-barer Informationen anzupassen, wie bereits der letzte Abschnitt verdeutlicht hat.Argumentativer Austausch kann so zu einem Vehikel für Informationsdiffusion wer-den und einzelne Akteure entsprechend dazu veranlassen, ihre ursprüngliche Situa-tionsdefinition, d. h. ihre Vorstellungen über den zu Grunde liegenden Handlungs-zusammenhang, in Bezug auf neue Tatsachenerkenntnisse oder sich abzeichnendesituationsspezifische Erwartungen anzupassen. Das Resultat eines solch funktionalen

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Überzeugungsvorgangs ist ein Positionswechsel bei konstanten Präferenzen, der le-diglich dazu dient, festgelegte Ziele besser zu erreichen (ausführlich hierzu Grobe2010).

(2) Opportunistisches Einigungsstreben: Für andere Akteure kann es dagegen vonenormer Bedeutung sein, ihre egoistischen Motive vor anderen zu verbergen. Auchsie passen ihre Position aus strategischen Überlegungen in Reaktion auf vorgebrachteArgumente an: Da ihre soziale Reputation ihnen ein hohes Gut ist und sie stets alsfaire Akteure wahrgenommen werden wollen, sind sie häufig nicht willens, den Gel-tungsanspruch von gemeinschaftlich akzeptierten Argumenten öffentlich zu bestrei-ten. Sollte das anschließende Verhalten dieser Akteure nicht direkt beobachtbar sein,werden sie sich immer für das Verfolgen ihrer egoistischen Ziele entscheiden, da siekeine sozialen Reputationsverluste zu befürchten haben. Ihre Empfindlichkeit fürArgumente war daher lediglich die optimale Strategie, um feststehende egoistischeZiele zu erreichen, nicht aber eine Anpassung ihrer ursprünglichen Präferenzen ineinem Verständigungsakt (ausführlich hierzu Andreoni/Bernheim 2007).

In konstruktivistischen Verhandlungsanalysen findet keiner dieser beiden strate-gisch motivierten Positionswechsel Beachtung; lediglich die klassische Trias ausMachtdemonstration, (finanziellen) Ausgleichsversprechen und politischen Mehre-benendynamiken wird als Alternativerklärung berücksichtigt (Deitelhoff 2009: 46).Diese Auslassung kann auch durch den Nachweis förderlicher institutioneller Rah-menbedingungen für kommunikatives Handeln nicht kompensiert werden. Dennnicht einmal Habermas selbst geht soweit zu behaupten, dass der lebensweltlicheHintergrundkonsens, den die Akteure in Form kultureller Überlieferungen und prak-tischer Fertigkeiten teilen, den Einbruch strategischen Handelns in eine gegebeneInteraktion ausschließt. Argumentationsbasierte Verhaltensänderungen im Rahmeneines förderlichen institutionellen Umfelds geben daher schlicht keine sichere Aus-kunft darüber, ob die Akteure ihre ursprünglichen Präferenzen tatsächlich angepassthaben. Derartige Nachweise, notgedrungen kontrafaktisch in ihrem Charakter, ziehenihre Validität aus der bestmöglichen Kontrolle aller bekannten Erklärungsalternati-ven und können immer nur »in der Tat« über den Geltungsanspruch subjektiverWahrhaftigkeit erfolgen, worauf Habermas (1995b: 139) selbst bereits hingewiesenhat: »Ob jemand seine Intention wahrhaftig ausdrückt oder in seinen manifestenÄußerungen die zugerechneten Intentionen bloß vorspiegelt (und sich in Wahrheitstrategisch verhält), das muß sich [...] in seinen Handlungen zeigen.«

Ein Positionswechsel, der sich in einer Kongruenz zwischen (öffentlichen) Wortenund (anonymen) Taten manifestiert, kann in diesem Sinne als erster Hinweise für dasVorliegen kommunikativen Handelns gewertet werden. Ein wirklicher Lackmustestist er allerdings erst dann, wenn die kommunikativ erzielte Übereinstimmung zwi-schen den Akteuren nicht auf Machtandrohungen, finanzielle Kompensationsver-sprechen oder die verbesserte Informationslage einzelner Akteure zurückzuführen ist.Auch darf sie nicht das Resultat opportunistischen Einigungsstrebens sein. Denn inall diesen Fällen veränderten auch strategisch-rationale Akteure ihr Handeln in Re-aktion auf vorgebrachte Argumente. Ein nachweisbarer Effekt von Argumenten aufdas individuelle Entscheidungsverhalten gegen bestehende Macht- und Interessen-

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verhältnisse und bei Vorliegen förderlicher institutioneller Rahmenbedingungen istdaher allein noch keine Bestätigung für kommunikatives Handeln – zumindest so-lange nicht, wie das Konzept der kommunikativen Rationalität mit all seinen hand-lungstheoretischen Konnotationen ernst genommen wird.14

Kommunikative vs. strategische Rationalität in einem experimentellenDiktatorspiel

Die letzten beiden Abschnitte haben alternative rationalistische und konstruktivisti-sche Erklärungen für den Einfluss von Kommunikation auf das Interaktionsverhaltender Akteure identifiziert. Zusätzlich ist die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass diekooperationsfördernde Wirkung von Kommunikation nicht zwingend auf den reinsprachlichen Aspekt zurückzuführen sein muss, sondern auch in extraverbalen Cha-rakteristika der Kommunikationssituation begründet liegen kann. So vertreten IrisBohnet und Bruno Frey (1999: 44) die These, »that it is not (only) the informationexchanged in face-to-face behavior, but rather the participants' identification«. Ihrliegt die Annahme zu Grunde, dass rein visuelle Identifikation sowohl die sozialeDistanz zwischen den Akteuren verkleinert als auch nichtpekuniäre Sanktionsmög-lichkeiten eröffnet und damit faireres Handeln induziert (Bohnet 1997: 30-34).

Dieser Abbau sozialer Distanz, der Bohnets und Freys Identifikationsthese alsKausalmechanismus zu Grunde liegt, wird weder in kommunikationstheoretischennoch in strategischen Rationalitätskonzept erfasst und lässt sich auch nicht unter einender beiden Ansätze subsumieren. Als mögliche Alternativerklärung darf die Identi-fikationsthese daher nicht außer Acht gelassen werden, steht selbst aber nicht im Fo-kus dieses Artikels, weshalb an dieser Stelle auf eine ausführlichere Herleitung ver-zichtet wird.

Mit der Identifikationsthese als letztem Baustein können nun die Bedingungen füreinen verzerrungsfreien Test der relativen Erklärungskraft kommunikativer und stra-tegischer Rationalitätskonzepte formuliert werden: Zuerst müssen die Abgabepräfe-renzen der Akteure erhoben werden, sodann ist ihr Wissen über die Vorstellungen

4.

14 Eine minimalistische, rein outcome-orientierte Definition kommunikativen Handelns, wiesie implizit in einigen neueren Arbeiten von Thomas Risse und Jeffrey Checkel angelegtist (Checkel 2001; Risse 2003; Ulbert/Risse 2005), könnte dagegen die aufwendige Kon-trolle all dieser alternativen Erklärungsfaktoren überflüssig machen – das soll hier nichtverschwiegen werden. Verstünde man kommunikatives Handeln nämlich lediglich als»micro-mechanism by which new empirical insights and normative principles get diffu-sed« (Ulbert/Risse 2005: 363), hätte man den Begriff von all seinen ursprünglichen hand-lungstheoretischen Konnotationen befreit – freilich zu einem hohen Preis: Eine Unter-scheidung zwischen authentischer Überzeugung durch das bessere Argument und reinfunktionaler Überzeugung durch bessere Information wird unmöglich und damit auch dieeindeutige Verortung kommunikativer Rationalität im Theoriegebäude des Konstruktivis-mus. Aber bisher sind weder Risse noch Checkel so weit gegangen, denn sie halten auchweiterhin an dem ursprünglichen Kernpostulat endogener Präferenzen fest und grenzensich damit trotz aller Annäherungen entscheidend von rationalistischen Erklärungen ab(Grobe 2010).

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anderer Akteure zu kontrollieren und zu guter letzt müssen sie die Möglichkeit haben,ihren Worten kongruente Taten folgen zu lassen. Sollte eine solche Kongruenz danntatsächlich beobachtet werden, muss für den Forscher ersichtlich sein, ob entwederdie genuine Verständigungsbereitschaft der Akteure, ihr strategisches Kalkül oder diereduzierte soziale Distanz zwischen ihnen für diese Beobachtung verantwortlich war– eine Herkulesaufgabe, die in realweltlichen Interaktionen kaum lösbar scheint.Glücklicherweise kann ein Laborexperiment hier Abhilfe schaffen, da es die Kon-trolle all dieser Faktoren in die Hände des Experimentators legt.15

Experimentelles Design

Das folgende Experiment wurde im Frühjahr 2008 mit Hilfe der Experimentalsoft-ware z-Tree (Fischbacher 2007) im Computerlabor des Sonderforschungsbereichs504 an der Universität Mannheim durchgeführt. Alle Teilnehmer wurden über dasOnline-Recruitingsystem ORSEE (Greiner 2004) ausgewählt und waren fast aus-schließlich Studenten an der Universität Mannheim. Insgesamt haben elf Sessions mitjeweils acht Teilnehmern stattgefunden. Im Durchschnitt wurden 9,50 Euro pro Teil-nehmer ausgezahlt.

In jeder Session haben die Teilnehmer ein mehrstufiges Diktatorspiel gespielt. Die-ses Spiel wurde aus einem einfachen Grund gewählt: Es bereinigt die Handlungender Akteure von strategischen Überlegungen und erlaubt so eine einfache Erhebungsozialer Präferenzen. Denn für einen homo-oeconomicus-Diktator besteht schlichtkeinerlei Anreiz, einen positiven Betrag an potenzielle Empfänger abzugeben. Posi-tive Abgabesummen deuten daher auf die soziale Motivation eines Akteurs in derDiktatorrolle hin.16

4.1.

15 Doch selbst in einem derart gut kontrollierten Testumfeld stecken noch Unwägbarkeiten.So ist denkbar, dass die Diktatoren von Beginn an genau denjenigen Betrag abgeben, dendie Empfänger später in der Kommunikationsphase einfordern. Für ein solches Verhaltenkönnte sowohl eine kontingente Interessenkongruenz als auch ein naives Voraussetzen vonimpliziten Geltungsansprüchen (vgl. Habermas 1989: 122) verantwortlich sein. In solchenFällen wäre nicht zu entscheiden, ob die Akteure verständigungsorientiert eingestellt warenoder sich vielmehr von strategischer Rationalität haben leiten lassen.

16 Nicholas Bardsley (2008) hat diese Lesart jüngst in Frage gestellt und die Gegenthesevertreten, dass das Geberverhalten in Diktatorspielen lediglich ein experimentelles Arte-fakt sei – denn: »people could always make anonymous donations to random strangers ineveryday life, for example by mailing cash to persons sampled from the telephone direc-tory, but few if any choose to do so« (Bardsley 2008: 123). Auf den ersten Blick scheintdieses Argument sehr plausibel, es übersieht jedoch, dass die meisten Menschen in ihremalltäglichen Leben nicht zufällig mit einem Geldbetrag ausgestattet werden, über dessenVerteilung sie anschließend bestimmen können; vielmehr entscheiden sie über die Allo-kation ihres erarbeiteten Vermögens. Fällt diese Ressourcenbeschränkung weg, sind Men-schen durchaus bereit, Geld an andere zu verteilen. So geben beispielsweise 75 % derBefragten in einer Umfrage an, eine Spende tätigen zu wollen, wenn sie im Lotto gewännen(Meulemann/Beckers 2003: 47). Diese Anzahl ist vergleichbar mit den mehr als 60 % anTeilnehmern, die in Diktatorspielen einen positiven Betrag an die Empfänger abgeben (List2007: 483).

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Jede Session wurde in vier Blöcke unterteilt. Nach ihrer Ankunft im Labor wurdeden Teilnehmern zufällig einer der beiden Typen, Diktator oder Empfänger, zuge-ordnet. Die Diktatoren wurden pro Spielblock mit einem Geldbetrag von 5 Euro sowiedem Recht, diesen Betrag in beliebigen 50-Cent-Schritten zwischen sich selbst undden Empfängern aufzuteilen, ausgestattet. Diese Rollenverteilung ist während desgesamten Experiments unverändert geblieben, um etwaige strategische Reziprozi-tätskalküle der Diktatoren in den ersten Runden auszuschließen. Vor Spielbeginnwurden die Teilnehmer nochmals vom Experimentator darauf hingewiesen, dass kei-ne ihrer Entscheidungen einen Einfluss auf die Anzahl der Spielrunden ausüben kannund andere Teilnehmer zu einem späteren Zeitpunkt nicht erfahren werden, welcheEntscheidung sie in einer vorangegangen Spielrunde getroffen haben. Die detaillier-ten Anleitungen für jeden Block wurden sequentiell, d. h. jeweils vor Beginn einesneuen Blocks, ausgeteilt und die Teilnehmer wussten zu keinem Zeitpunkt, über wieviele Blöcke sich das Experiment insgesamt erstrecken wird.

In Block eins hat die Hälfte der Akteure das Diktatorspiel dann mit einem anonymenPartner gespielt (Baseline-treatment), wohingegen die andere Hälfte der Teilnehmerihren jeweiligen Partner visuell identifizieren konnte (Identifikations-treatment). Inbeiden Fällen wurde den Empfängern die Möglichkeit eingeräumt, ihre Vorstellungüber den angemessenen Abgabebetrag elektronisch an den Diktator zu übermitteln,weitere Formen des Nachrichtenaustauschs, egal ob verbal oder non-verbal, warendagegen nicht erlaubt. Anschließend folgte der zweite Block, in dem die Teilnehmerin Vierergruppen mit paritätischer Typenverteilung maximal zehn Minuten über dieAufteilung des Diktatorbetrages in einem separaten Raum diskutierten. Erklärtes Zieldieser Diskussion war es, zu einem Konsens über die Aufteilung des Diktatorbetragsin den folgenden Runden zu gelangen. Im Falle der Nicht-Einigung konnte jeder dervier Diskussionsteilnehmer seine individuelle Abgabevorstellung für die nächstenRunden im Protokoll vermerken. Im dritten Block haben die Teilnehmer dann erneutdas Spiel aus dem ersten Block gespielt; dieses Mal jedoch mit einem nicht näherspezifizierten Mitglied ihrer Diskussionsgruppe (Diskurs-treatment). Diese Anony-mität wurde im vierten und letzten Block vollständig aufgehoben, sodass jeder Teil-nehmer wusste, wer sein Partner in der aktuellen Runde war (Öffentlichkeits-treat-ment).17 Dieses klassische 2x2-Design ist in Tabelle 1 zusammengefasst.18

17 Die Teilnehmeranleitung, die den Ablauf des Experiments detailliert beschreibt, die Vi-deodokumentationen der Diskussionsrunde und die Rohdaten des Experiments sind aufAnfrage beim Autor erhältlich.

18 Kritiker mögen an dieser Stelle einwenden, dass eine komplex angelegte Handlungs- undGesellschaftstheorie, wie sie die Theorie des kommunikativen Handelns darstellt, nicht zurErklärung der Ergebnisse eines Laborexperiments herangezogen werden könne, da ihreAnwendungsvoraussetzungen in einem solch sterilen Umfeld nicht erfüllt sind – doch dasGegenteil ist der Fall. Die Laborinteraktionen ähneln nämlich stark den einfachen Inter-aktionen der Lebenswelt, die Habermas selbst zur Explikation seiner Theorie herangezogenhat: Die Experimentteilnehmer teilen eine hochgradig gemeinsame Lebenswelt, besitzennur wenige Macht- oder Drohpotenziale, die sie zu ihrem individuellen Vorteil ausnutzenkönnten, und sind in der Diskussionsrunde mit einem überschaubaren Problem gemeinsa-mer Handlungskoordinierung konfrontiert, das mit den Mitteln des praktischen Diskurseszu lösen ist. Dabei können die Teilnehmer auf (anerkannte) Fairnessnormen rekurrieren,

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Tabelle 1: Experimentelles Design

Anonymität

Ja Nein

Kom

mun

i-ka

tion

Nein Baseline-treatment

Identifikations-treatment

Ja Diskurs-treatment

Öffentlichkeits-treatment

Hypothesen

Mit Hilfe des Diktatorexperiment soll die Ausgangsfrage des Artikels nach der hand-lungskoordinierenden Kraft der Sprache beantwort werden. Dazu werden 4 zentraleHypothesen getestet, die jeweils einen theoretischen Aspekt der vorangegangenenAbschnitte aufgreifen. Im Vordergrund dieses Tests stehen die Hypothesen 2 bis 4,da sie direkt auf die Frage nach dem handlungsleitenden Rationalitätskonzept abstel-len. Hypothese 1 spezifiziert die notwendigen Kontrollparamter, um etwaige sozial-psychologische Identifikationseffekte als Alternativerklärung auszuschließen.

H1 [Identifikationshypothese]: Akteure, die die Empfänger ihrer Leistungen visuellidentifizieren können, werden einen höheren Betrag abgeben als solche, die dieseIdentifikationsmöglichkeit nicht haben.

H2 [Cheap-talk-Hypothese]: Vollständig informierte strategisch-rationale Akteu-re, die nicht an ihrer sozialen Reputation interessiert sind, können sich in der Dis-kussionsphase des Experiments auf jeden beliebigen Aufteilungsvorschlag einigen,ohne dass dieser Konsens einen Einfluss auf ihr späteres Abgabeverhalten ausübenwird.

H3 [Verständigungshypothese]: Sollten die Akteure von kommunikativer Rationa-lität geleitet sein, werden sie in der Diskussionsphase versuchen, einen konsensualenAufteilungsvorschlag zu erarbeiten und bei Gelingen ihr anschließendes Handelnbedingungslos an diesem Konsens ausrichten.

H4 [Reputationshypothese]: Vollständig informierte strategisch-rationale Akteure,die soziale Reputationsverluste fürchten, können ebenfalls zu einem Konsens gelan-gen, werden ihr Abgabeverhalten aber nur dann ihrer formulierten Position aus derDiskussion anpassen, wenn ihre Entscheidungen öffentlich gemacht werden.

4.2.

wodurch sie vielfältige Bezüge zur gesellschaftlichen Außenwelt des Experiments herstellen,und so versuchen ihr Gegenüber von der Richtigkeit bzw. Wahrhaftigkeit der eigenen Positionzu überzeugen. Auch im Labor besitzen die Teilnehmer also die Möglichkeit, kommunikativGeltungsansprüche zu erheben, anzuerkennen und einzulösen – ganz wie Akteure in ihreralltäglichen Lebenswelt oder Diplomaten auf der internationalen Bühne.

Aufsätze

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Ergebnisse

Im Folgenden gehe ich zuerst auf die Vergleichbarkeit meiner Daten mit den Ergeb-nissen aus früheren Diktatorexperimenten ein (Abschnitt 4.3.1). Sodann teste ich die4 formulierten Hypothesen auf Aggregatdatenebene (Abschnitt 4.3.2). Zuletzt typi-siere ich die individuellen Abgabeentscheidungen der Diktatoren mit Hilfe von fünfVerhaltenskategorien, um die Frage nach dem handlungsleitenden Rationalitätskon-zept für das vorliegende Experiment abschließend zu beantworten (Abschnitt 4.3.3).

Doch vorher noch eine kurze Randbemerkung zur Struktur der ausgewerteten Da-ten: Aus dem in Abschnitt 4.1 skizzierten Design resultieren zwei unabhängige Sam-ples, die jeweils wieder in drei verbundene Subsamples untergliedert werden müssen,da alle Teilnehmer in der Diktatorenrolle während des Experiments mehrere Abga-beentscheidungen getroffen haben. Diese individuellen Entscheidungen sind jedochnicht nur seriell korreliert, sondern in der zweiten und dritten Spielrunde auch nochvon der Dynamik der Gruppendiskussion abhängig. Vor allem diese zweite Form derKorrelation verletzt zentrale Annahmen statistischer Testverfahren, sodass innerhalbeines Samples immer nur Daten auf Diskussionsgruppenebene sinnvoll miteinanderverglichen werden können, um die Effekte von Kommunikation und Öffentlichkeitzu testen (siehe Abb. 1).19

Abbildung 1: Datenstruktur und Testdesign

H1

H2 vs. H3

H2 vs. H3 H4

H4Sample 1: Baseline Diskurs1 Öffentlichkeit1 (N=22 [11]) (N=22 [11]) (N=22 [11])

Sample 2: Identifikation Diskurs2 Öffentlichkeit2 (N=20 [10]) (N=19 [10]) (N=19 [10])

Vergleichbarkeit mit früheren Studien

Frühere Diktatorexperimente zeichnen ein relativ homogenes Bild des Abgabever-haltens: In Anonymität und ohne die Möglichkeit, Nachrichten eines Empfängers zu

4.3.

4.3.1.

19 Da jeweils zwei Diktatoren in der gleichen Diskussionsgruppe waren, reduziert sich dieZahl der unabhängigen Beobachtungen entsprechend um die Hälfte. Darüber hinaus mussteeine Beobachtung des zweiten Samples in der statistischen Betrachtung unberücksichtigtbleiben, da der betreffende Teilnehmer Opfer einer strategischen Täuschung während derDiskussionsrunde wurde, wie er selbst implizit im Abschlussfragebogen angegeben hat:»Ein anderer Diskussionsteilnehmer hat mich überzeugt, dass man seinen Profit erhöhenkönnte, wenn man den vorgeschlagenen Anteil abgibt.« Der erhöhte Abgabebetrag diesesTeilnehmers ab dem Diskursblock würde daher das Ergebnis zugunsten der Verständi-gungshypothese verzerren.

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erhalten, verhält sich circa ein Drittel der Diktatoren egoistisch und gibt weniger als10 % des zu verteilenden Betrages ab. Ein ähnlich großer Anteil ist dagegen fair undüberlässt seinem Partner mehr als 40 % (Forsythe et al. 1994; Hoffman et al. 1996;Bohnet/Frey 1999). Wird den Empfängern die Möglichkeit eingeräumt, ihre Vorstel-lung über den angemessen Abgabebetrag an den Diktator zu übermitteln, steigt derAnteil fairer Aufteilungen leicht an und nahezu die Hälfte aller Teilnehmer gibt min-destens 40 % ab; die Neigung zu egoistischem Verhalten bleibt davon jedoch schein-bar unberührt (Yamamori et al. 2004). Die Daten aus dem vorliegenden Experimentbestätigen diese Ergebnisse: Im Baseline-treatment verteilt ungefähr ein Drittel derDiktatoren weniger als 10 % des verfügbaren Betrages an die Empfänger, wohingegennahezu die Hälfte die faire Aufteilung zwischen 40 % und 50 % bevorzugt (siehe Abb.2).20

Hypothesentests

(1) Identifikationshypothese. Hypothese 1 postuliert eine Erhöhung des Abgabebe-trages, sobald die Diktatoren die Empfänger visuell identifizieren können. Obwohldieser Identifikationseffekt in früheren Experimenten eindeutig bestätigt wurde (Boh-net 1997: 68-71, Bohnet/Frey 1999), ist er hier gänzlich abwesend: Die Abgabebe-reitschaft im Identifikations-treatment ist nicht größer als im Baseline-treatment(Mann-Whitney-Test, z=0.529, p=0.71, einseitig).21 Für diesen kontraintuitiven Be-fund gibt es jedoch eine Erklärung, die im experimentellen Design wurzelt: Iris Boh-net und Bruno Frey haben in ihren Diktatorexperimenten an der ETH Zürich auf einensehr homogenen Pool zurückgegriffen; alle Teilnehmer waren Wirtschaftswissen-schaftler im ersten Semester, die eine gemeinsame Einführungsveranstaltung besuch-ten. Darüber hinaus hat der von ihnen verwendete Identifikationsmechanismus weitreichende Öffentlichkeit generiert: Vor Beginn des Spiels wurden beide Partner ge-beten aufzustehen und sich still in die Augen zu blicken. In dem gewählten Umfeldverstärkt dies natürlich das soziale Sanktionspotenzial der Empfänger enorm, da jahr-gangsgleiche Studenten einer Fachrichtung zukünftig noch oft interagieren werden.Die eindrucksvolle Zunahme fairer Aufteilungen in ihrer Studie war daher wohl eherdas Ergebnis diffuser Reziprozitätskalküle im Schatten der Zukunft als die Folge re-duzierter sozialer Distanz zwischen den Akteuren. Im vorliegenden Experiment wardieser strategische Aspekt wechselseitiger Identifikation dagegen weitgehend ausge-

4.3.2.

20 Es spricht für die Robustheit dieser Effekte, dass Yamamori et al. (2004) ihre Ergebnissemittels der Strategiemethode (strategy method) erzielen, wohingegen die vorliegende Stu-die mit der Spielmethode (play method) arbeitet. Zum Vergleich dieser beiden Konzeptesiehe Brandts/Charness (2000).

21 Zwar ist der nicht-parametrische Mann-Whitney-Test weitgehend frei von Verteilungsan-nahmen. Er verlangt jedoch, dass die Populationen, aus denen die Stichproben stammen,stetig sind (ausführlich hierzu Hollander/Wolfe 1999: 106-123). Da diese Annahme fürDiktatorexperimente grundsätzlich verletzt ist, wurde jedem Abgabevorschlag zufällig einminimaler Betrag hinzugefügt; als »Zufallsgenerator« diente dabei eine stetige Gleichver-teilung im Intervall (0, 0.001).

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blendet, da die Teilnehmer aus unterschiedlichen Altersgruppen und verschiedenenFachbereichen rekrutiert wurden und sich ausschließlich mittels ihrer Computernum-mer identifizieren konnten. Im Lichte dieser Reduktion sozialer Sanktionsmöglich-keiten, sind die geringen Abgabequoten im Identifikations-treatment weniger rätsel-haft als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen.

(2) Cheap-talk-Hypothese vs. Verständigungshypothese. Wenn Reden tatsächlichbillig ist, müsste die Abgabebereitschaft der Teilnehmer – von kleineren Schwan-kungen abgesehen – über die ersten beiden Spielrunden des Experiments konstantbleiben. Sollten die Teilnehmer dagegen von kommunikativer Rationalität geleitetsein, steht zu erwarten, dass sie sich in ihrer jeweiligen Diskussionsgruppe auf einengemeinsamen Aufteilungsvorschlag einigen und ihr Verhalten anschließend daranausrichten.22 Dies setzt natürlich voraus, dass die Diktatoren nicht schon in der erstenSpielrunde den konsensualen Betrag abgegeben haben. Denn dann bestünde in derDiskussionsrunde kein Bedarf mehr, sie von der Richtigkeit einer anderen Aufteilungzu überzeugen – ein kontingenter Konsens wäre die Folge.

Abbildung 2: Verteilungsfunktionen und Boxplots der 4 treatments

22 Von den 22 Diskussionsgruppen haben sich 45 % auf einen Abgabebetrag von 2.50 Eurogeeinigt und weitere 28 % auf einen Betrag von 2 Euro. In fünf Diskussionsgruppen konntedagegen kein Konsens über die angemessene Aufteilung erzielt werden.

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Bestätigen die experimentell gewonnenen Daten diese Voraussagen der Verstän-digungshypothese? Oder ist das Abgabeverhalten der Teilnehmer im Diskurs-treat-ment unverändert, wie es die cheap-talk-Hypothese prognostiziert? Die Antwort aufdiese letzte Frage ist eindeutig – nein. Im ersten Sample reduziert sich der Anteilegoistischer Entscheidungen um die Hälfte, wohingegen der Anteil fairer Auftei-lungsvorschläge von 45 % auf 64 % ansteigt. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch imzweiten Sample: Anstatt der anfänglichen 35 % teilen nun 76 % der Diktatoren denBetrag fair auf und lediglich 15 % verhalten sich egoistisch, verglichen mit 25 % inder ersten Spielrunde. Die Teilnehmer geben nach der Diskussionsrunde also tat-sächlich mehr ab als zu Beginn des Experiments, wie von der Verständigungshypo-these erwartet (siehe Abb. 2).

Bleibt zu klären, ob diese Differenz statistisch signifikant ist. Ein signierter Wil-coxon-Test23 legt diese Schlussfolgerung nahe: In beiden Samples wird die cheap-talk-Hypothese auf fünfprozentigem Signifikanzniveau abgelehnt (Sample 1:z=-1.814, p=0.04, einseitig; Sample 2: z=-2.318, p=0.01, einseitig). Diese Ergebnissesollten jedoch mit Vorsicht betrachtet werden, da sie auf der Normalapproximationder Wilcoxon-Teststatistik basieren. Jean D. Gibbons (1993: 17) empfiehlt, diesesVerfahren erst dann zu nutzen, wenn mehr als fünfzehn unabhängige Beobachtungenvorliegen; dies ist aber in keinem der beiden Samples der Fall. Verschärft wird diesesProblem noch durch einen relativ großen Anteil von Nulldifferenzen (zeros) sowiedurch häufige Ranggleichheit bei betragsmäßig positiven Differenzen (ties) zwischenden beiden Erstrunden-treatments und dem Diskurs-treatment.24 Um auch in einemsolchen Fall die Robustheit der Ergebnisse zu gewährleisten, stehen grundsätzlichzwei Verfahren mit jeweils eigenen Schwächen zur Verfügung (vgl. Hollander/Wolfe1999: 46). Ein erster Ansatz wäre, alle Nulldifferenzen als Evidenz für die cheap-talk-Hypothese zu werten. Damit wäre das Problem der zeros zwar angemessen ge-löst, die ties bestünden jedoch weiter. Ein zweites Verfahren basiert auf individuellerRandomisierung und fügt jeder Beobachtung einen minimalen, zufälligen Betraghinzu. Dadurch werden sowohl die Nulldifferenzen eliminiert als auch die ties ge-brochen, so dass der signierte Wilcoxon-Test exakt durchgeführt werden kann. DerZufallsgenerator wird aber mit hoher Wahrscheinlichkeit einige zeros zu Gunsten derVerständigungshypothese auflösen und damit den Test zu ihren Gunsten verzerren.Eine Mischung aus beiden Verfahren minimiert diese Gefahr und garantiert zugleichein angemessenes Testverfahren: Zur Elimination der ties wird jedem Abgabebetrag

23 Der signierte Wilcoxon-Test ist ein nicht-parametrischer Vorzeichen-Rangtest für ver-bundene Stichproben, bei dem die beobachteten Differenzen eines Messwertpaares in auf-steigender Reihenfolge mit Rängen versehen werden, um anschließend die Rangsummender Paare mit positivem und negativem Vorzeichen zu vergleichen. Sollten beide Stich-proben aus derselben Grundgesamtheit stammen, dürfen sich die signierten Rangsummennicht merklich voneinander unterscheiden. Wie der Mann-Whitney-Test beruht auch dersignierte Wilcoxon-Test allein auf der Annahme, dass die zu Grunde liegenden Verteilun-gen stetig sind.

24 Beides deutet auf eine Verletzung der Verteilungsannahmen des Wilcoxon-Tests hin. DieStandardmethoden zum Umgang mit dieser Schwierigkeit – das Entfernen von Nulldiffe-renzen und die Vergabe gemittelter Ränge – sollten daher nicht ohne weiteres angewendetwerden.

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ein minimaler Zufallswert aufgeschlagen (vgl. Fn. 22) und alle Nulldifferenzen wer-den zugunsten der cheap-talk-Hypothese aufgelöst.25

Führen diese Anpassungen zu einer relevanten Veränderung der obigen Schluss-folgerungen? Die Antwort ist beruhigend: In beiden Samples sind die Abgabebeträgenach der Diskussion noch immer signifikant höher als in den beiden Erstrunden-treat-ments. Für den Vergleich zwischen Baseline und Diskurs1 bzw. Identifikation undDiskurs2 ergibt sich ein Wert der Wilcoxon-Teststatistik von T+=50 (p=0.07, einsei-tig) bzw. von T+=48 (p=0.02, einseitig).26

Zwar ist dieses Ergebnis eine eindeutige Widerlegung der cheap-talk-Hypothese,aber allein noch keine Bestätigung der alternativen Verständigungshypothese. Sokönnten gänzlich andere Ursachen als eine verständigungsorientierte Interaktions-orientierung für den kooperationssteigernden Effekt von Kommunikation verant-wortlich sein, namentlich verbesserte Informationen über die situationsspezifischenErwartungen anderer Teilnehmer oder stärkere Solidarität aufgrund reduzierter so-zialer Distanz im Anschluss an die Gruppendiskussion. Ersteres kann a priori ausge-schlossen werden, da alle Teilnehmer bereits in der ersten Spielrunde mittels eineskommunizierten Aufteilungsvorschlages über die Erwartungen ihrer Partner infor-miert waren und sich das Forderungsverhalten der Empfänger nach der Diskussionnicht merklich verändert hat.27

Die Solidaritätserklärung verdient dagegen einen ernsthaften empirischen Test.Dazu werden die Diktatoren in zwei Gruppen unterteilt: Alle Diktatoren, für die dererzielte Konsens während der Diskussion später handlungsleitend war, werden inGruppe eins eingeteilt (N=15), alle anderen bilden Gruppe zwei (N=14).28 Sollte tat-sächlich reduzierte soziale Distanz zwischen den Teilnehmern für die erhöhte Abga-bebereitschaft im Diskurs-treatment verantwortlich sein, müssten auch die Diktatorenin der zweiten Gruppe nach der Diskussion mehr abgeben als zuvor – selbst wenn siekeinen Konsens mit den anderen Teilnehmer erzielen konnten oder von einer erzieltenÜbereinkunft abgewichen sind. Denn Solidarität setzt keinen Konsens als Verhal-tensmaßstab voraus, sondern lediglich soziale Interaktion. In Wirklichkeit ist die Ab-gabebereitschaft der Diktatoren in Gruppe zwei aber nach der Diskussion nicht er-heblich größer als zuvor (signierter Wilcoxon-Test, T+=59, p=0.34, einseitig). Damiterweist sich die Verständigungshypothese als einzige plausible Erklärung für denbeobachteten kooperationssteigernden Effekt von Kommunikation – zumindest aufAggregatdatenebene.

25 Die Anwendung dieses Verfahrens macht die Normalapproximation überflüssig und derentsprechende p-Wert kann direkt mittels der Wilcoxon-Teststatistik (T+) ermittelt werden.Eine Tabelle mit kritischen Werten für T+ findet sich in Hollander/Wolfe (1999: 576-581).

26 Es bleibt anzumerken, dass die Differenz in Sample 1 nunmehr nur noch auf zehnprozen-tigem Niveau signifikant ist und nicht mehr auf fünfprozentigem.

27 Im Baseline-treatment lag der Mittelwert der Forderungen bei 2.48 Euro, im Identifikati-ons-treatment bei 2.35 Euro und im Diskurs-treatment bei 2.33 Euro.

28 Fallen beide Diktatoren einer Diskussionsrunde in die gleiche Gruppe, wird ihr Abgabe-betrag gemittelt und als eine Beobachtung behandelt. Daher ist die Anzahl der unabhän-gigen Beobachtungen kleiner als die Anzahl der Diktatoren.

Christian Grobe: Wie billig ist Reden wirklich?

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(3) Reputationshypothese. Viele Akteure treten öffentlich für die Einhaltung ge-sellschaftlich anerkannter Fairnessnormen ein, nutzen aber heimlich jede sich bie-tende Gelegenheit, um eigene Vorteile auf Kosten anderer zu erzielen. Ihre Reputationist für diese Akteure von herausragender Wichtigkeit, weshalb sie sich erst unter demDeckmantel der Anonymität in den homo oeconomicus der neoklassischen Wirt-schaftstheorie verwandeln. Für sie kann Reden ebenfalls teuer sein, wenn auch ausganz anderen Gründen als für verständigungsorientierte Akteure. Erst wenn ihre Tatenan ihren Worten gemessen werden können, neigen sie zur Einlösung öffentlich ge-äußerter Fairnessvorstellungen.

Um diese dritte Hypothese zu testen, untersuche ich die Veränderung des Abgabe-verhaltens von der zweiten (Diskurs) auf die dritte Spielrunde (Öffentlichkeit). Sollteder Reputationseffekt im vorliegenden Experiment von Relevanz sein, müsste einsignifikanter Anstieg in der Abgabebereitschaft zu beobachten sein. Doch das Ver-halten der Teilnehmer widerlegt diese Vermutung: Lediglich in Sample 2 sind einzehnprozentiger Anstieg fairer Aufteilungsvorschläge und ein nochmaliger Rückgangegoistischen Verhaltens auf 0 % zu verzeichnen. Diese Differenz ist jedoch statistischnicht signifikant (signierter Wilcoxon-Test, T+=40, p=0.12, einseitig). Im erstenSample sind sogar keinerlei nennenswerte Änderungen in der individuellen Abgabe-bereitschaft zu vermerken (siehe Abb. 2).

Natürlich sollte die Reputationshypothese nicht vorschnell verworfen werden, nurweil sie auf Aggregatdatenebene keinen zusätzlichen Erklärungsbeitrag leistet. Wiedie Daten aus dem zweiten Sample nahe legen, gibt es einen nicht zu vernachlässi-genden Anteil von Akteuren, die sich vornehmlich um ihre Reputation sorgen undnicht per se fair sind oder sich gar vom besseren Argument überzeugen lassen. Ins-gesamt haben jedoch zu viele Teilnehmer direkt nach der Diskussion bereits einenfairen Betrag abgegeben, so dass die Reputationshypothese keine reelle Chance hatte,um sich auf Aggregatdatenebene zu bewähren. Ein differenzierter Blick auf das Ent-scheidungsverhalten einzelner Teilnehmer ist daher notwendig.

Individualdaten

Trotz konstanter Rahmenbedingungen zeigt sich beträchtliche Heterogenität im in-dividuellen Abgabeverhalten. So gibt es Teilnehmer, die sich selbst unter dem Deck-mantel der Anonymität und ohne jegliche Form von Kommunikation fair verhaltenund mehr als 40 % des verfügbaren Betrags abgegeben (Abgabebetrag ≥ 2 Euro).Andere wiederum sind lediglich an ihrem eigenen Profit interessiert (Abgabebetrag≤ 50 Cent) und lassen sich weder durch Argumente noch durch Offenlegung ihrerEntscheidungen von ihrer favorisierten Wahl abbringen. Zwischen diese beiden Ex-treme mischen sich zahlreiche Entscheidungen, die auf ein Interesse der Akteure anihrer Reputation hindeuten oder gar als starke Evidenz für ihre Verständigungsbe-reitschaft gelten können.

Um ein deutlicheres Bild von der relativen Bedeutung dieser verschiedenen Inter-aktionseinstellungen zu zeichnen, teile ich das beobachtete Abgabeverhalten der

4.3.3.

Aufsätze

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Teilnehmer in Kategorien ein. Insgesamt offenbaren die Daten fünf klar abgrenzbareVerhaltenskategorien, die jeweils als Destillat der diskutierten Hypothesen zu ver-stehen sind. Diese Kategorien sind: cheap-talk, Verständigung, Reputation, Fair-ness und Solidarität (die Kategorisierungsregeln sind in Abb. 3 dargestellt).

Abbildung 3: Kriterien für die Kategorisierung des Abgabeverhaltens29

Cheap-talk:

A1,2,3 < 2 und A2 - A1 � |0.5| und A3 - A2 � |0.5| und A3 - A1 � |0.5| und �V > |0.5|

Verständigung:

A1,2,3 < 2 und A2 - A1 > 0.5 und A2 = A3 = V

Reputation:

A1,2,3 < 2 und A2 - A1 � 0.5 und A3 - A2 > 0 und A3 = V oder

A1,2,3 < 2 und A2 - A1 � 0.5 und A3 - A2 > 0.5 und A3 � V und �V � |0.5|

Solidarität:

A1,2,3 < 2 und A2 - A1 > 0.5 und A3 - A2 � |0.5| und A2,3 � V

Fairness:

A1,2,3 � 2 und A2 - A1 � |0.5| und A3 - A2 � |0.5|

Mit Hilfe dieser fünf Kategorien können 93 % der individuellen Abgabeentschei-dungen erfasst werden. Die restlichen 7 % lassen dagegen kein klares Verhaltens-muster erkennen und werden daher als Ausreißer gewertet. Abbildung 4 zeigt denrelativen Anteil der einzelnen Kategorien an der Gesamtpopulation sowie jeweilseinen exemplarischen Fall zur Verdeutlichung der vorgenommenen Typisierung.Überraschenderweise war Reden lediglich für weniger als 10 % der Teilnehmer tat-sächlich billig. Für mehr als die Hälfte der Teilnehmer hat die Diskussionsrunde dieindividuelle Abgabebereitschaft dagegen auf die eine oder andere Weise beeinflusst.Ein Teil dieses Einflusses kann problemlos unter Rückgriff auf das Konzept der stra-tegischen Rationalität erklärt werden. So hat die Diskussion bei einigen Akteuren dassoziale Bewusstsein leicht erhöht, obwohl sie sich später nicht an die Übereinkunftaus der Diskussionsrunde gehalten haben. Ein Teilnehmer hat diesen klassischen So-lidaritätseffekt im Abschlussfragebogen auf den Punkt gebracht: »Durch die Diskus-sion entsteht ein persönlicher Bezug zu den Gegen- bzw. Mitspielern, der tatsächlichetwas auf die übliche Skrupellosigkeit einwirkt«. Neben diesem Solidaritätsschub,der knapp 10 % aller teilnehmenden Akteure erfasst hat, waren auch die im theoreti-schen Teil beschriebenen Reputationseffekte deutlich zu beobachten: Rund 15 % derTeilnehmer haben sehr stark auf die Öffentlichkeit in der dritten Spielrunde reagiert

29 Erläuterung der verwendeten Symbole: A = Abgabebetrag, V = öffentlicher Abgabevor-schlag am Ende der Diskussionsrunde, ∆V = Abweichung von diesem Betrag. Subskriptebezeichnen die jeweilige Spielrunde, in der die Abgabeentscheidung getroffen wurde.

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und ihr Abgabeverhalten ihrem vorausgegangenen Aufteilungsvorschlag in der Dis-kussionsrunde angepasst.

Abbildung 4: Verhaltenskategorien

Ein anderer Teil dieses Einflusses ist dagegen als starke Evidenz für die hand-lungskoordinierende Kraft der Sprache zu werten. Immerhin ein Viertel aller Dikta-toren hat sich an die getroffene Übereinkunft am Ende der Diskussionsrunde gehaltenund ist selbst bei anonymer Entscheidung nicht davon abgewichen – und dies obwohlder konsensuale Abgabebetrag im Durchschnitt 1,30 Euro über der ursprünglich fa-vorisierten Wahl lag. Keiner der oben vorgestellten rationalistischen Ansätze kanndieses Entscheidungsverhalten plausibel erfassen. Guilt aversion – beispielsweise –bedarf nicht der Aktivierung durch Kommunikation, wenn bereits alle Teilnehmerüber den normativen Kontext, ja sogar über die situationsspezifischen Erwartungenihrer jeweiligen Partner informiert sind. Ähnliches gilt auch für die Reduktion sozialerDistanz durch verbalen Austausch: Natürlich könnte man argumentieren, dass einverstärktes Solidaritätsgefühl manche Akteure dazu bewegt hat, exakt den konsen-sualen Betrag abzugeben, andere dagegen nur dazu, etwas großzügiger zu sein, ohnesich dabei jedoch an die öffentliche Absprache zu halten. Eine solche definitorischeEntgrenzung setzte sich aber zu Recht dem Vorwurf des concept stretching aus. Als

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einzig plausible Erklärung für das Abgabeverhalten dieser Teilnehmer drängt sichdaher ihre Verständigungsbereitschaft auf.30

Schlussbetrachtung

Wie billig ist Reden nun wirklich? Nicht sehr – lediglich bei einem von zehn Expe-rimentteilnehmern hat Kommunikation nachweisbar keinen Einfluss auf das indivi-duelle Entscheidungsverhalten ausgeübt. Mehr als 50 % haben sich dagegen durchden verbalen Austausch mit anderen Teilnehmern in ihrem Abgabeverhalten beein-flussen lassen.31 Diese Macht der Worte bricht sich jedoch über diverse Einflusska-näle bahn und darf daher nicht per se als Evidenz für die kontextspezifische Dominanzkommunikativer Rationalität gewertet werden. Die eine Hälfte aller beobachteten ar-gumentationsbasierten Verhaltensänderungen ist nämlich mit dem Konzept der stra-tegischen Rationalität – sprich: mit der Annahme fixer Verteilungspräferenzen –vollkommen kompatibel. Die andere Hälfte hingegen kann als Evidenz für die Theoriekommunikativen Handelns gedeutet werden: Rund 25 % aller Experimentteilnehmereinigen sich in der Kommunikationsphase des Experiments auf einen gemeinsamenAbgabebetrag und lassen anschließend ihren Worten auch in Anonymität kongruenteTaten folgen – selbst wenn dies von ihnen verlangen sollte, beträchtlich mehr abzu-geben als zuvor.32

Diese Vermessung des relativen Erklärungsbeitrags von kommunikativen und stra-tegischen Rationalitätskonzepten in einem perfekt kontrollierten Laborumfeld istzwar nicht direkt auf einzelne internationale Verhandlungen übertragbar. Sie hat jen-seits ihres konzeptionellen Werts aber auch einen unmittelbaren Einfluss auf die em-pirische Verhandlungsforschung: Erstens zeigt sie, wie wichtig es ist, neue rationa-listische Alternativerklärungen für argumentationsbasierte Verhaltensänderungenangemessen zu berücksichtigen, um die Gefahr kontrafaktischer Kurzschlüsse in em-pirischen Studien zu minimieren. Zweitens legt sie nahe, dass die Suche nach au-thentischen Überzeugungsvorgängen und verständigungsorientierten Akteuren in in-ternationalen Verhandlungen sich auch weiterhin lohnt.

Damit diese Suche von Erfolg gekrönt wird, ist es allerdings nötig, einige blindeFlecken in der Anwendung der Theorie kommunikativen Handelns abzudecken –denn nur so kann ihr grundsätzliches Erklärungspotenzial vollständig zur Entfaltung

5.

30 Natürlich konnte die Verständigungsbereitschaft der Teilnehmer – wie alle mentalen Ka-tegorien – auch im vorliegenden Experiment nicht direkt beobachtet werden. Der Nachweiskommunikativen Handelns bleibt ein kontrafaktischer, der seine Validität aus der best-möglichen Kontrolle aller bekannten Erklärungsalternativen zieht.

31 Für die verbleibenden 40 % war der Effekt sprachlichen Austauschs auf das individuelleAbgabeverhalten aus methodischen Gründen nicht zu bestimmen (siehe Fn. 15).

32 Zwar erfüllt die Anzahl der Beobachtungen sämtliche Mindeststandards, um die Signifi-kanz dieser Ergebnisse zu gewährleisten. Auf Grund der geringen absoluten Beobach-tungsanzahl in den einzelnen treatment-Gruppen (vgl. Abb. 1) wäre eine Validierung deraufgedeckten Entscheidungsmuster durch weitere Experimente jedoch mehr als wün-schenswert.

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gebracht werden. Neben der inhaltlichen Spezifizierung des besseren Arguments (1),bedarf es dazu vor allem einer tiefer gehenden Analyse zur Wirkung unterschiedlicherinstitutioneller Rahmenbedingungen auf das Akteursverhalten (2). Beide Vorhabenwürden einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des kommunikationstheore-tischen Ansatzes bedeuten und können durch experimentelle Studien entscheidendvorangetrieben werden.

(1) Warum sind einige Argumente überzeugend, andere dagegen nicht? Die Be-deutung dieser Frage ist jüngst von Tine Hanrieder (2008: 179f) noch einmal her-vorgehoben worden. Sie argumentiert zu Recht, dass kommunikationstheoretischeBeiträge zur Qualifikation des besseren Arguments bisher häufig zu einseitigen Mo-ralisierungen geneigt hätten, wodurch die grundsätzliche Offenheit kommunikativerRationalität aufgegeben worden sei. Dieses Vorgehen kann im Rahmen von experi-mentellen Studien vermieden werden, da der Forscher mit Hilfe von Abschlussfra-gebögen und durch genaue Kontrolle des Teilnehmerverhaltens leichter Rückschlüsseauf den differentialen Effekt einzelner Argumente vornehmen kann, ohne den Begriffdes besseren Arguments vorab moralisch immunisieren zu müssen – ein Vorgehen,das auf Grund der Komplexität und der begrenzten Zugänglichkeit zu Verbatimpro-tokollen für internationale Verhandlungen tatsächlich nur sehr beschränkt möglich ist(vgl. Müller 2007: 214-216).

(2) Wie genau hängt das bessere Argument vom institutionellen Kontext ab und wiewirken sich Variationen desselben auf die Bereitschaft der Akteure aus, dem besserenArgument Gehör zu schenken? Diese natürliche Anschlussfrage gewinnt zusätzlichesGewicht vor dem Hintergrund von Müllers (2004) Versuch, konkurrierende rationa-listische und konstruktivistische Erklärungen für erfolgreiches Argumentieren überdie Logik der Angemessenheit zu integrieren. In diesem Zusammenhang ist immernoch zu zeigen, wann genau welche Akteure verständigungsorientiertes Verhaltengegenüber strategischem Verhalten bevorzugen. Ein Experiment könnte auch hierweiterhelfen: Beispielsweise könnte man Akteure ein Diktatorspiel spielen lassen, indem sie sich ihre Machtposition und Anfangsausstattung zu Beginn des Experimentsselbst erarbeiten müssen (vgl. Cappelen et al. 2007). Anschließend könnte dann ana-lysiert werden, inwiefern sich diese Variationen in den Rahmenbedingungen auf dasArgumentations- und Abgabeverhalten einzelner Akteure auswirken. In Analogie zudiesem Schema kann der Experimentator jede beliebige Manipulation des institutio-nellen Kontexts kontrollieren und darüber hinaus durch zielgerichtete Wiederholun-gen die Signifikanz der Ergebnisse sichern – auch dies ist für realweltliche Verhand-lungen nicht möglich.

Diese Wahlfreiheit, einen problematischen Sachzusammenhang unter Abwandlungeinzelner selbst gewählter Rahmenbedingungen unendlich oft analysieren zu können,ist aber allein noch keine Garantie für eine erfolgreiche Beantwortung der beidenoffenen Forschungsfragen. Neben dieser Flexibilität muss das experimentelle Designnoch eine wesentliche Zusatzanforderung erfüllen: es muss truth preserving sein, d. h.es muss die Akteure auf einer Stufe niedrigerer Komplexität mit einem vergleichbarenProblem der Handlungskoordinierung konfrontieren (vgl. Betz 2006: 152-159).

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Im vorliegenden Experiment war diese Approximation an die Problemstruktur in-ternationaler Verhandlungen nicht zentral; schließlich ging es nur darum, alternativeKausalpfade argumentationsbasierter Verhaltensänderungen analytisch sauber zutrennen, um so ihren relativen Erklärungsbeitrag verzerrungsfrei bemessen zu kön-nen. Sollen Laborversuche zukünftig dagegen die empirische Forschung direkt un-terstützen, ist die Approximationsgüte entscheidend. Nur unter der Voraussetzunghoher Güte können nämlich die Erkenntnisse aus einer Situationsstruktur ruhigenGewissens auf eine andere übertragen werden. An dieser Stelle wird nochmals deut-lich, dass das vorliegende Diktatorexperiment auf Grund seiner Stilisierungen fürdiese Aufgabe ungeeignet ist. So stark es sich zur Klärung konzeptioneller Fragenanbietet, so wenig erfasst es die Dynamik realer Verhandlungen, die sich über zahl-reiche Interaktionsperioden entfaltet und von Akteuren geprägt wird, die mehr als nursimple Allokationsentscheidungen zu treffen haben. Zum besseren Verständnis dieserDynamik sind zweifellos komplexere Experimente nötig, die die Teilnehmer stärkerin das Handlungs- und Entscheidungsgefüge einer realen Verhandlungssituationzwingen.

Dies ist sicherlich keine leichte, aber dafür sehr lohnenswerte Aufgabe, wie diejüngste Diskussion um Chancen und Grenzen der experimentellen Methode belegt(Falk/Fehr 2003; Levitt/List 2007; Ostrom 2006). Dass sie keineswegs unerfüllbarist, haben zahlreiche Experimente der letzten Jahre gezeigt: So haben beispielsweiseMathias Drehmann, Jörg Oechssler und Andreas Roider (2005) in einem Internetex-periment die Neigung von mehr als 6000 Teilnehmern zu Herdenverhalten bei In-vestitionsentscheidungen in Finanzmärkten analysiert; Arno Riedl und Frans vanWinden (2007) haben den Zusammenhang zwischen Lohnnebenkosten und Arbeits-losigkeit experimentell ausgeleuchtet; und Dan Ariely (2008) ist es gelungen, expe-rimentell gewonnene Einsichten zum Verbraucherverhalten einem breiteren Publi-kum näher zu bringen – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Nicht umsonstkommen Experimente daher mittlerweile auch in der Politikwissenschaft vermehrtzum Einsatz (z. B. Levine/Palfrey 2007; Tingley/Walter 2006). Bei all dieser berech-tigten Hoffnung darf aber eines nicht vergessen werden: Experimente sind lediglicheine Ergänzung der empirischen Forschung, niemals jedoch ihr Ersatz. So verstandensollten sie zukünftig allerdings einen gleichberechtigten Platz im Methodenkabinettder Internationalen Beziehungen einnehmen.

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Marieke de Goede

Finance and the ExcessThe Politics of Visibility in the Credit Crisis

Introduction1

In October 2008, American artgroup Triiibe descended on Wall Street for a piece ofperformance art entitled Bailout and Bonuses.2 Dressed immaculately in businesssuits, the triplets of Triiibe positioned themselves on controversial sites of the currentcredit crisis, for example in front of flailing insurance company AIG, to beg for bailoutmoney. Rattling their begging bowls while holding briefcases filled with bonus mo-ney, the art group demanded attention for the exorbitant bonuses paid in the financialindustry at a time when public money was required to keep leading banks and insurersafloat. Triiibe's statement was well-received and has become a modest YouTube hit:clearly, the film taps into a larger populist anxiety and political debate about thecontemporary bonus culture.

My contribution to this forum discussion places the present crisis into a longerhistorical and cultural perspective, in order to question how the discursive field of thecurrent crisis is being structured. For example, the Triiibe performance helps consti-tute the problem as one of exorbitant bonuses paid in the financial sector. This dia-gnosis has important historical lineages in notions of excess and greed in financialmarkets. A historical and cultural perspective, then, is indispensable in order to un-derstand how the (international) politics of the current crisis operate, and how theyresemble, but also differ from, earlier moments of crisis. It needs to be understoodthat the material practices of financial markets and financial regulation intimatelydepend upon the ways in which discursive understandings of financial crisis unfold.The perspective offered here may be understood as a ›poststructural‹ reading of po-litical economy. The first section of this paper briefly explains what such a perspectivemight entail, and how its political contribution to debates has to be understood.

My contribution to this forum advances two arguments concerning the politics ofcrisis that will help illuminate the limits to current debates. First, it is shown that thepolitical resolution to financial crisis always depends on a particular definition of anexcess in the system. The excess is understood as a mode of behaviour that is notproperly part of the markets, but that has crossed a certain line of normality, morality,or rationality, causing the system to spin out of control. The excess is understood to

1.

1 Many thanks to Christopher Daase, Rainer Hülsse, Dieter Kerwer and Steven Wakat forinviting me to participate in the ZIB roundtable on »Die Finanzkrise als Herausforderung fürdie internationale Ordnung« at the German Political Science Association's meeting in Kiel inSeptember 2009, and for their very helpful comments on the presented version of this paper.

2 Watch the performance online via the Triiibe website: www.triiibe.com.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen16. Jg. (2009) Heft 2, S. 299 – 310

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arise when normal, socially beneficial financial markets morph into wild zones ofirrationality, exuberance or, as the current crisis is frequently understood, toxicity.Secondly, the definition of excess in the system is always a political process: not inthe sense of a process driven by particular and identifiable political interests (althoughthey sometimes are, see Scherrer in this volume), but political in the sense of beingcontingent. Thus, the definition of the excess in the system depends not on an objectiveeconomic analysis, but is formed over time, through competing discourses andthrough a particular cultural representation of the problem and the causes of the crisis.To advance these points, this article offers a brief detour in financial history in orderto examine what modes of cultural representation have historically been deployed tocomprehend and diagnose current excess in the markets.

Poststructural Political Economy

A complex reality like financial crisis has no unequivocal and immediate meaning,but depends upon political and cultural processes of articulation, mediation and se-dimentation to be able to lead to enactment of regulatory change. Consequently, theinternational politics of financial restructuring, government bailouts and institutionalchange depend upon such prior processes of meaning-making. What may be called apoststructural perspective on political economy helps make sense of such processes,and renders visible the politics at work here. Clearly, the term poststructuralism re-mains complex and disputed, and cannot be said to refer to one coherent researchagenda. However, broadly speaking the following three elements would accompanya poststructural research agenda.3 More recently, there has also been attention to theseelements through the lens of ›cultural political economy‹ (see Best/Paterson 2009).

First, poststructural analysis brings to the fore the importance of discourse andrepresentation for political and economic practice. This involves not just the under-standing that all political knowledge is discursively mediated, but also a recognitionof the deeply discursive nature of the realms of politics and economics. This does notmean that the linguistic is to be prioritized over the material, but more precisely a»moving beyond a simplistic consideration of objects by reconceptualizing materia-lism so it is understood as interwoven with cultural, social, and political networks«(Campbell 2005: 951). This point of the inseparability of material practice and dis-cursive mediation has famously been made by Ernesto Laclau and Chantal Mouffe(2000: 108) when they wrote:

»An earthquake or the falling of a brick is an event that certainly exists, in the sense thatit occurs here and now, independently of my will. But whether their specificity as objectsin constructed in terms of ›natural phenomena‹ or ›expressions of the wrath of God‹, de-pends upon the structuring of a discursive field« (also Campbell 1992: 6).

2.

3 This discussion draws upon de Goede (2006: 5-15). German readers can find an introductionto poststructural political economy in Stäheli (2007). Key texts introducing and theorizing apoststructural perspective on political economy and finance include: Shapiro (1993); Daly(2004); Campbell (2005); de Goede (2003, 2006).

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Much more even than Laclau and Mouffe's proverbial earthquake, financial crisisis a complex social phenomenon requiring processes of mediation to become actio-nable. Indeed, amid the vanished fortunes, the elusive nature of financial instrumentsand the undeniable processes of trust underpinning modern money, cultural mediationand visualization of the markets and their mysteries prove to be inevitable in times ofcrisis (e.g. Taylor 2004). Thus, it matters a great deal whether we understand the crisisas a problem of the system or a problem of the boardroom, as Stefan Schirm askselsewhere in this volume for example. The questions of how certain meanings arefixed at the expense of others, how certain representations dominate alternatives, howthe limits of political discourse are constituted, then, go to the heart of poststructuralpolitics.

Considering the politics of representation is of particular important to political eco-nomy and finance, for it opens up technical and depoliticized economic practice toscrutiny. The international politics of the crisis do not start at the moment when po-liticians, parties and think-tanks assemble to advocate particular responses and regu-latory measures on the basis of pre-existing economic understandings of what whenwrong. The politics of the crisis start prior to that moment – they start when numbersare compiled, losses are measured, causes are investigated and problems are diagno-sed (also Hülsse 2007). Before events and phenomena can be discussed in policyforums or be the subject of international negotiations, according to Miller and Rose(1990: 7), they must be »rendered into information,« in the form of, for instance,»written reports, drawings, pictures, numbers, charts, graphs, statistics«. It is thesediscourses that bring economic and financial reality into being, and that render certain(policy) interventions more possible than others. While not new to economic andfinancial history, moreover, it is probably the case that processes of mediation havebecome more important in the current globally mediated age.

Secondly, poststructural readings of political economy tend to problematize interestand agency, which are all too often treated as ›givens‹ in economic discourse. Insteadof assuming a prior political agent that (individually or collectively) wields power toserve its particular interests, it becomes imperative to enquire into the discursive con-stitution of agency and interest themselves. It becomes imperative, in Judith Butler's(2004: 16) words, to »rethink the relations between conditions and acts. Our acts arenot self-generated, but conditioned«. One of the ways in which Butler's rethinking ofagency speaks to the study of the global political economy and the concerns of thisforum is by challenging the representation of capital as a coherent logic driven byclass interests (e.g. Aitken 2007). In addition, Paul Langley (2008) has done much toproblematize agency in financial practice, and to draw attention to the historic anddiscursive constitution of the modern ›investing subject‹, who understands his inte-rests to be intimately tied up with the financial markets. Furthermore, theories ofperformativity, as developed by Butler and others in order to problematize the pur-poseful agent behind the political act, are becoming quite influential within the studyof finance and economics from geographical and sociological perspectives, althoughthe precise meaning and significance of performativity is under debate (e.g. Callon1998; Clark/Thrift/Tickell 2004; MacKenzie 2007; Stäheli 2007). Understanding fi-

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nance as a performative practice suggests that processes of knowledge and interpre-tation do not exist in addition to, or are of secondary importance to, ›real‹ materialfinancial structures, but are precisely the way in which ›finance‹ materializes.

Thirdly, a rethinking of the politics of dissent and resistance forms a controversial,but also promising, poststructural intervention in the study of the political economy.The rethinking of dissent through poststructural lens is sometimes seen as very pro-blematic for politics, in the sense that emphasizing the cultural and historical contin-gency of ›truth‹ deprives (left-wing) politics of sorely needed normative ground. Tothe heart of these concerns of dissent and resistance goes a new realization of theambiguities of the contemporary political economy and practices of dissent. Forexample, Louise Amoore has pointed to the manifold contradictions in the globalpolitical economy within which we all find ourselves, and asks, »how do we under-stand the Amnesty International Visa cardholder who stands opposed to the humanrights abuses that characterize much of contemporary world politics, but whose debtis bundled up and sold in the global financial markets? « (Amoore 2006: 261; see alsoAmoore/Langley 2004; Brassett 2009). For Amoore it is precisely these contradic-tions, however, that have the ability to become ›points of politicization‹, In otherwords, a realization of the ambiguous divide between the rulers and the ruled findsdissent in unexpected places. Providing a historical and cultural reading of the currentfinancial crisis, then, is also intended as a political strategy of ›making strange‹ currentunderstandings, and thereby opening up other avenues of critique.

Two Metaphors of Crisis

At risk of oversimplifying, it is possible to argue that two modes of understandingcrisis have pervaded financial history, from the seventeenth century onwards. Thesemodes of understanding are important insofar as they offer contemporary analystsreadily available frameworks through which to interpret complex events. I am notsuggesting that all financial crises are the same, in a seemingly inescapable cyclicalcapitalist drive. On the contrary, I am suggesting that we need to be more attentive tothe particular processes of commodification and the particular cultural understandingsof risk implicit in each historical moment of crisis. The deployment of historicallydurable metaphors of crisis, which invariably takes place, often works to obscure theunique cultural history of individual financial crises. This is precisely why criticalattention to these received modes of understanding is important. As Michel Foucault(1994: xiv) has analyzed, scientific discourses depend on implicit »rules that comeinto play« that establish their value, truth and practical application. If we sort outthings in the real world on the basis of historically shaped and contested grids of»identities, similitudes, analogies,« then metaphors of crisis function as such grids(Foucault 1994: xix).

The first historically available understanding of financial crises is one of a momentof irrationality, madness or exuberance. It is often assumed that a cause of financialcrisis is a turn to collective irrationality, in which financial participants were dazzled

3.

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by visions of unprecedented fortunes and easy money. Such visions of fortune caninclude pristine mining grounds in far away countries (Tsing 2001); new economiesand dotcom wonders that do not require traditional offices or investments (Thrift2001), or ever-rising real estate values in Western societies (Aalbers 2008). A muchlarger cultural history of El Dorado, or Schlaraffenland could be said to be at workhere. For example, in Charles MacKay's classic account of financial crisis, Extraor-dinary Popular Delusions and the Madness of Crowds, details seventeenth centuryinvestment schemes that included making money by prospecting for ore and iron, andfor making a wheel of perpetual motion (1995: 60f). Such visions of fortune, the storygoes, cause normally cool-headed investors to loose their calm, forego their soundjudgement and turn into hysterical crowds (Stäheli 2002). This hysteria, in turn, isbelieved to cause the prices of financial assets to inflate irresponsibly and detach themfrom their ›real‹ values. A new version of this old theme is offered in Robert Shiller'ssuccessful Irrational Exuberance, in which he addresses the dotcom bubble as aninstance of irrational crowd behaviour. Shiller (2000: 3f) argues that financial markets»have been bid up to unusually high and unsustainable levels under the influence ofmarket psychology,« and that this human tendency in the markets has to be understoodas »irrational exuberance« (2000: 3f, 14). Shiller's analysis of the intrusion of psy-chology and human tendencies in financial markets implies that these human aspectswould not be part of the market in normal times – quite a political and contestableassumption in itself.

One particularly notable aspect of the representation of financial crises in terms ofexuberance and madness is its overt gendered and even sexualized nature throughoutfinancial history. Put simply, throughout the ages we see time and again that financialcrisis and excess are associated with female fickleness and promiscuity, such as inDaniel Defoe's eighteenth century odes to Lady Credit (Pocock 1975). Defoe's con-tributions to the debates surrounding the eighteenth-century South Sea Bubble – asocial and economic panic about the legitimacy and validity of paper credit instru-ments – pivoted on the visualization of credit as an attractive and promising, but alsostubborn and fickle young woman. »Money has a younger Sister, a very useful andofficious Servant in Trade,« wrote Defoe,

»Her name in our Language is call'd CREDIT …This is a coy Lass, and wonderful charyof her Self; yet a most necessary, useful, industrious creature: she has some Qualificationso particular, and is so very nice in her Conduct, that a World of Good People lose herFavour, before they well know her Name; others are courting her all their days to nopurpose, and can never come into her Books« (quoted in Pocock 1975: 452).

Only men who treat her with respect and who have the power to resist her manytemptations, can prosper economically and financially, according to Defoe. Also theDutch tulip bubble of the early seventeenth century was described and understoodthrough a central female figure. In debates and pamphlets surrounding this crisis,Flower goddess Flora evolved from aloof Goddess to the bearer of illegitimate andstillborn children, which signified the worthless futures contracts. It is my argumentthat these gendered images are not just a cultural fringe on financial debates, but arepart of a central political discourse through which crises are understood and resolved

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(de Goede 2005: 21-46). The purpose of Defoe's contributions to the South Sea de-bates was to develop a framework in which credit and paper-money could becomeconsidered respectable and secure economic instruments. Only in contrast to pools ofirrationality and irresponsibility, often symbolized through female figures, were mo-dern reconstructions of rationality and normality enabled.

The second historically available understanding of financial crises and excess Iwould like to analyze here is based on metaphors drawn from the natural world. Here,of course, the bubble metaphor is the most famous one, having been around at leastsince the eighteenth-century South Sea Bubble. Water is a dominant theme in theunderstanding of financial bubbles: this is when the normal liquidity of financialmarkets transforms into a flood or deluge. For example, one of the so-called bubbleplaying cards, produced at the time of the South Sea Bubble and intimately connectingthe emerging world of finance with that of gaming, depicts contemporary business-men climbing upon a tree-like edifice of speculation, and from there, plunging intothe water. The image is accompanied by the following text: »The Headlong FoolsPlunge into South Sea Waters; But the sly Long-heads wade with caution; the First adrowning but the Wise last; Venture no deeper than the knees or waist« (MacKay1995: 63). Here, the flood or deluge symbolizes finance's excess, drowning thosespeculating men who behave incautiously or imprudently. It is possible to find otherwater-metaphors throughout financial history; for example, when in the late nine-teenth century the Chicago Board of Trade came under considerable societal critiquefor fostering untrammeled speculation, it issued a pamphlet in its defense. In thispamphlet, it was argued amongst other things, that speculation was perhaps excessivebut relatively insignificant, as it »bears about the same relation to the legitimate com-merce that the froth and foam of the Niagara do to the mighty volume of water un-derneath. It is the bubble and fuss and fury, the froth and foam upon the surface oftrade and commerce that offends – not the trade and commerce itself« (CBoT 1892:44).

The significance of the bubble metaphor is that it naturalizes financial markets andcomplex financial products as aspects inherent in the natural world. Although menare assumed to have to take responsibility in the face of crisis, its causes are placedbeyond human behaviour, in the domain of natural disasters, floods or catastrophes.I would place our current understanding of untenable mortgage derivatives in termsof toxic assets in this second category of natural metaphors. Toxicity is a quality ofnature – even if it is a bad one. Clearly, the two metaphors that I have described here,the bubble metaphor and the madness metaphor, cannot be fully separated and areoften mixed in actual discourses of crisis. For example, here is how MacKay (1995:71) describes the eighteenth-century South Sea Bubble in England:

»During the progress of this famous bubble…England presented a singular spectacle. Thepublic mind was in a state of unwholesome fermentation. Men were no longer satisfiedwith the slow but sure profits of cautious industry. The hope of boundless wealth for themorrow made them heedless and extravagant for to-day. A luxury, till then unheard of,was introduced, bringing in its train a corresponding laxity of morals. The overbearinginsolence of ignorant men, who had arisen to sudden wealth by successful gambling, mademen of true gentility of mind and manners blush«.

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But the effect of both crisis metaphors is similar: they both enable a drawing ofboundaries in financial practice: the metaphor of madness implies a preceding, andpossibly returning, state of sanity and normality; the natural metaphors similarly im-ply the possibility of non-inflated, non-toxic and healthy financial economies. Thisdoes not mean that these supposedly normal states are fictional. But it does mean thatthe identification of excess is part of the political work done in these metaphors, andusually a first political step in enabling resolution of the crisis. The definition of theexcess simultaneously enables a banishing of the excessive, and a reaffirmation ofthe ›normal‹. This is why we need to pay attention to the contingent construction offinancial excess: such construction is less the result of an objective economic analysis,and more the result of a political process of negotiation and meaning-making thatevolves over time. The political problem with these processes of drawing lines is thatthey deny the mutual implication of the normal and the excess, and, quite often, leavecontestable financial speculative practices intact.

Bonuses and Bailouts

How do historical modes of understanding financial excess relate to contemporarydiscourses concerning the credit crisis? What current processes of line-drawing bet-ween financial normalities and excessive behaviors are taking place? If I am correctand the definition of excess in the system is a political and contested process, whatare the competing discourses and developing modes of understanding in which thepolitics of the credit crisis find expression? Here, it is important to note that the presentcrisis is no exception when it comes to the deployment of the lens of excess. As BarackObama put it in his speech to Wall Street bankers in September 2009: »We will notgo back to the days of reckless behavior and unchecked excess that was at the heartof this crisis, where too many were motivated only by the appetite for quick kills andbloated bonuses«. Furthermore, Obama (2009) – here serving as an example of thewider mediation of the problem – coins the crisis as one of responsibility, and stated»It was a failure of responsibility that led homebuyers and derivative traders alike totake reckless risks that they couldn't afford to take«. In the current crisis, I wouldargue, we can observe the development of two axes along which processes of line-drawing, or defining the excess, are now evolving. Bloated bonuses and reckless riskis how the excesses of the current crisis are (at least partly) understood – let's examinethese in turn.

The first contemporary excess – bloated bonuses – takes us back to the issues ad-dressed in the Triiibe film discussed at the outset of this paper. Most observers cer-tainly welcome the broad public debate now developing around the bonuses routinelypaid in the financial sector, and around the even broader notion of a ›bonus culture‹in which it becomes possible to ask questions about the incentives that financial exe-cutives and salesmen operate under. A loud and clear call for a reexamination of notjust the size of financial bonuses but also of the short time-horizons they encouragein the markets, is now being issued. For example, UK Prime Minister Gordon Brown

4.

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claims to be »leading the world in sweeping away the old short term bonus culture ofthe past and replacing it with a determination that there are no rewards for failure andrewards only for long-term success« (quoted in Kirkup/Prince 2009). At the recentG20 meeting in Pittsburgh financial sector bonuses were high on the agenda, and, tomany observers' surprise, a reasonably detailed agreement to limit these was reached.The G20 Leader's Statement phrased this agreement as follows: »Excessive compen-sation in the financial sector has both reflected and encouraged excessive risk taking.Reforming compensation policies and practices is an essential part of our effort toincrease financial stability. We fully endorse the implementation standards…aimedat aligning compensation with long-term value creation, not excessive risk-taking«(G20 2009: 8). Measures called for include transparency of financial compensationstructures and keeping bonus payments in line with financial institutions' capital base.

At the same time however, the present focus on the ›bonus culture‹ entails a veryproblematic and populist narrowing of the debate. It allows ordinary citizens an easytarget to voice their critiques of the financial sector, and it allows Labour-Party Mi-nisters, including Brown and the Dutch Finance Minister Wouter Bos, to make aseemingly firm stand against the financial industries. In the meantime, the complexproduct innovations and more fundamental risk cultures of the markets are in theprocess of being placed beyond public debate.

The second axis along which present excesses are identified and political debate isproceeding, is along the notion of reckless risks taken by homeowners who incurredmortgages at conditions they could not afford. In particular, it is understood to besubprime mortgage lending which has resulted in so-called toxic assets that are nowpoisoning the financial system. This analysis involves stories of excessive lending tolow-income clients, at variable mortgage rates that were set to rise in a matter of onlyyears, often taking borrowers by surprise. Again, it is to be generally welcomed thatfinancial authorities should examine critically the practices of subprime lenders whospecifically target financially excluded and illiterate constituencies (if that would in-deed be one of the policy results). But again, this problematization of the crisis is verylimited, and hinges on easily recognizable culprits, including loans sharks and ›pa-rasitic‹ back-door lenders (as analyzed in Leyshon et al. 2006). What remains invisibleis how practices of subprime lending are intimately connected to the globalized worldof high finance, securitization and complex product innovation. As Paul Langley(2008: 233) has put it, the contemporary crisis is »profoundly related« to the ways inwhich »unprecedented relationships between Anglo-American everyday borrowing,on the one hand, and the capital markets of global finance, on the other,« have deve-loped. The focus on subprime lending, then, leads to a partial visibility of contestablefinancial practices: while the ›bottom end‹ of the lending industries is critiqued, itsincorporation into the financial mainstream on the basis of spiraling practices of se-curitization remains largely invisible.

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Risk and Financial Exclusion

I have argued that historically grounded, but politically contingent discourses of crisisare important because they underpin processes and possibilities of regulatory andinstitutional change. In the contemporary credit crisis, discursive negotiations con-cerning the financial excesses that need to be repaired and contained, remain ongoing.In other words, competing assessments of the economic realities of the crisis remainin play, and it is not yet clear how these will become sedimented in regulatory initia-tives and institutional change. However, we can argue that among the most politicalaspect of the debates surrounding the current crisis is what they are in the process ofrendering invisible, uncontroversial and unquestionable. Which elements are not de-fined as excesses, but as normalities that do not require political redress, regulatoryor otherwise? Two, interrelated elements of financial practice need to be discussed inthis context of invisibility and implied normality.

First is the contemporary risk-culture in which complex financial models are de-ployed to effect what Leyshon and Thrift (2007) have called the »capitalization ofalmost everything.« As Leyshon and Thrift (2007: 98) put it, finance »must be ableto constantly reproduce itself to survive and that means that it must continuouslyprospect for new asset (streams) that can be turned into collateral.« A defining momentin the development of contemporary cultures of capitalization was the rise and fall ofthe high-profile hedge fund Long-Term Capital Management (LTCM) in 2001. LT-CM's founders included two Nobel Prize winners and the hedge fund was conse-quently thought to be ›unsinkable‹. At the time of its near-default in 2001, then, LT-CM's management strategies came under criticism, but not its market rationalities andits approach to risk. The vision of financial market innovator and LTCM-founderRobert Merton, for example, entailed the ideal of continuous and complete marketsin which every thinkable uncertainty can be bought and sold at an intrinsic fair price(e.g. Merton 1998; cf. de Goede 2005: chapter 5). Such complete market utopia hadbeen earlier proposed by Stanford economist and Nobel laureate Kenneth Arrow who,as one journalist put it, »had a vision of a world in which everything was assigned avalue on a market. In this utopia, every possible state of the world, past, present andfuture, from a stormy July evening in Patagonia to England winning the World Cuphad a financial payoff associated with it« (Dunbar 2000: 42). Financial calculativemodels, in particular the infamous Black-Scholes formula, enable this transformationof life's contingencies into calculable and, most importantly, tradable risk (e.g. Ma-cKenzie 2007). A very specific relationship to the future is at work here, where»computer modeling and advanced forms of probabilistic calculations« are deployedto bring potential futures into the present (Arnoldi 2004: 24). These are not, strictly,techniques of predicting the future, as much as they are techniques of dealing with»the incalculable fortunà« of political and economic contingency, and making itcommercially viable (Daase/Kessler 2007: 427). At the same time however, thesetransformations in risk and capitalization remained largely invisible to a wider audi-ence: as financial reporter Gillian Tett (2009: 6) has admitted, the financial mediaoperated with a »widespread assumption […] that the debt and derivatives markets

5.

Marieke de Goede: Finance and the Excess

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were simply too ›technical‹, ›boring‹ or ›complex‹ to be of any interest to non-ban-kers«.

It is this contemporary risk-culture, furthermore – and this is the second point ofinvisibility – that intimately connects the practices of subprime lending to the verycore of globalized investment banking. As Rob Aitken (2006) has shown, so-calledfringe finance, including subprime mortgages and payday lending, is not actually atthe fringe of the contemporary financial system but at its very core, both in terms ofcorporate structure and in terms of the way in which financial products work. Indeed,the securitization of consumer credit and family mortgages have transformed the mo-dest debts and ›meagre savings‹ of ordinary households into investment vehicles ofthe financial markets (Sassen 2008) and have rendered homeowners subjects of fi-nancialization (Aalbers 2008). These connections between the fringe and the core,between the mundane everyday mortgage payment and the exotic processes of secu-ritization at the heart of the financial industry, remain largely invisible to contem-porary interpreters of crisis – partly because excess is difficult to define vis-à-vis suchcomplex payment streams and financial relations.

What also remains invisible is the ways in which contemporary risk and capita-lization depend upon everyday practices of identity. As Langley (2008, 2007) hasshown, home-ownership is partially fostered through larger cultural desires wherebyhouses become seen as not just as homes, but as investment vehicles, and where thehomeowner can regard himself as a responsible investor. This is the making of mo-dern, neoliberal investment subjects in suburbia. Consequently, there is a sharp andincreasing tension between such contemporary cultures of investment identities, andthe escalating exclusionary practices of banks increasingly driven to close ›suspect‹accounts and reject irregularly documented clients. Put simply, fringe finance preysnot just upon the individual consumption desires of low-income financial clients orthose with blemished credit records, but addresses their desire to be good neoliberalinvestment subjects. In this context, contemporary excess cannot just be understoodas a »failure of responsibility« of homeowners and subprime lenders, but has to beplaced in its wider cultural dynamic of consumption desires, investment identities andcapitalization drives.

Conclusion

The objective of what could be called a poststructural perspective on contemporaryfinance is not just to provide a discourse analysis of the way in which complex (fi-nancial) realities become understood in media and politics. It does more than that: itanalyzes how these representations become politically actionable, and carve out lo-gical, rational, normal and impossible avenues for (institutional) change. It also pro-blematizes appeals to economic reality enquires into the constitution of modern eco-nomic and financial subjects. A truly political perspective on the current crisis, I haveargued, requires an analysis of the philosophical and cultural underpinnings of thecontemporary risk culture in financial markets, and a socio-cultural perspective on

6.

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the question of which contingencies become commodified and securitized at differentmoments in history. But perhaps the most pressing promise of poststructuralism is itsability to ›make strange‹ received frameworks of interpretation and invested repre-sentations of contemporary financial crisis. To denaturalize the orders and possibili-ties that have taken on the appearance of necessity and objectivity. This is a matterof what Foucault (1989: 305) calls »curiosity«, understood as »a readiness to findstrange and singular what surrounds us; a certain relentlessness to break up our fa-miliarities and to regard otherwise the same things; […] a casualness in regard to thetraditional hierarchies of the important and the essential«.

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Symposium

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Stefan A. Schirm

Koordinierte Weltwirtschaft?Neue Regeln für effizientere und legitimere Märkte

Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt deutlich, dass es dem derzeitigenmarktwirtschaftlichen Ordnungsmodell sowohl an Effizienz als auch an Legitimitätfehlt. Daher müssen wirksamere Regeln für globale Märkte geschaffen werden inForm von besserer Aufsicht und Regulierung von Finanzmarktakteuren, einer Stär-kung internationaler Organisationen und durch umfassendere Partizipation wichti-ger Staaten an Global Economic Governance. In der G20 konnten die Mitgliedsstaa-ten zwar Annäherung an viele Reformen, aber bisher nur unverbindliche neueRegelsetzung erreichen. Dies liegt wesentlich an der Vielfalt gesellschaftlicher Ideenund Interessen hinsichtlich der möglichen Reformstrategien, die die Regierungspo-sitionen prägen und zu zwischenstaatlicher Divergenz führen. Im optimistischen Fallzeichnet sich daher eine besser koordinierte Weltwirtschaft als Reaktion auf die Kriseab, die das Ziel grundsätzlicher Offenheit von Märkten mit besserer Aufsicht, Kon-trolle und Regelsetzung als Grundelemente einer legitimeren und effizienteren inter-nationalen Ordnung verbindet.

Die Finanzkrise als Problem der internationalen Ordnung

Die Welt erlebt derzeit die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Ende des ZweitenWeltkriegs. Anders als die Krisen der 1980er Jahre in Lateinamerika und 1990er Jahrein Asien hat diese Krise ihre Ursachen und zeigt ihre Wirkungen vornehmlich in denIndustrieländern der G7. Deshalb ist sie nicht nur eine Börsen-, Banken- und Kon-junkturkrise, sondern auch eine Krise des marktwirtschaftlichen Modells der eta-blierten Industrieländer und der von ihnen wesentlich getragenen internationalenWirtschaftsordnung, vor allem der Weltfinanzordnung. Die Krise wirft daher nichtnur die Frage nach ihrer unmittelbaren Bewältigung auf nationaler Ebene auf, sondernverleiht den schon länger diskutierten Fragen nach einer Reform internationaler Or-ganisationen und nach besseren Regeln für globale Märkte (Schirm 2004) neue Be-deutung. In Anbetracht zunehmend globalisierter Finanz- und Gütermärkte sowie desKrisen spill-overs von den USA auf andere Länder ist außerdem die Wirksamkeitnationaler Maßnahmen ohne internationale Kooperation eingeschränkt. Die Einbet-tung neuer nationaler Regeln in ein multilaterales Regelwerk ist aber nicht nur eineFrage der Effizienz marktwirtschaftlicher Ordnung, sondern auch ihrer Legitimität,d. h. ihrer Akzeptanz durch die Bevölkerung gerade in den Industrieländern als wich-tige Akteure der Weltwirtschaft.

Die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt deutlich, dass es dem marktwirt-schaftlichen Ordnungsmodell sowohl an Effizienz als auch an Legitimität fehlt. Ers-

1.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen16. Jg. (2009) Heft 2, S. 311 – 324

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tens fehlt es an Effizienz, da die von den Gesellschaften gewünschten öffentlichenGüter nachhaltiger Wohlstand und Stabilität nur unzureichend gewährleistet wurden.Zweitens mangelt es dem Ordnungsmodell an Legitimität, da es dem durchaus un-terschiedlichen, aber im Kern allen demokratischen Gesellschaften zugrunde liegen-den Anspruch auf Gerechtigkeit vielfach nicht ausreichend nachgekommen ist. Dieunzureichende Effizienz trug sicherlich ebenfalls zur sinkenden Legitimität im Sinnevon Akzeptanz des Modells bei. Die zentrale Herausforderung der Wirtschafts- undFinanzkrise ist es daher, diesen Mangel an Effizienz und Legitimität durch bessereRegeln und wirksamere Beaufsichtigung der Finanzmärkte zu beseitigen. Diese Auf-gabe stellt sich nationalen Gesellschaften und Regierungen ebenso wie der interna-tionalen Politik als Global Economic Governance, da jede Verregelung und Aufsichtvon Märkten nur eingeschränkt wirksam wäre, die sich in einer stark globalisiertenÖkonomie nur auf den Nationalstaat beschränken würde.

Für die Herausforderung einer Stärkung der Effizienz und der Legitimität desmarktwirtschaftlichen Modells durch neue Regeln sind drei Ebenen zentral: Erstensmuss ein Weg gefunden werden, eine Abkehr von der Deregulierungspolitik der1990er Jahre zu finden, ohne die Wachstumsdynamik des Wettbewerbs durch einenreglementierenden Staat zu stark zu beschneiden. Nicht Reglementierung, sondernbessere Kontrolle und Regelung von Marktakteuren scheinen angebracht. Es gehtdarum, einen kompetenten Staat durch starke Regulierungsbehörden sowie nationaleund internationale Aufsicht für Finanzmärkte zu schaffen. Zweitens müssen neuebzw. reformierte nationale Regeln international verankert werden, um gegenüber Fi-nanzmärkten wirksamer zu werden. Hierbei ist eine Stärkung internationaler Orga-nisationen wie etwa des Internationalen Währungsfonds (IWF) als lender of last re-sort ebenso denkbar, wie höhere Eigenkapitalanforderungen für Banken und dieSchaffung von öffentlichen Aufsichtsagenturen beispielsweise für die Kontrolle neu-er Finanzprodukte. Um das global public good größerer Stabilität auf den Finanz-märkten zu erreichen, ist die selektive Abkehr vom unregulierten Wettbewerb durchneue multilaterale Standards für Finanzmarkttransaktionen nötig. Drittens kann dieEffizienz und Legitimität eines zunehmend globalisierten Marktes nicht (mehr) durchdie G7 getragen werden. Eine flachere Hierarchie im internationalen System durchErweiterung der Koordinations-Gruppe und eine Reform bestehender Organisationenist zwingend nötig. Nicht nur sollte die G20 als ständiges Gremium etabliert werden,sondern auch andere internationale Organisationen wie der IWF müssen durch stär-kere Partizipation der emerging powers wie etwa China, Brasilien und Indien besserlegitimiert und effizienter werden.

Dieser Essay ist wie folgt aufgebaut: Zunächst wird gezeigt, worin sich in der ak-tuellen Krise der Mangel an Effizienz und Legitimität manifestiert. Im zweiten Schrittwird versucht, eine Skizze spezifischer Maßnahmen zeichnen, mit denen die Effizienzund die Legitimität von Finanzmärkten verbessert werden können. Anschließend wirdder Stand nationaler und internationaler Reformbemühungen kurz aufgezeigt. Danachwird ein societal approach zur Identifikation gesellschaftlicher Ideen und Interessenals Ursachen für die unterschiedlichen Regierungspositionen zu neuen Regeln für die

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Weltwirtschaft skizziert. Im letzten Teil werden die bisherigen Reaktionen auf dieHerausforderungen der Finanzkrise für die internationale Ordnung bewertet.

Mangelnde Effizienz und Legitimität des Ordnungsmodells

Die Ursachen der gegenwärtigen globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sind an an-derer Stelle kompetent und umfassend beschrieben worden (vgl. u. a. Comiskey/Ma-dhogarhia 2009; Helleiner 2009a, 2009b; Stieglitz 2008, Wade 2008) und könnendaher hier pointiert in Hinblick auf Effizienz- und Legitimitätsfragen in drei Punktenzusammenfassend skizziert werden:

Erstens kann die allzu lockere Geldpolitik der US Federal Reserve Bank unter AllanGreenspan sowohl als illegitim betrachtet werden, da sie de facto von keinem re-chenschaftspflichtigen Aufsichtsorgan überwacht wurde, als auch als ineffektiv, dasie US-Bürgern eine Konsum- und Kreditschwemme erlaubte, die in eine Überschul-dungs-Blase mündete. Konsum auf Pump und die Vergabe von Subprime-Kreditenan nicht-kreditfähige Hauskäufer durch Banken waren Konsequenzen einer wederpolitisch rechenschaftspflichtigen, noch ökonomisch nachhaltigen Politik der FederalReserve Bank. Die Politik der niedrigen Zinsen ist von den Regierungen Clinton undBush befürwortet worden, da sie Strohfeuer-Kaufkraft unter die Wähler brachte. Die-ser Konsum auf Pump in den USA traf auf das Interesse von Exportnationen wie etwaChina und trug dazu bei, die Verschuldungs-Blase um ein hohes Handelsdefizit zuergänzen.

Zweitens macht das völlige Versagen staatlicher Aufsichtsbehörden und privaterEvaluierung durch Rating-Agenturen bei der Beurteilung des großangelegten Ver-schleierns des Ausfallrisikos der Subprime-Kredite, u. a. durch Verbriefungen inCollateralized Debt Obligations (CDOs), Credit Default Swaps (CDSs) und Zertifi-kate die mangelhafte Wirksamkeit bisheriger Regeln deutlich. Dass es Finanzmarkt-akteuren möglich war, ein Schneeballsystem aufzubauen, dessen Profite in ihren Ta-schen landeten und dessen Kosten in Form der öffentlichen Mittel zur Rettung desBankensystems nun von den Steuerzahlern getragen werden müssen, zeigt, warumdieses System als ungerecht und somit illegitim durch die Bevölkerungsmehrheit inden betroffenen Staaten wahrgenommen wird. Als Gerechtigkeitsproblem stellen sichin der öffentlichen Debatte vor allem die exorbitant hohen staatlichen Rettungspaketebeispielsweise für die Hypo Real Estate (HRE) in Deutschland und für die AmericanInternational Group (AIG) in den USA dar. Die Beteiligung der staatlichen deutschenLandesbanken am Handel mit CDOs, CDSs und US-Zertifikaten sind besonderseklatante Fälle von unverantwortlichem, ineffizienten und illegitimen Handeln vonBankern, da sie im öffentlichen Auftrag vornehmlich zur Mittelstandsförderung hät-ten arbeiten sollen. Zu niedrige Eigenkapitalquoten und die mangelhafte Umsetzungselbst der moderaten im Basel II Abkommen vereinbarten Standards durch die USAhaben vor allem US-Banken außerdem anfälliger für den Ausfall von Forderungengemacht.

2.

Stefan A. Schirm: Koordinierte Weltwirtschaft?

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Drittens wurde das eingangs definierte Effizienz- und Legitimitätsdefizit der ge-genwärtigen Wirtschaftsordnung unterstrichen durch die in der Öffentlichkeit vieldiskutierten Entlohnungssysteme von Bankern und Unternehmensvorständen. Aufweitgehendes Unverständnis stößt sowohl im konsensual-egalitären Deutschland alsauch in den wettbewerbsorientierten USA, dass Bonuszahlungen und Abfindungenanscheinend unabhängig von der langfristigen Unternehmensentwicklung gezahltwerden. Die in beiden Ländern zu den ideellen gesellschaftlichen Grundlagen gehö-rende individuelle Leistungsorientierung wird aber in den Augen vieler nicht nurdurch leistungsunabhängige bzw. nur auf kurzfristige Spekulationsgewinne ausge-richtete Boni ad absurdum geführt, sondern auch durch den explosionsartig gewach-senen Abstand der Vorstandsbezüge zu den Durchschnittsgehältern. Diese von vielenwahrgenommene mangelnde Gerechtigkeit bei Vorstandsgehältern und Bonuszah-lungen wird ergänzt durch die offenbar nachteilige Wirkung der an kurzfristigemProfit ausgerichteten Boni-Systeme auf die für die Effizienz des Marktes relevantenöffentlichen Güter nachhaltiger Wohlstand und Stabilität.

Mehr Effizienz und Legitimität durch bessere Regeln?

Die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise liegen in erster Linie im Versagennationaler Aufsichts- und Regulierungsmechanismen. Die in den USA entstandeneKrise hat dann aufgrund der starken transnationalen Verflechtung globaler Finanz-und Gütermärkte auf andere Weltregionen übergegriffen. Daher stellt die Krise so-wohl eine Herausforderung für nationale Regulierung, als auch eine Herausforderungfür Global Economic Governance dar.

Die wichtigsten Maßnahmen für das Management der Krise und für die Verhinde-rung einer Wiederholung können wie folgt zusammengefasst werden:1– Banken sollten künftig wesentlich höhere, international abgestimmte Eigenkapi-

talquoten erfüllen, um einen Ausfall von Forderungen besser verkraften zu kön-nen. Für risikoreiche Kredite sollten – dem Basel II Prinzip folgend – höhereEigenkapitalanforderungen gelten. Die Kreditvergabe würde somit je nach Risi-kograd teurer. Außerdem sollte antizyklisch in guten Geschäftsjahren Eigenka-pital angesammelt werden, das in schlechten Zeiten als Puffer dienen kann. Zu-sätzlich sollten Banken einen Prozentsatz der von ihnen verkauften Papiere – wieetwa Zertifikate und CDOs – selber halten müssen.

– Für Finanzprodukte sollte ein TÜV, eine staatliche Prüfstelle eingerichtet werden,die im öffentlichen Interesse – ähnlich der Medikamenten-Zulassung – Finanz-produkte auf grundlegende Standards, Transparenz und Risiken überprüft. DieseMaßnahme zielt insbesondere auf CDS, CDO bzw. Zertifikate und auf die Tätig-keit von Rating-Agenturen. Letztere hatten die Produkte ihrer Auftraggeber oft-

3.

1 Vgl. u. a. Dieter (2009); Friedrich-Ebert-Stiftung (2009); Hartmann-Wendels (2008); Hell-einer (2009b); Paul (2009); Siebert et.al (2009).

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mals falsch bewertet und zeigen somit die Grenzen der Effizienz privatwirtschaft-licher Selbstkontrolle, der private governance.

– Höhere Transparenz sollte erreicht werden durch die Verpflichtung aller Finanz-akteure (auch der Hedge Funds), alle Aktivitäten in der Bilanz aufzuführen undnicht wie bisher Aktivitäten in Zweckgesellschaften auslagern bzw. außerhalb derBilanz tätigen zu können.

– Wenn der Zusammenbruch einer Bank das Finanzsystem gefährdet, gewinnt dieseBank ein Erpressungspotenzial gegenüber dem Staat – too big to fail. Daherscheint eine Zerschlagung von bzw. eine Obergrenze für Großbanken sinnvoll zusein.

– Gehälter und Bonuszahlungen von Bankern und Vorständen sollten begrenztwerden, auf den längerfristigen Unternehmenserfolg ausgerichtet sein und nichtan kurzfristigen, zur Spekulation anregenden Profitzielen. LeistungsabhängigeGehaltsteile sollten bei schlechter Unternehmensentwicklung gestrichen werdenbzw. negativ ausfallen (Malus-Regelung).

– Eine Steuer auf Finanztransaktionen sollte Finanzmarktbewegungen insgesamtverlangsamen und kurzfristige spekulative Transfers besonders verteuern.

– Internationale Ungleichgewichte wie beispielsweise die enormen Handelsüber-schüsse bei den Exportweltmeistern China und Deutschland sowie das dramati-sche Handelsdefizit beim Konsumweltmeister USA sowie die damit verbundenenstark asymmetrischen Kapitaltransfers sollten reduziert werden.

Internationale Debatten über Reformen

Diese Maßnahmen stellen die zentralen Forderungen für eine bessere Kontrolle undRegulierung der Finanzmärkte dar. Sie werden sowohl auf nationaler, wie auch aufinternationaler Ebene in der Europäischen Union, der G8 und zwischen den Staatender G20 diskutiert (G-20 2009; Gnath/Schmucker 2009; Dieter 2009). Betrachtet mandie Entwicklung der internationalen Konsultationen im Lichte der extra zur Bewäl-tigung der Krise ins Leben gerufenen Gipfeltreffen der G20 in Washington DC imNovember 2008, in London im April 2009 und in Pittsburgh im September 2009, sofällt die Bilanz etwas enttäuschend aus. Während in Washington die Regulierung undAufsicht aller Produkte, Akteure und Orte (Merkel 2008a) verabredet wurde, bekräf-tigten die Regierungschefs in London nur das Credo von Washington und sprachenprominent über die für die Krisenursachen wenig relevanten Steuerparadiese. InPittsburgh standen vor allem die Eigenkapitalquoten der Banken und die Beschrän-kung der Bonuszahlungen für Manager im Mittelpunkt. Die Ankündigungen bezüg-lich höherer und international vereinbarter Eigenkapitalanforderungen sind zwar einFortschritt, hätten aber schärfer ausfallen müssen. Bezeichnenderweise sieht die prä-ziseste Verpflichtung vor, die schon im Basel II Abkommen verabredeten Standardsnun bis 2011 umzusetzen (G-20 2009). Die USA hatten sich vor der Krise geweigert,Basel II sofort umzusetzen und waren dafür bereits 2006 von der deutschen Kanzlerinkritisiert worden (Schirm 2009: 515). Hinsichtlich der Bonuszahlungen wurde in

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Pittsburgh grundsätzlich eine Begrenzung und Leistungsorientierung verabredet. Ex-orbitante Boni widersprechen dem gesellschaftlichen Gerechtigkeitsempfinden undwaren hinsichtlich der Förderung spekulativen Verhaltens Teil der Ursachen für dieKrise. Verbindlich einigten sich die G20 Staaten auf eine Umverteilung von 5 % derStimmquoten im IWF zugunsten unterrepräsentierter emerging markets. Die meistenAnkündigungen im Schlusskommunique (G-20 2009) blieben aber unverbindlich undeinige wichtige Kernprobleme wie beispielsweise die Kreditschwemme, gefährlicheFinanzprodukte (z. B. CDOs, CDSs) und die Größe einzelner Banken (too big tofail) wurden nicht angegangen. Ebenfalls wurde nicht verhandelt, dass die derzeitigenstaatlichen Rettungsnetze für Banken einen moral hazard darstellen und Bankenvor-stände zu risikoreichem Verhalten und weiterhin exorbitanten Gewinnerwartungenverleiten könnten. Eine international abgestimmte Reform nationaler Regulierungs-modelle zu Finanzprodukten, Bankengrößen und Transparenz oder gar eine globaleAufsichtsbehörde mit Eingriffsrechten und verbindliche globale Regelsetzung sindderzeit nicht wahrscheinlich. Auf EU-Ebene wurde die Schaffung neuer Aufsicht-sagenturen für Banken, Versicherungen und Börsen beschlossen, die aber ebenso wieder neue European Systemic Risk Board keine Eingriffsrechte in die Souveränität derMitgliedsländer besitzen.

Insgesamt konnte auf dem G20 Gipfel in Pittsburgh der Eindruck gewonnen wer-den, dass die Reformbereitschaft nachgelassen hat nachdem die umfangreichen na-tionalen Rettungspakete den jeweiligen Bankensektor stabilisiert haben und in eini-gen Ländern die Talsohle der Krise anscheinend bereits durchschritten wurde. Dasnationale und internationale Krisenmanagement scheint erfolgreich gewesen zu seinund das window of opportunity des Krisenausbruchs schließt sich, auch wenn nurteilweise neue Regeln gesetzt wurden, um künftige Krisen zu verhindern. Der nach-lassende Reformwille ist allerdings insofern problematisch, als die Krise auf demArbeitsmarkt beispielsweise in Deutschland noch gar nicht voll angekommen ist, ei-nige Banken noch immer gefährdet sind und weil nationale und internationale Fi-nanzmärkte nach wie vor hohe Schwankungen verzeichnen. Trotz aller gemeinsamerAbsichtserklärungen lagen die Positionen der Regierungen sowohl auf EU-Ebene alsauch in noch stärkerem Ausmaß auf der Ebene der G20 oftmals derart weit ausein-ander, dass eine Einigung auf verbindliche neue Regeln und Aufsichtsbehörden nichtgelang. Bei den etablierten Industrieländern unterscheiden sich die Positionen geradezwischen den key players USA und Großbritannien auf der einen Seite sowie Deutsch-land und Frankreich auf der anderen. Während die USA und Großbritannien sichgegen international verbindliche hohe Eigenkapitalvorschriften für Banken, gegenmehr Kompetenzen für den IWF, gegen eine Steuer auf Finanztransaktionen und ge-gen international verbindliche Beschränkungen von Bonuszahlungen aussprachen,wurden diese Punkte von Deutschland und Frankreich unterstützt.

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Societal Approach: Vielfalt gesellschaftlicher Ideen und Interessen

Die zentrale Frage ist daher: Warum gelingt es der internationalen Staatengemein-schaft bisher weder im globalen Rahmen der G20, noch im regionalen der EU, derHerausforderung der Finanzkrise durch neue verbindliche und strukturell wirksameRegelwerke zu begegnen? Warum verhindern die Unterschiede zwischen den Posi-tionen der Regierungen der G7 bzw. G20 eine Einigung auf mehr Kooperation undauf eine verbindliche Reform der Weltwirtschaftsordnung? Bei der Untersuchungdieser Fragen soll analytisch und nicht normativ vorgegangen werden. Außerdemmüssen zur Beantwortung dieser Fragen die zwar analytischen, aber auf das interna-tionale System fokussierten Theorien der Internationalen Beziehungen, also Neorea-lismus, Institutionalismus und Regimetheorie ergänzt werden. Sie können die Varianzendogener gesellschaftlicher Ideen und Interessen nicht erfassen, in der hier die Ur-sache für die Unterschiede der Regierungspositionen vermutet wird. Diese Vermu-tung basiert auf dem Argument, dass demokratisch rechenschaftspflichtige Regie-rungen auch hinsichtlich ihrer Positionen zu Global Economic Governancedominanten gesellschaftlichen Einflüssen folgen, die von Lobbygruppen bis hin zuWählereinstellungen reichen können. Eine solche gesellschaftsorientierte Erklärungfür die Varianz nationaler Positionen gegenüber Global Economic Governance er-scheint plausibel aufgrund des Charakters der Finanzkrise als Phänomen, das alleGesellschaften der G7 bzw. G20 Staaten über transnationale Wirtschaftsströme direktbetrifft und das wie ausgeführt die Effizienz und Legitimität öffentlicher Güter be-rührt. Wie eingangs definiert, kann unter der Effizienz eines ökonomischen Ord-nungsmodells pragmatisch die Gewährleistung des öffentlichen Gutes nachhaltigerWohlstand und Stabilität, also die Vermeidung von Wohlstandsverlusten und vonInstabilität verstanden werden. Unter Legitimität eines Ordnungsmodells ist wie obendefiniert seine Akzeptanz aufgrund seiner gesellschaftlich wahrgenommenen Ge-rechtigkeit und Effizienz verstanden werden. Die genaue Interpretation von Begriffenwie Gerechtigkeit und Wohlstand wird hier nicht normativ hergeleitet, sondern istGegenstand der empirischen Analyse und kann daher je nach Land bzw. gesellschaft-licher Gruppe unterschiedlich ausfallen. Was beispielsweise unter einer gerechtenVerteilung von Wohlstand oder von Chancen verstanden werden kann, soll hier nichtexogen-normativ zugewiesen werden, sondern ist vielmehr Gegenstand der Untersu-chung der Vorstellungen gesellschaftlicher Akteure. Diese empirisch-analytisch zuermittelnde potenzielle Vielfalt gesellschaftlicher Ideen und Interessen stellt die un-abhängige Variable dar, die – so die These – Regierungspositionen als abhängigeVariable prägt.

Dieser societal approach, die gesellschaftsorientierte Erklärung für das internatio-nale Verhalten von Regierungen (Fioretos 2001; Frieden/Rogowski 1996; Katzen-stein 1978; Schirm 2002, 2009: 503-507) nimmt Bezug auf den Liberalismus alsTheorie der Internationalen Beziehungen (Moravcsik 1997) und ermöglicht die Er-fassung unterschiedlicher Interessen und Ideen innerhalb von Gesellschaften sowiederen Einfluss auf die Positionen der jeweiligen Regierung. Damit kann eine gesell-schaftsorientierte Analyse der Präferenzformation der Regierungspositionen verdeut-

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lichen, inwiefern die Finanzkrise auf unterschiedliche ideelle Interpretationen derKrise und der Rolle des Staates bei der Bewältigung der Krise treffen. Außerdem kannauf diese Weise gezeigt werden, inwiefern die Krise materielle Interessen in ver-schiedenen Ländern unterschiedlich betrifft und somit möglicherweise zu divergie-renden Lobbyeinflüssen auf die Regierungen führt. Interessen sind hier als schnellwandelbare materielle ökonomische Erwägungen definiert, Ideen als pfadabhängigekollektive Erwartungen über die politische Regelung der Ökonomie. Inwiefern ge-sellschaftliche Interessen und/oder Ideen Regierungspositionen beeinflussen, kann ineiner Diskursanalyse der Begründungsmuster von Regierungspolitikern plausibel ge-macht werden. Eine ausführliche theoretische Konzeption, Operationalisierung undempirische Überprüfung eines societal approach to international political economyfindet sich in Schirm (2009).

Als kurze Illustration der Möglichkeiten einer gesellschaftsorientierten Erklärungsoll in diesem Essay die endogene Präferenzformation Deutschlands und Großbri-tanniens hinsichtlich der Neugestaltung der internationalen Wirtschaftsordnung ver-gleichend skizziert werden. Dabei wird deutlich, dass sowohl unterschiedliche ideelleVorstellungen von der Rolle der Politik in der Ökonomie, als auch unterschiedlichematerielle Interessen die Präferenzen der Regierungen prägen und zu varieties ofstrategies beitragen:

Die britische Regierung folgt in ihren internationalen Positionen gesellschaftlichvorherrschenden ideellen Mustern wie sie in einer liberal market economy institutio-nell ausgeprägt sind (Hall/Soskice 2001; Fioretos 2001), der Skepsis der Briten ge-genüber staatlicher Regulierung und ihrem – im Vergleich zu den Deutschen – grö-ßeren Vertrauen in Marktkräfte, sowie dem Lobbydruck der LondonerFinanzdienstleister, die mehr als doppelt soviel zum BSP beitragen wie der deutscheFinanzsektor. Konsequenterweise wendet sich die britische Regierung internationalgegen verbindliche neue Regeln und Aufsicht und interpretiert die Krise nicht als einVersagen des Marktes bzw. seiner Regulierung (Darling 2009b), sondern als Versa-gen einzelner boardrooms, die sich nun ethisch verantwortungsvoller verhalten soll-ten. In den »UK Objectives for the G20 in 2009« von Finanzminister Alistair Darlingstehen daher auch keine Forderungen nach verbindlichen neuen Regeln, sondern nurdie allgemeine Aufforderung zu ethischem Verhalten für Unternehmensvorstände:»We need improved governance of financial institutions. We should press for moreactive, informed and capable boards. […] And we must expect improved ethics«(Darling 2009a). Hinsichtlich einer erweiterten Kontrolle von Steueroasen und vonHedge Funds blieb die britische Regierung auch bei Empfehlungen und verweigertesich einer verbindlichen Regulierung dieser global tätigen Marktakteure (Reuters2009; Treanor 2009; Volkery 2009). Bei der Schaffung der neuen EU-Aufsichtsbe-hörden für Banken, Börsen und Versicherungen sowie des European Systemic RiskBoards konnte sich die britische Regierung mit ihrer Opposition gegen einen Souve-ränitätstransfer und verbindliche neue Regeln durchsetzen (Traynor 2009). Der Eco-nomist (4.7.2009: 69) kommentiert:

»The EU remains riven by two deep divides on the regulation of finance. The first is anideological one over the degree of freedom that should be afforded to markets. It pits a

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weakened and distracted Britain, whose appeal as a financial centre in less troubled timeswas enhanced by its ›light-touch‹ regulation, against countries such as France and Ger-many, which feel their long-standing distrust of free-wheeling markets has been vindica-ted.«

Die deutsche Regierung folgt den in ihrem Land gesellschaftlich vorherrschendenideellen Mustern einer coordinated market economy, der größeren Skepsis der Deut-schen gegenüber Marktwettbewerb und ihrem – im Vergleich zu Anglo-Amerika –größeren Vertrauen in staatliche Regulierung (Schirm 2009: 508f), sowie dem Lob-bydruck des in Deutschland deutlich größeren Industriesektors und der mit ihm ver-bundenen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Diesem Zusammenspiel endo-gen vorherrschender Ideen und Interessen entsprechend, setzt sich die deutscheRegierung konsequenterweise für neue verbindliche internationale Regeln ein, wiebeispielsweise für eine Steuer auf Finanzmarkttransaktionen, die strikte Kontrolle vonHedge Funds und Steueroasen, sowie für die Stärkung internationaler Organisationen.Letzteres bezieht sich beispielsweise auf die Forderung nach Sanktions- und Über-wachungskompetenzen für den IWF und nach Einrichtung eines Weltwirtschaftsratsanalog dem Weltsicherheitsrat der UNO (Merkel 2008a, 2008b). Die deutsche Re-gierung war bei der Schaffung der neuen EU-Aufsichtsbehörden auch bereit, einemSouveränitätstransfer zuzustimmen, konnte sich aber gegen den Widerstand Groß-britanniens nicht durchsetzen. Im Gegensatz zur britischen Regierung interpretiertendie deutsche Bundeskanzlerin und Finanzminister Peer Steinbrück die Krise auchnicht als Folge eines Versagens einzelner Marktakteure, sondern als Versagen desgegenwärtigen »Anglo-Amerikanischen« Wirtschaftsmodells und demzufolge als»Epochenwende« (Steinbrück 2008, 2009). Steinbrück sieht als Krisenfolge einenAbschied vom »ordnungspolitischen Modell, […] das lautet: der Staat soll sich ausallem heraushalten, die Märkte müssen so weit wie es irgend geht dereguliert werden«und schlussfolgert: »Die Finanzwelt wird wahrscheinlich multipolarer werden«(Steinbrück 2008).

Diese kurze Skizze endogener Grundlagen der Regierungspositionen zweier Län-der macht deutlich, dass die Fragen nach der Interpretation der Krise (Systemversagenoder Versagen einzelner) und nach den internationalen Antworten auf die Krise nichtohne die Analyse gesellschaftlicher Ideen und Interessen beantwortet werden kann.Ebenfalls wird deutlich, dass die Interpretation dessen, was unter der Effizienz undder Legitimität eines marktwirtschaftlichen Ordnungsmodells auf nationaler und in-ternationalere Ebene zu verstehen ist, durchaus unterschiedlich ausfallen kann. Selbstzwischen zwei etablierten Industrieländern und EU-Mitgliedern wie Großbritannienund Deutschland divergieren nicht nur die materiellen Interessenlagen hinsichtlichder Relevanz des Finanzsektors für die Wirtschaftsleistung, sondern unterscheidensich auch grundlegende ideelle Vorstellungen von der Rolle des Staates und desMarktes bei der Steuerung der Ökonomie. Eine Untersuchung des öffentlichen Dis-kurses in beiden Beispielländern zeigt, dass sich die unterschiedlichen Interessen undIdeen sowohl auf die Interpretation der Krisenursachen, als auch auf die Haltung zurNotwendigkeit einer Reform nationaler und internationaler Ordnungsmuster auswir-ken. Die verschiedenen Interessen und ideellen Vorstellungen zu den normativen

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Grundlagen der internationalen Ordnung sind aber nicht nur eine Ursache für dieSchwierigkeiten der Staatengemeinschaft, sich auf weitgehende Reformen zu einigen,sondern zeigen auch, dass eine Koordination dieser Vielfalt möglicherweise nicht nurder gangbare, sondern auch der bessere Weg zu einer effizienteren und legitimerenOrdnung ist. Würden Unterschiede der Ideen und Interessen ignoriert, könnte einneues Legitimitäts- und Effizienzproblem entstehen.

Neue Konzepte und internationale Ordnungsmuster

Trotz divergierender Regierungspositionen zu neuen Regeln für globale Märkte undtrotz aller daraus folgenden Skepsis hinsichtlich der Chancen für neue internationaleRegeln lassen sich vier Ebenen festhalten, auf denen die Politik konzeptionell auf dieHerausforderung mangelnder Effizienz und Legitimität der internationalen Wirt-schaftsordnung bereits reagiert hat und auf denen sich neue Ordnungsmuster infolgeder Krise abzeichnen:

Erstens wird in allen Industrieländern auf nationalstaatlicher Ebene an neuen, ef-fizienteren und von den Wählern auch als gerechter wahrgenommenen Regeln für dieFinanzmärkte gearbeitet. Diese fallen je nach Land unterschiedlich aus und reichenvon neuen Bilanzierungsregeln über die Beschränkung von Bonuszahlungen bis hinzu höheren Eigenkapitalanforderungen für Banken. Diese neuen Regeln für Finanz-märkte werden auf der realwirtschaftlichen Seite begleitet von umfangreichen Kon-junkturprogrammen, die neokeynesianisch versuchen, durch deficit-spending dieNachfrage zu stimulieren, um den Konjunktureinbruch abzufedern. Der Herausfor-derung der Krise wird somit durch neue Regeln für Finanzmärkte und neokeynesia-nische Ausgabenpolitik mit einer wirtschaftspolitischen Abkehr von der Deregulie-rungs- und Wettbewerbspolitik der 1990er Jahre begegnet. Der Staat, vertreten durchnationale Regierungen, geht als Retter aus der Finanzkrise hervor, der mit öffentlichenMitteln private Großbanken vor dem selbstverschuldeten Zusammenbruch und dieKonjunktur vor einer schärferen Rezession bewahrt. Diese Stärkung des Staates unddie zentrale Bedeutung der öffentlichen Güter Gerechtigkeit sowie nachhaltigerWohlstand und Stabilität im Diskurs über die Krise verdeutlichen: Regieren erfolgtdurch den Staat gerade auch in Zeiten globalisierter Märkte und zwar sowohl hin-sichtlich der Legitimität von Politik (Rechenschaftspflicht demokratischer Regierun-gen), als auch hinsichtlich der Effizienz von Politik (Wirksamkeit des Handelns).Außerdem zeigt sich, dass Exzesse und Fehlentwicklungen des Marktes durchauszugunsten von öffentlichen Gütern wie Gerechtigkeit und Stabilität auf nationalerEbene korrigierbar sind. Hierfür stehen international verbindliche Regeln allerdingsnoch aus.

Zweitens ist internationale Konsultation und Kooperation stärker in den Mittel-punkt wirtschaftspolitischer Aktivitäten vieler Regierungen gerückt. Der G20 ist zwarkein verbindliches Regelwerk für die Weltwirtschaft gelungen. Aber allein schon diehalbjährlichen Treffen, die Diskussion über Regeln und die Zuschreibung einer Ziel-und Regelsetzungsfunktion an die G20 durch die sie tragenden Staaten ist bereits eine

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Veränderung, die Erwartungen und Verhaltensmuster formt. Trotz aller nationalerUnterschiede und varieties of strategies gegenüber der Krise hat sich der wirtschafts-politische Diskurs in den G20 Staaten in Richtung auf die Notwendigkeit zwischen-staatlicher Kooperation zur Beaufsichtigung von Märkten entwickelt. Diese diskur-sive Suche nach effizienteren und legitimeren politischen Regeln für eine globalisierteÖkonomie ist die Voraussetzung für eine Reform der bisherigen Weltwirtschaftsord-nung. Die Herausforderung bleibt aber, den Diskurs nun auch in verbindliche Regelnumzusetzen.

Drittens haben internationale Organisationen infolge der Krise eine Renaissanceerfahren. Das Financial Stability Forum (FSF) wurde um emerging markets wie dieBRICs (Brasilien, Russland, Indien und China) erweitert, in Financial StabilityBoard (FSB) umbenannt und mit der Erarbeitung von Empfehlungen für gemeinsameStandards beauftragt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) wird wieder vonLändern in Zahlungsschwierigkeiten gebraucht und erhielt die Zusage einer Aufsto-ckung seiner Mittel auf 750 Mrd. Dollar. Vor der Krise hatte er Existenzprobleme,weil viele emerging markets infolge umstrittener Konditionen für IWF-Kredite in den1990er Jahren hohe Währungsreserven angehäuft hatten, um sich vom Fonds erfolg-reich unabhängig zu machen. Der IWF hatte die jeweiligen Ideen und Interessen inEmpfängerländern bei seinen Konditionen kaum berücksichtigt und daher einen Ef-fizienz- und Legitimitätsverlust erfahren. Im Zuge der Finanzkrise zeigt sich der IWFinzwischen flexibler bei seinen Vergabebedingungen und achtet darauf, Kreditemp-fängern nicht mehr ungeliebte Konditionen aufzuzwingen (The Economist 19.9.2009:74f). Die Herausforderung einer Stärkung internationaler staatlicher Organisationen(IGOs) für das bessere Management der Weltwirtschaft bleibt aber insofern bestehen,als weder der IWF noch andere IGOs bisher neue Kompetenzen erhalten haben. Ohnediese ist aber eine dauerhafte Stabilisierung der Weltfinanzmärkte durch öffentlichrechenschaftspflichtige und insofern legitime Aufsicht sowie durch effizientere Re-geln schwer vorstellbar.

Viertens haben sich in mehrfacher Hinsicht internationale Hierarchien und Macht-konstellationen verändert. International sprengte die Finanzkrise die verkrustete G7/8und führte zur Aufnahme vieler emerging markets, die nunmehr als emergingpowers in der G20 mitreden. Selbstverständlich bleiben Machthierarchien bestehenund kann auch eine G20 nicht darüber hinwegtäuschen, dass die USA und China übererheblich mehr Einfluss verfügen, als etwa Kanada und Argentinien. Allerdings gehtdie Etablierung der G20 über die reine Symbolik des empowerment neuer Mitgliederhinaus, da nun tatsächlich weit über zwei Drittel der Weltwirtschaftsleistung und derWeltbevölkerung an einem Tisch sitzen. Dies sorgt für größere Legitimität und ver-spricht größere Effizienz von neuen Regeln durch verstärkte ownership. Einge-schränkt wird die Legitimität der G20 allerdings durch den autoritären Charakter derpolitischen Systeme einiger Mitglieder wie China und Saudi Arabien. Die seit langemdiskutierte Umverteilung der Stimmquoten im IWF zugunsten der emerging powersund zu Lasten vor allem europäischer Staaten ist nun ebenfalls möglich. Damit ist dieHerausforderung, die internationale Ordnung durch breitere Beteiligung wichtiger

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Staaten an Global Governance legitimer zu machen zwar noch nicht hinreichend er-füllt, aber doch deutlich beschleunigt worden.

In diesen vier Entwicklungen sind bereits die Neuerungen erkennbar: Die sich ab-zeichnenden neuen Ordnungselemente scheinen (1) deutlicher als in den letzten zweiDekaden wieder auf den Staat als zentralen Akteur zu bauen, (2) internationale Ko-operation gegenüber transnationaler Konkurrenz zu stärken, (3) inklusiver und we-niger hierarchisch durch Partizipation von erheblich mehr Staaten zu werden und (4)auf neue Regeln und Beaufsichtigung von Märkten zu Lasten der früheren Deregu-lierungspolitik zu setzen. Im optimistischen Fall zeichnet sich eine koordinierte Welt-wirtschaft ab, die das Ziel grundsätzlicher Offenheit von Märkten mit besserer Auf-sicht und Regelsetzung für Märkte als Grundelemente einer legitimeren undeffizienteren internationalen Ordnung verbindet.

Diese Perspektive einer koordinierten Weltwirtschaft ist letztendlich Ausdruck desSpannungsverhältnisses zwischen der Notwendigkeit international verbindlicher Re-geln einerseits und der Anerkennung der Vielfalt gesellschaftlicher Interessen undIdeen andererseits. Internationale Regelsetzung und Anerkennung von Vielfalt sindbeide für die Effizienz und die Legitimität ökonomischer Ordnung wichtig. Dennwürde der Vielfalt gesellschaftlicher Ideen und Interessen ein zu starrer internatio-naler Rahmen übergestülpt werden, könnten sowohl Legitimität als auch Effizienzwiederum einschränkt sein. Dani Rodrik argumentiert in dieser Hinsicht: »Differentnations sit on different points along their ›efficient frontiers‹. […] an architecture thatrespects national diversity does more to advance the cause of globalisation than am-bitious plans that assume it away« (Rodrik 2009: 72). Insofern scheint die Reformbestehender Ordnung auch im Fall der Reform der Weltwirtschaftsordnung in derFinanzkrise eine Frage der Vielfalt gesellschaftlicher Ideen und Interessen zu sein,die berücksichtigt werden müssen, um eine Einigung zu finden. Anders als die Kom-promissfindung bei divergierenden materiellen Interessen durch Aufteilung von Kos-ten und Gewinnen, ist zur Überwindung der Unterschiede zwischen Ideen aber einneuer Konsens erforderlich, der nur über Dialog und Diskurs möglich ist. Dafür sinddie G20 und der sich abzeichnende Konsens über eine stärker koordinierte Weltwirt-schaft ein erster Schritt, auch wenn bisher nur eine Annäherung an ein effizienteresund legitimeres Management der Weltwirtschaft erreicht wurde und die Aufsicht überFinanzmarktakteure weiterhin verstärkt werden muss.

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Jens van Scherpenberg

Finanzkapital, Finanzkrise und internationaleStaatenkonkurrenz

Um die Auswirkungen der Finanzkrise von 2007-2010 auf die internationalen Bezie-hungen zu erfassen, ist es unerlässlich, die wesentlichen wirtschaftlichen Triebkräftezu verstehen, die der Krise zu Grunde liegen und die auch entscheidend die nationalenReaktionen auf die Krise bestimmen. Hierzu werden, aufbauend auf Marx' Kapital-Analyse, zunächst drei Thesen zur »Systemrelevanz« des Finanzkapitals vorgestellt.Mit der darin aufgezeigten grundlegenden und umfassenden Subsumtion aller Berei-che der kapitalistischen Wirtschaft unter den selbstreferentiellen Akkumulationspro-zess des Finanzkapitals wird zugleich die Finanzialisierungsthese als Erklärungsan-satz kritisiert. Aus der Orientierung der Staaten an der Sicherung optimalerAkkumulationsbedingungen für das von ihrem Standort aus operierende Finanzka-pital lässt sich ableiten, warum es etwa im G20-Rahmen zu keinen wirklich substan-tiellen Vereinbarungen globaler Finanzmarktregulierung, sondern vielmehr zu einerIntensivierung der Konkurrenz um die Gestaltung der künftigen internationalen Wirt-schafts- und Finanzordnung kommt. Am dialektischen Verhältnis von Rivalität undInterdependenz in den Wirtschafts- und Währungsbeziehungen zwischen den USAund China wird diese Aussage erläutert.

Einleitung

Unzweifelhaft wirft die gegenwärtige globale Finanzkrise mit ihren absehbaren Ver-werfungen im bisherigen Kräfteverhältnis der Nationen wie in den Strukturen undFunktionen internationaler Institutionen und mit ihren Herausforderungen für GlobalGovernance eine Fülle neuer, herausfordernder Forschungsfragen für die Internatio-nale Politische Ökonomie auf. Nur wenige dieser Fragen lassen sich jedoch sinnvollklären, wenn die Finanzkrise als quasi exogener Schock für die internationale Ord-nung betrachtet wird. Umso wichtiger sind präzise Beiträge zur Genese der Krise undihren politischen Hintergründen in einem IB-/IPÖ-bezogenen Kontext, wie sie etwaHans Jürgen Bieling (2009) und Brigitte Young (2009) bieten. Dies um so mehr, alsdie Wirtschaftswissenschaft im engeren Sinne, also diejenige akademische Disziplin,deren Denkansätze, Methoden und Schlussfolgerungen vielleicht am stärksten durchdie Krise diskreditiert worden sind, wie unter anderem Paul Krugman (2009) zeigt,sich auch bei deren Ex-Post-Erklärung nachhaltig schwer tut. Gleichwohl bleibenauch die aus der Internationalen Politischen Ökonomie kommenden bisherigen Er-klärungsansätze unbefriedigend, so weit es darum geht, den endogenen, im Finanz-sektor selbst zu suchenden Grund für die erheblichen Probleme abgestimmter inter-nationaler Regulierung der internationalen Finanzmärkte zu ermitteln, wie sie auf den

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letzten beiden Gipfelkonferenzen der Gruppe der 20 in London (April 2009) undPittsburgh (September 2009) deutlich wurden.

Im ersten Teil der folgenden Ausführungen werden daher jenseits unmittelbarer –mehr oder weniger zufälliger – Krisen-Anstöße einige kurze, thesenhafte Aussagenzu den Gründen der Finanzkrise formuliert, aus denen im zweiten Teil versucht wird,die Ursachen für das Versagen nationaler und internationaler Finanzmarktregulierungin der Krisenprävention abzuleiten. Ein abschließender dritter Teil wendet die ge-wonnenen Aussagen zur internationalen Regulierungskonkurrenz auf die Verhand-lungen im Rahmen von G-20 und IWF an. In meinen Thesen setze ich mich nicht nurmit den Forums-Beiträgen zur Finanzkrise aus Heft 1/2009 der ZIB, sondern auchmit der derzeitigen, durchaus kontroversen »innermarxistischen« Diskussion inDeutschland zu diesem Thema (z. B. Altvater 2009) kritisch auseinander, beziehemich dabei jedoch selbst auf Marx, dessen Kapital-Analyse auch für das Verständnisder Reaktion der in der Gruppe der 20 zusammengeschlossenen führenden Wirt-schaftsmächte auf die Krise nützlich ist.

Die Akkumulation des Finanzkapitals

Im Zug der Finanzkrise ist die Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus, dieKarl Marx in seinem dreibändigen Hauptwerk leistete, zwar wieder aus dem Müll-haufen der Geschichte ausgegraben worden, auf den sie nach 1990 wohl etwas voreiliggeworfen wurde. Fehlperzeptionen der Marxschen Analyse bleiben jedoch auch unterdenen verbreitet, die sich auf ihn berufen. Marx hat nicht die Krise des Kapitalismusvorhergesagt, die viele heutige Kapitalismuskritiker – beispielhaft sei hier Elmar Alt-vater (2009) genannt – ausrufen, schon allein deswegen nicht, weil er sich nicht alsVorhersager der Zukunft verstand, vielmehr lediglich aus der Logik des historischenProzesses, wie er ihn analysierte, resultierende Widersprüche und Möglichkeiten zuderen Überwindung aufzeigen wollte. In diesem Sinne hat er analysiert, dass Krisennotwendige Begleiterscheinung des Kapitalismus sind und wie sie sich notwendig alsKreditkrisen, also Finanzkrisen entfalten. Und er hat klar gesagt, dass jede Krise zu-gleich wieder die Grundlage für einen neuen Akkumulationszyklus schafft.

Mit den folgenden drei Thesen, die auf Marx' Analyse des »zinstragenden« und»Bankkapitals« (Marx 2003) aufbauen, möchte ich aufzeigen, wie sich die »System-relevanz« des Finanzsektors in den entwickelten kapitalistischen Staaten aus den Be-sonderheiten der Akkumulation des Finanzkapitals ergibt und welche Folgen dies fürdie Möglichkeiten und Grenzen internationaler Kooperation und Koordination bei derFinanzmarktregulierung hat.

(1) Die Logik der Akkumulation des Finanzkapitals besteht darin, Kredit, alsoSchulden in Kapital zu verwandeln, indem die Finanzinstitute ihr Aktivgeschäft lau-fend refinanzieren und so ihr angewandtes Kapital weit über die Grenzen ihres Ei-genkapitals hinaus erhöhen. Das Generieren und Kapitalisieren von Schulden also,finanztechnisch auch leveraging genannt, ist die Quelle der Akkumulation des Fi-nanzkapitals, mit der es sich von der »realen« Akkumulation über den kapitalistischen

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Produktionsprozess emanzipiert und »als Kapitalverhältnis seine äußerlichste undfetischartigste Form (erreicht)« (Marx 2003: 404). Das Gelingen dieser Akkumulationsteht unmittelbar unter der einzigen, allerdings zwingenden Bedingung, dass das alsSchuldner fungierende Finanzinstitut jederzeit den Beweis seiner Liquidität antretenkann. Solange es diesen Beweis antreten kann, wird er in der Regel nicht gefordert,sondern durch Vertrauen in seine Liquidität ersetzt. Insoweit ist seiner Kapitalakku-mulation prinzipiell keine Schranke gesetzt. Wird der Liquiditätsbeweis doch einmalam Markt eingefordert, kommt das meist bereits einem Misstrauensvotum gleich undstürzt das betreffende Kreditinstitut daher in der Regel sogleich in eine existenzbe-drohende Krise, da dann die normalen Quellen seiner Liquiditätsbeschaffung versie-gen. Ist diese Illiquidität nicht nur auf ein Misstrauensvotum gegenüber der Kredit-würdigkeit einer einzelnen Bank zurückzuführen, sondern auf den als unsicherangesehenen Kapitalrückfluss aus einer ganzen Kategorie von Schuldpapieren, setztdie Illiquidität der ersten Bank eine Kettenreaktion in Gang, da sie die Nachfrage nachLiquiditätsbeweisen, also den Zweifel an der Liquidität des Finanzsektors insgesamtsprunghaft steigen lässt: aus der Illiquidität einer Bank wird eine allgemeine Finanz-krise mit massiver Kapitalentwertung und daraus folgender verbreiteter Bankenin-solvenz. Dass bei dieser Krise im Subprime-Sektor engagierte Banken die ersten wa-ren, die insolvent wurden, ist zwar im Nachhinein einleuchtend, aber keine logischeNotwendigkeit. Es gab hinreichend andere Schuldenkategorien, die die Kettenreak-tion der Illiquidität und Insolvenz hätten in Gang setzen können, wie Kommunalob-ligationen, Verbraucherkredite, Kredite an Private Equity Funds zur Finanzierungvon Unternehmenskäufen, ganz zu schweigen von dem gigantischen Volumen deraußerbörslich (over-the-counter: OTC) gehandelten Derivate, die Ende Dezember2008 ein Volumen von 592 Billionen US-Dollar zugrunde liegender Basiswerte undeinen Marktwert von 34 Billionen Dollar erreichten, gegenüber einem Welt-Brutto-inlandsprodukt von 61 Billionen Dollar.1 Der Ersatz der wegen der massiven Ent-wertungen von als Kapital fungierenden Schuldtiteln im Finanzsektor abhanden ge-kommenen Liquidität durch vom Staat bereitgestellte Liquidität ist nicht mehr alseben dies: Ersatz für ausbleibenden Rückfluss aus Aktiva der Banken und insofernAbwendung von Insolvenz. Ausweis funktionierender Kapitalakkumulation ist er je-denfalls nicht.

(2) Aus der Logik seiner Akkumulation heraus, wie sie sich in der Konkurrenz derFinanzinstitute durchsetzt, überwindet das Finanzkapital die Schranken der primärenSchuldner-Gläubiger-Beziehung zu einem eigenständigen, selbstreferentiellen Ak-kumulationsprozess »fiktiven Kapitals«, wie Marx es nennt.2 Es entwickelt immer

1 OTC-Daten: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, (http://www.bis.org/statistics/der-stats.htm; 5.10.2009), Welt-BIP: CIA World Factbook (Schätzung) (https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/xx.html; 5.10.09.

2 Obwohl Marx zu Beginn des 25. Kapitels des Kapital, Bd. 3 (Marx 2003: 413) anmerkt: »Dieeingehende Analyse des Kreditwesens und der Instrumente, die es sich schafft (Kreditgeldusw.), liegt außerhalb unseres Plans«, bietet er im Folgenden wesentliche Hinweise zur be-grifflichen Klärung, insbesondere in Kap. 29-32; so u. a. Marx (2003: 484): »Aller Zusam-menhang mit dem wirklichen Verwertungsprozess des Kapitals geht so (durch die Kapitali-

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neue Techniken seiner Refinanzierung, durch die es seine Kapitalbasis ständig er-weitert – siehe dazu die unter (1) genannten Wertpapierkategorien und -volumina. ImZug dieses Prozesses subsumiert das Finanzkapital alle Sphären der Kapitalakkumu-lation – durch Hedge Funds, Private Equity Funds, ebenso wie die »normalen«, durchgroße Kreditkonsortien finanzierten »Mergers & Acquisitions«3 – und macht sie zunachgeordneten Betätigungsfeldern seiner Akkumulation. Das heißt: Kapitalakku-mulation existiert nurmehr in der Form der Akkumulation von Finanzkapital. Das giltauch für Industrieunternehmen. Nicht nur gehören sie als Aktiengesellschaften, derenEigentumstitel als Wertpapiere an der Börse gehandelt werden, deren Eigentümer sichalso in »bloße Geldkapitalisten« (Marx 2003: 452) verwandelt haben, selbst derSphäre des Finanzkapitals an. Auch ihr industrielles Geschäft ist oft nur noch einProfit Center neben anderen, zuvorderst den Finanzanlagen ist, an deren Gewinnenes sich messen lass muss (siehe das US-Unternehmen General Electric, dessen Fi-nanzsparte GE Capital in den Jahren vor Ausbruch der Krise über die Hälfte desKonzerngewinns erbrachte, oder – noch drastischer – das Beispiel Porsche, wo dieverbuchten Gewinne aus dem Finanzgeschäft im Geschäftsjahr 2007/2008 den Kon-zernumsatz im industriellen Geschäft übertrafen)4 und durch deren Expansion esselbst wesentlich angetrieben wird (siehe etwa die extrem hohe Abhängigkeit desAbsatzes großer deutscher Autoproduzenten vom kreditfinanzierten Leasingge-schäft5 sowie die nahezu ausschließliche Vorfinanzierung des Absatzes amerikani-scher Automobilkonzerne durch Verbraucherkredite).6

Ich bezweifele, dass die u. a. von Gerald Epstein (2005) und Tom Palley (2007)popularisierte Finanzialisierungsthese mit dem von ihr unterstellten grundsätzlichenGegensatz von Produktions- und Finanzsektor, die sich Andreas Nölke und BrigitteYoung zu eigen gemacht haben, diesen fundamentalen, dem entwickelten Kapitalis-mus durchaus »systemisch« inhärenten Subsumtionsprozess adäquat charakterisiert.Wie Nölkes Gegenüberstellung von »Vorteilen« und »Nachteilen« des »finanziali-sierten« Kapitalismus (Nölke 2009: 129) zeigt, kommt man auf diesem Weg sehrschnell zu der problematischen normativen Unterscheidung von gutem und schlech-

sierung ›jede[r] regelmäßig sich wiederholende[r] Einnahme‹) bis auf die letzte Spur verloren,und die Vorstellung vom Kapital als einem sich durch sich selbst verwertenden Automatenbefestigt sich«.

3 Der enorme Aufschwung dieser Aktivitäten wäre ohne die neuen Refinanzierungstechnikender Banken, also die verschiedenen Formen von Kreditverbriefungen, mit denen Bankkreditemitsamt dem damit verbundenen Kreditrisiko in handelbare Wertpapiere verwandelt werden,nicht denkbar gewesen. Und angesichts ihrer systemwesentlichen Bedeutung ist es auch kaumwahrscheinlich, dass die Regulierer die Kreditverbriefung ernsthaft erschweren werden.

4 »Porsche macht mehr Gewinn als Umsatz«, Handelsblatt 7.11.2008, (http://www.handels-blatt.com/unternehmen/industrie/porsche-macht-mehr-gewinn-als-umsatz%3B2082709;5.10.09.).

5 »Die Münchner haben jahrelang mit günstigen Leasing- und Kreditangeboten ihren Absatzangekurbelt«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.11.2008, (http://www.fazfinance.net/Aktu-ell/Wirtschaft-und-Konjunktur/BMW-ruft-groesste-Krise-der-Unternehmensgeschichte-aus-1823.html; 5.10.2009.

6 Selbst die ehrwürdige Einrichtung deutscher mittelständischer Familiengesellschaften taugtnicht mehr als Gegenbeweis gegen die Subsumtion des industriellen unter die Akkumulationdes Finanzkapitals, siehe die Fälle Schäffler, Schickedanz/Quelle und Adolf Merkle.

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tem Kapitalismus, die man dann auch gleich auf den »guten« rheinischen oder auchden »fordistischen« Kapitalismus einerseits, und den »schlechten« angelsächsischenoder auch »neoliberalen« Kapitalismus andererseits anwendet. Letztlich landet manauf diese Weise bei der unseligen Differenzierung von »gutem«, weil produktivemindustriellem und »schlechtem«, weil spekulativem Finanzkapital, wie sie gerade inDeutschland und den anderen Ländern des rheinischen Kapitalismus die gegenwär-tige Krisendiskussion bestimmt. Auch Bieling (2009: 112-115) gerät auf diese schiefeBahn, wenn er den überhand nehmenden »Finanzmarktkapitalismus« zu dem Faktorerklärt, der die Besonderheit der aktuellen Krise ausmacht.

Aus allen vergleichenden Kapitalismusstudien, intertemporalen wie interregiona-len (und letztere lassen sich unter dem Aspekt der Ungleichzeitigkeit analytisch letzt-lich auch in erstere auflösen) lässt sich, hegelianisch (und damit in diesem Punkt auchmit Marx) argumentierend, schlicht eine immer weiter voranschreitende Kapitalisie-rung des real existierenden Kapitalismus ableiten. Die Subsumtion allen Wirtschaf-tens unter die Akkumulation des Finanzkapitals ist keine historische Verirrung, sieist der Logik des Kapitalismus inhärent und als solche grundsätzlich bereits im Ver-hältnis Ware – Geld angelegt.7 Sie ist somit der Grund für die »Systemrelevanz« desFinanzsektors, aufgrund derer die betroffenen Staaten zwar mit erheblichen Haus-haltsmitteln die Finanzinstitute retten, gegenüber notleidenden Unternehmen des In-dustrie- und Nicht-Finanz-Dienstleistungssektors aber wesentlich zurückhaltendermit dem Einsatz öffentlicher Gelder sind.

Die idealistische Idylle einer Kreditwirtschaft im Dienste des redlich schaffendenindustriellen Kapitals, auch wenn ihr seit dem Ende von Bretton Woods bis zum heu-tigen Tage gerade kritische Geister8 anhängen, ist im entwickelten Kapitalismus nichtzu haben. Diesen Idealismus als Ziel einer Finanzmarktregulierung zu postulieren,führt daher in die Irre.9 Vielmehr hat sich die Banken- und Finanzmarktregulierunggerade darin an der »Systemrelevanz« des Finanzsektors zu orientieren, dass sie seinerAkkumulation nur die nötigsten, für sein eigenes Funktionieren unerlässlichen Be-schränkungen auferlegt.

(3) Das Material der Akkumulation des Finanzkapitals sind die von den Zentral-banken emittierten nationalen Währungen. Welche Währungen bevorzugt werden, isteine Sache der Konkurrenz auf den internationalen Finanzmärkten – und zwar nichtnur der Konkurrenz unter den Finanzinstituten, sondern der Konkurrenz der emittie-renden Staaten, für die die internationale Geltung ihrer Währung eine entscheidendeökonomische Grundlage ihrer politischen Macht ist, nicht nur als Ausdruck ihrer in-ternationalen Kreditwürdigkeit und damit -fähigkeit. Da, wie unter (2) ausgeführt, diegelingende nationale Kapitalakkumulation als solche eine Funktion der Akkumula-tion des Finanzkapitals ist, hat die nationale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ein

7 Marx (2003: 413) verweist im 25. Kapitel des 3. Bandes »Kredit und fiktives Kapital« selbstauf den Abschnitt »Zahlungsmittel« im 3. Kapitel des 1. Bandes (Marx 1988: 148–156).

8 Vgl. Strange (1998) und Altvater (2009).9 Diese Kritik gilt nicht für Oliver Kessler (2009), der sich statischer, eindimensionaler Erklä-

rungsversuche und Lösungsvorschläge zur Krise bewusst enthält, vielmehr aufzeigt, warumsolche Versuche den Gegenstand und ihr Ziel verfehlen.

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entscheidendes Maß in der Nachfrage nach der eigenen Währung als Material fürdessen Akkumulation. Deshalb ist auch die Krisenbewältigung für die Staaten nichtnur eine Frage der innenpolitischen Stabilität, sondern vor allem auch eine Frage dernationalen Selbstbehauptung im internationalen Wettbewerb der Staaten. Und dasführt mitten in die Frage, welche Auswirkungen die Krise auf die internationale Ord-nung hat. Denn diese ist ja nun seit jeher eine Konkurrenz-Ordnung, mit der Betonungeinmal mehr auf Konkurrenz, einmal mehr auf Ordnung, je nachdem wie weit eininternationales Regelsystem im Rahmen einer Hegemonialordnung an die Stelle reinmachtbasierter Konkurrenz tritt und eine weltweite Leitwährung als Währung einerHegemonialmacht das Maß aller Dinge für den wirtschaftlichen Erfolg der einzelnenNationen ist.

Von daher ist es sinnvoll, die Frage nach den Auswirkungen der Krise auf die in-ternationale Ordnung dahingehend umzuformulieren, wie sich diese in der Konkur-renz der Staaten niederschlägt.

Das ist eine eminent politisch relevante Frage. Auf der einen Seite steht eine wach-sende Zahl von Verlierer-Staaten, von denen manche angesichts fehlender innererStabilität nahe an den Status eines failing state heranrücken – als ein Beispiel maghier die Ukraine gelten. Auf der anderen Seite betont noch jeder Regierungschef jedermaßgeblichen Wirtschaftsmacht die Absicht, sein Land nicht nur gestärkt, sondernstärker als die anderen aus der Krise zu führen. Nicht allen wird das gelingen.

Man kann sagen: gerade weil derzeit noch so etwas wie eine internationale Wirt-schafts- und Finanzordnung, also ein intaktes Regelsystem für die internationaleKonkurrenz der Staaten existiert, nehmen die Anstrengungen der Staaten zu, inner-halb oder auch hart am Rande dieser Regeln ihre Konkurrenzposition als Standort iminternationalen Handel und Kapitalverkehr zu verbessern sowie ihren Einfluss aufandere, schwächere Staaten auszubauen. Das Streben nach dem relative gain im Rah-men des gemeinsam erlittenen krisenbedingten absoluten Verlustes wird angesichtsder Höhe dieses Verlustes um so heftiger, wie der wachsende Wirtschaftsnationalis-mus und der zunehmende Protektionismus bei der Krisenbewältigung zeigen.

Internationale Regulierungskonkurrenz

Gleichwohl hat noch keine maßgebliche Wirtschaftsnation dem multilateralen Han-delsregime der WTO oder den beiden Bretton Woods-Institutionen IWF und Welt-bank eine Absage erteilt; darin zumindest beweist sich die Stabilität der gegenwärti-gen internationalen Wirtschaftsordnung. Vielmehr wird die krisenbedingt verschärfteKonkurrenz der Staaten nicht nur mit unilateralen marktbeeinflussenden Maßnahmenausgetragen, sondern auch auf der Ebene der künftigen Regulierung der internatio-nalen Finanzmärkte selbst: innerhalb der EU zwischen kontinentaleuropäischen undangelsächsisch geprägten Ansätzen und Interessen, im transatlantischen Kontext zwi-schen Europäern und den USA, und darüber hinaus nun auch zwischen dem »Westen«und den großen neuen Wirtschaftsmächten, allen voran China – mit der G20 und demIWF als den derzeit wichtigsten Foren. Niemand, erst recht nicht die USA, will eine

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internationale Regulierung akzeptieren, die die Wettbewerbsposition des eigenen Fi-nanzsektors zu Lasten derjenigen anderer Staaten schwächt. Zwangsläufiges Resultatdieser scharfen »regulativen Konkurrenz« wird ein Minimalkonsens sein, der derökonomischen Konkurrenz der Staaten nur wenig enger gezogene Schranken setzt alsbislang. Die Tobinsteuer als weltweite Finanzmarktsteuer wird wohl kaum dazu ge-hören.

Für eine produktive Analyse dieser Situation ist es also hilfreich, das hier kurzbeschriebene Verhältnis von Konkurrenz und Ordnung als dialektisches im Auge zubehalten. Das sei kurz an Bieling (2009) erläutert. Bielings Aufsatz stellt die aktuelleKrise zunächst in das historische Kontinuum kapitalistischer Kreditkrisen, wie esCharles Kindleberger und Hyman Minsky analysierten, um dann im zweiten Teil ihreBesonderheiten herauszuarbeiten. Im ersten Teil kann ich ihm gut folgen, im zweitennicht mehr. Auch hier ist eine dialektische Betrachtungsweise hilfreich: Es genügt janicht, zu konstatieren, dass in den ersten 25 Jahren nach der Konferenz von BrettonWoods die Welt unter der regelsetzenden Hegemonialmacht USA noch in Ordnungwar, dann aber wegen der zunehmenden Finanzmarktliberalisierung in den 1970erund vor allem 1980er Jahren aus den Fugen geriet. Denn die USA selbst waren dermaßgebliche Akteur dieses regimeändernden Liberalisierungsprozesses und sie hat-ten dafür gute Gründe. Die von der Hegemonialmacht aufgestellten Regeln der bis-herigen Ordnung behinderten diese immer mehr selbst in ihrer sich verschärfendenKonkurrenz mit den aufsteigenden Wirtschaftsmächten Westeuropas und Japan, beigleichzeitig wachsendem Aufwand für die politisch-militärische Absicherung ihrerHegemonieordnung, wie er sich aus dem Vietnamkrieg, vor allem aber auch aus demRüstungswettlauf mit der UdSSR ergab. Die Liberalisierung der Währungsmärktenach dem Ende von Bretton Woods stärkte die Nachfrage nach US-Dollar (wie dieErfolgsgeschichte – aus Sicht der USA – des Petrodollar-Recycling ab 1974 zeigt)und verschaffte dem US-Finanzsektor wieder einen Wettbewerbsvorteil, der durchdie Finanzmarktderegulierung bei gleichzeitiger monetaristischer Neuausrichtungder Zentralbankpolitik unter Reagan als Präsident und Paul Volcker als Fed-Vorsit-zendem noch ausgebaut wurde. Auf diese Weise gelang es einerseits, den Fortbestandamerikanischer Hegemonialmacht auch nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzesökonomisch-monetär abzusichern und die allfälligen Finanzkrisen andernorts statt-finden zu lassen – die Globalisierung der 1990er Jahre belegt dies eindrucksvoll,einschließlich ihrer Krisen (1994 Mexiko; 1997/98 Asien, Russland; 2001 Argenti-nien). Andererseits wurde damit auch eine lebhafte internationale Deregelierungs-konkurrenz hinsichtlich der Finanzmärkte angefeuert, die den Finanzmarktakteurenneue Möglichkeiten der Kapitalakkumulation eröffnete – mit den bekannten Folgen.

Wenn dieser Liberalisierungswettlauf nun unter dem Eindruck der gegenwärtigenKrise zu einem Ende kommt, hört damit gewiss nicht die Konkurrenz um die Finanz-marktregulierung auf. Im Gegenteil: In dem Maße, wie die regelsetzende Hegemo-nialmacht der USA erodiert, wird sich die Konkurrenz um Art und Ausmaß künftigerinternationaler Finanzmarktregulierung – immer auf der Grundlage eines gemeinsa-men Interesses, dass es einer solchen Regulierung bedarf – eher verschärfen, wie anVerlauf und Ausgang der G20-Gipfelkonferenzen des Jahres, von London und Pitts-

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burgh, abzulesen ist. Populäre Statements à la »das angelsächsische Regulierungs-modell ist gescheitert« sollten nicht als Zeichen einer Trendwende weg vom »Fi-nanzmarktkapitalismus« fehlinterpretiert sondern als durchaus interessengeleiteteArgumente in der gegenwärtigen Konkurrenz um die künftige Finanzmarktregulie-rung gesehen werden.

Sich eindimensional auf die liberal-institutionalistische Seite zu stellen und aus derKrise die Notwendigkeit von mehr Global Governance für die Finanzmärkte abzu-leiten,10 mag zwar ein nachvollziehbarer erster Reflex aus der (Fehl-)Diagnose »Re-gulierungsversagen« als Ursache der Krise sein, erscheint aber ebenso wenig frucht-bar für ein besseres Verständnis der in der Form internationalerVerhandlungsprozesse tatsächlich ausgetragenen zwischenstaatlichen Standortkon-kurrenz im Gefolge der Finanzkrise wie eine rein realistische Betrachtung, die sichauf eine Analyse der krisenbedingten Machtverschiebungen zwischen den Staatenbeschränkt. Ergiebiger dürfte es sein, in den gegenwärtigen Auseinandersetzungendiese Dialektik von Konkurrenz und Ordnung herauszuarbeiten, die mit der mögli-chen Ablösung des seit dem Zweiten Weltkrieg bestehenden regulativen Hegemoni-alsystems die internationale Finanzordnung mittelfristig auf eine neue, eher multipo-lar strukturierte Ebene führen könnte.

Es ist noch zu früh für fundierte Aussagen, wie eine solche multipolare, also nicht-hegemoniale Ordnung, ein solches »leaderless currency system« (Cohen 2009) aus-sehen kann. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass entgegen manchen derzeitigenErwartungen das Ausmaß internationaler Regulierung gegenüber konkurrierendennationalen Regulierungen eher zurückgehen wird. Und die maßgeblichen Institutio-nen der internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung dürften sich von Instanzenhegemonialer Ordnungssetzung zu den wichtigsten Foren der Austragung der inter-nationalen ordnungspolitischen Konkurrenz entwickeln.

Die G20 und die Neuverteilung der Gewichte in der internationalen Wirtschafts-und Finanzordnung

Dies sei abschließend am Beispiel der G20 erläutert. Die G20, die erst seit dem vollenAusbruch der Finanzkrise im Herbst 2008 auf Gipfelebene zusammentritt, am25./26. September 2009 zum dritten Mal innerhalb von 12 Monaten, ist in kurzer Zeitzum maßgeblichen institutionellen Ort für das Bemühen um eine neue Ordnung fürdie Weltwirtschaft geworden und hat die G7/8 faktisch in die Bedeutungslosigkeitgedrängt (Frankel 2009: 2, 16), sodass deren Auflösung für 2011 erwartet wird, wennFrankreich die Präsidentschaft sowohl von G20 wie von G7/8 innehat.11 Diese Ent-wicklung mag befördert worden sein durch die historische Koinzidenz, dass die letz-ten beiden G7/G8-Präsidentschaften (Japan 2008, Italien 2009) als besonders

4.

10 So etwa Schirm (2009), Angeloni (2009: 4-7), Dieter (2009: 3-8).11 » Crisis leaves G7 on its last legs«, Financial Times, 2.10.2009, (http://www.ft.com/cms/

s/b805dd18-af8a-11de-ba1c-00144feabdc0,dwp_uuid=abb716b0-2f7a-11-da-8b51-00000e2511c8,print=yes.html; 5.10.2009).

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schwach, im Sinne geringer Gestaltungs- und Durchsetzungsmacht gegenüber denanderen Mitgliedern der Gruppe, bezeichnet werden können. Entscheidender Faktoraber ist die Finanzkrise, da sie gerade von den führenden westlichen Industrieländernder G7 (vielleicht mit Ausnahme Japans) ausging und so deren ohnehin schon lädier-ten Ordnungsanspruch delegitimierte.

Dass die Rolle des maßgeblichen globalen wirtschafts- und finanzpolitischen Ko-ordinationsforums nun von den G7 auf die G20 übergegangen ist, stellt einen bemer-kenswerten Wandel dar, wird dadurch doch auf institutioneller Ebene der Abschieddes »Westens« von seiner hegemonialen Gestaltungsrolle für die Weltwirtschaft ein-geleitet.12 In der G20 sitzen nun die für die Zukunft der internationalen Finanz- undWährungsordnung entscheidenden beiden Akteure, die USA und China, an einemTisch. Ihr dialektisches Verhältnis von Rivalität und Interdependenz dürfte diese Zu-kunft stärker prägen als die innerwestliche Konkurrenz zwischen EU und USA, zwi-schen Euro und Dollar.

Die Widersprüchlichkeit dieses Verhältnisses zeigt sich schon daran, dass einerseitsdie enge ökonomische Symbiose der beiden Wirtschaftsmächte, die AbhängigkeitChinas vom amerikanischen Markt und die Abhängigkeit der USA von der Finan-zierung ihres Leistungsbilanzdefizits durch China einer der wichtigsten Faktoren ge-wesen sein dürfte, die zu der krisenträchtigen Überakkumulation des amerikanischenFinanzsektors beitrugen, dass sich andererseits jetzt die größten Hoffnungen für eineÜberwindung der Krise eben auf China richten, das von der Krise nur geringer be-troffen und sich am schnellsten zu erholen scheint.

Das ökonomische Verhältnis der USA zu China spielt auch eine besondere Rollefür die Erklärung der krisenträchtigen Entwicklung der US-Wirtschaft seit 2001selbst, wie im folgenden kurz erläutert werden soll.

Die von Young (2009) analysierte privatkeynesianische Nachfrageexpansion, wur-de – das wird auch bei Young implizit deutlich – durch den radikalen steuer- undfiskalpolitischen Kurswechsel angestoßen, den George W. Bush unter dem Eindruckvon 9/11 im Kongress durchgesetzt hat. Zuvor, in den letzten beiden Jahren der Prä-sidentschaft Clinton, hatte es ja erhebliche Budgetüberschüsse gegeben. Und dasfortbestehende Leistungsbilanzdefizit war bis dahin eher Konsequenz der hohen Zu-flüsse an privatem Kapital – vor allem Direktinvestitionen und Portfolioinvestitionenam amerikanischen Aktienmarkt. Es lässt sich daher gut begründen, dass der »priva-tisierte Keynesianismus« seinen entscheidenden Schub erst unter Bush erhielt. Dieserhat sich dabei sicher auch auf die von Young angesprochenen bei seiner Wählerbasispopulären ideologischen Argumente à la »ownership society« gestützt, die von zahl-reichen radikal antietatistischen advocacy groups propagiert wurden. Masterminddieser Politik war aber sein Vizepräsident Dick Cheney, der schon unter Reagan eherunideologisch eine rücksichtslose Defizitexpansion (»deficits don't matter«) zur Fi-nanzierung der außen- und sicherheitspolitischen Aufwendungen vertreten hatte und

12 Dieser Abschied könnte mit der für Anfang 2011 angekündigten deutlichen Neuverteilungder Kapital- und Stimmrechtsquoten im IWF weitergehen. Zu diesem Thema eingehender:van Scherpenberg (2009).

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dies als Politik von »guns and butter« zur innenpolitischen Legitimation des »GlobalWar on Terror« auch diesmal vertrat.13 Geldpolitisch konsequent flankiert wurdediese Politik durch einen anderen Veteran der Reagan-Ära, Alan Greenspan.

Erst im Zuge dieser Politik kam es zu einer fundamentalen Veränderung in derZusammensetzung der Kapitalimporte der USA, also der Finanzierung ihres Leis-tungsbilanzdefizits, die bei Young unter den Tisch fällt.14 Die Direktinvestitionenfielen drastisch, von 33 % der Kapitalimporte im Durchschnitt der Jahre 1998-2001auf 10 % durchschnittlich in 2003-2007. Dafür nahmen die Kapitalzuflüsse von aus-ländischen offiziellen Stellen (in der Regel Zentralbanken) für dieselben Zeiträumevon 2 % (1998-2001) auf 25 % (2003-2007) zu.15

Es passt zu diesen Angaben, dass Chinas Leistungsbilanz bis etwa 2001 insgesamtausgeglichen war und erst ab 2002 allmählich (70 Mrd. Dollar), dann aber mit demwachsenden Importsog aus den USA einen immer schneller wachsenden Überschussverzeichnete. Dieser wurde in den folgenden Jahren nicht nur in US-Treasuries, son-dern zu einem wachsenden Anteil in Schuldverschreibungen quasi-staatlicher agen-cies, insbesondere Fannie Mae und Freddie Mac, investiert. Der doppelte Effekt desdas Zinsniveau niedrig haltenden hohen chinesischen Dollarrecyclings und desDrucks auf das Verbraucherpreisniveau in den USA durch die billigen Importe ausChina sorgte dafür, dass die Fed keinen Grund zum geldpolitischen Eingreifen sahund die Regierung Bush sich weiter im Glauben wiegen konnte, die US-Wirtschaftwerde durch überdurchschnittliches Wachstum mittelfristig schon irgendwie ihreDefiziten überwinden.

Die seltsame Symbiose zwischen USA und China, bisweilen auch durch den Aus-druck »Chimerica« illustriert (Ferguson/Schularick 2007), zog das Forschungsinter-esse vieler Ökonomen an. Viele sahen hier, an der außenwirtschaftlichen Flanke, dasEinfallstor für eine abrupte Anpassungskrise in den USA. Andere betonten, dass dieseSituation sich verstärkender bilateraler Ungleichgewichte so lange funktionierenwerde, wie das »exorbitant privilege« der USA durch deren impliziten politischenKonsens mit China – von Michael Dooley et al. (2003) als »Bretton Woods II« be-schrieben – fortbesteht (Mann/Plück 2006).

Es ist zwar nicht ohne Ironie, dass dieser Konsens immer noch existiert, währenddie Krise in den USA von innen ausgebrochen ist. Doch aus ökonomischer Sicht istes nicht verwunderlich, denn beide Seiten haben derzeit praktisch keine anderen Op-tionen. Die Warnung vor einer Erpressbarkeit der USA durch Chinas hohe Dollarre-serven und treasury investments entbehrte von jeher jeder ökonomischen Grundlage.

Dennoch hat sich im Verhältnis zwischen beiden Mächten politisch seit Ausbruchder Krise etwas geändert. Nicht nur hat China im August 2008, noch vor dem Zu-

13 Vgl. hierzu und zum folgenden van Scherpenberg (2004: 24-28).14 Vgl. Young (2009:151f).15 Noch ausgeprägter fällt der Vergleich der beiden Zeiträume bei der Betrachtung des Sal-

dos der Direktinvestitionen (ausländische DI in den USA minus amerikanische DI imAusland) aus. Als Anteil am Saldo der Kapitalbilanz (Überschuss der Kapitalimporte überdie -exporte) fielen sie von 18 % (1998-2001) auf -9 % (2003-2007), also ein Nettoabflussbei DI, Bureau of Economic Analysis, U.S. International Transactions; (www.bea.gov/international; 12.10.2009).

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sammenbruch der Lehman Bank, durch die Drohung, seine Bestände an Schuldver-schreibungen der großen US-Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac zuverkaufen, die US-Regierung faktisch genötigt, die beiden Banken formell zu ver-staatlichen. Seit Ende 2008 hat die chinesische Regierung auch immer deutlicher er-kennen lassen, dass sie nicht nur mit ihrem »Co-Dependence«-Verhältnis zu den USA(Mann 2004) unzufrieden ist, sondern die Rolle des Dollar als Welt-Leit- und Reser-vewährung insgesamt in Frage zu stellen gedenkt. Zwar sind ihre Möglichkeiten, ihreWährungsreserven zu Lasten des Dollar stärker zu diversifizieren, begrenzt, wie Ri-chard Cooper (2009) zeigt. Doch schließt Cooper zu kurz, wenn er die Rolle des Dollardeshalb noch auf längere Sicht unbeeinträchtigt sieht. Sowohl unilateral wie auf mul-tilateraler Ebene verfolgt China gegenwärtig Strategien, die die weltwirtschaftlicheLeit- und Ordnungsfunktion der USA nicht unbeeinträchtigt lassen werden.

Unilateral wird nicht ohne Erfolg der Aufbau eigener Strukturen außerhalb dermultilateralen Handels- und Finanzinstitutionen betrieben. So werden in wachsendemMaße Dollarreserven für Auslandsinvestitionen vor allem in Rohstoffressourcen ein-gesetzt. Zudem sind seit Ende 2008 mit einer Reihe von Handelspartnern swap-Ab-kommen geschlossen worden, die die Verwendung des Renminbi als Transaktions-währung im bilateralen Handel vorsehen.16 Regional verstärkt China seineBemühungen um eine asiatische Wirtschaftsintegration im ASEAN plus 3-Kontext.Zu gute kommt China dabei auch der soft-power-Effekt: Nicht nur hat die durch dieFinanzkrisen der 1990er Jahre außerhalb des Westens ohnehin bereits angeschlageneReputation des amerikanischen Wirtschaftsmodells und der USA als weltwirtschaft-liche Ordnungsmacht durch die gegenwärtige Finanzkrise vollends massiv Schadengenommen. Die Tatsache, dass China durch die Krise vergleichsweise geringer ge-troffen wurde und sie offenbar als erste große Wirtschaftsmacht zu überwinden imBegriff ist, hat in Asien, Afrika und Lateinamerika zu einem enormen Prestigegewinnfür China zu Lasten der USA geführt.

China kann mithin in der neuen G20 mit wesentlich gestärkter Position als nahezuebenbürtiger Gegenspieler der USA auftreten. Die chinesische Initiative von März2009 (Zhou Xiaochuan 2009), den US-Dollar als globale Leit- und Reservewährungdurch die IWF-Sonderziehungsrechte (SZR) zu ersetzen, ist zwar als durchaus lang-fristig gemeinter Vorstoß zu verstehen (siehe dazu aber Williamson 2009). Immerhinaber konnte China auf den Konferenzen von April 2009 (G20-Gipfelkonferenz inLondon und Frühjahrskonferenz von IWF und Weltbank) erreichen, dass im Rahmeneiner von den USA vorgeschlagenen Verdreifachung des IWF-Kapitals auf 750 Mrd.Dollar die Emission von SZR auf über 300 Mrd. Dollar mehr als verzehnfacht wurde.

China agiert inzwischen in den G20 als faktische Führungsmacht der dort präsentengroßen emerging market-Staaten (neben China Argentinien, Brasilien, Indien undSüdafrika). Und es ist durchaus fraglich, ob sich dieser Gruppe ein vereinter Westenentgegenstellen wird oder ob die USA und die europäischen G20-Staaten bei der

16 Solche Abkommen sind bislang abgeschlossen worden mit Hongkong, Malaysia, Indone-sien, Südkorea, Belarus, Argentinien, Brasilien. Russland verhandelt ebenfalls über denAbschluss eines swap-Abkommens mit China.

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künftigen Gestaltung der internationalen Wirtschaftsordnung in wechselnden Alli-anzen agieren werden, um ihre eigene Verhandlungsposition zu stärken.

Die Formeln, die auf der G-20-Gipfelkonferenz Konsens fanden (G-20 2009), äh-neln zwar manchen Formulierungen früherer G7-Kommuniques; jedoch fehlen diemacht- und ordnungspolitischen Voraussetzungen dafür, dass dieser Formelkonsensdie gleiche praktische Bedeutung entfaltet wie etwa die hegemonial geprägten Ver-einbarungen der New Yorker G7-Konferenz von1985, der »Plaza Accord«.

Es muss zunächst offen bleiben, wie westlich die aus der Krise hervorgehende in-ternationale Wirtschafts- und Finanzordnung in ihren Grundsätzen sein wird. Dasssie kein Instrument westlicher Gestaltungshegemonie mehr sein, sondern durch eineintensivierte Konkurrenz der großen Wirtschaftsmächte um die Akkumulationsbe-dingungen des von ihrem Boden aus operierenden Kapitals und um die Tauglichkeitihrer nationalen Währungen als Material dieser Akkumulation geprägt wird, ist jedochbereits deutlich zu erkennen.

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Jens van Scherpenberg: Finanzkapital, Finanzkrise und internationale Staatenkonkurrenz

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Christoph Scherrer

Das Finanzkapital verteidigt seinen Platz in derweltwirtschaftlichen Ordnung

In den letzten Jahrzehnten war die weltwirtschaftliche Ordnung stark von der Hege-monie des Finanzkapitals geprägt. Der Beitrag geht der Frage nach, ob das Finanz-kapital durch die Krise diese Stellung verloren hat. Akkumulations- und bewegungs-theoretisch begründet er, warum Krisen das Kapital sogar stärken können und somitzur Reproduktion des Kapitalismus beitragen. Empirisch zeigt er auf, wie sich imGefolge der vorhergehenden Finanzkrisen auf nationaler und internationaler Ebeneder Handlungsspielraum des Finanzkapitals erhöht hat. Die phasenweise Analyse desManagements der derzeitigen Krise ergibt, dass das Finanzkapital weiterhin domi-nant ist, aber seine Interessen von vielen nicht mehr deckungsgleich mit dem Allge-meininteresse gesehen werden.

Einleitung

Wirtschaftliche Krisen eröffnen grundsätzlich Chancen auf Veränderung. Erste Ge-wichtsverschiebungen in der Governance der Weltwirtschaftsordnung zugunstenBrasiliens, Indiens und Chinas zeichnen sich ab. Doch gibt es gute Gründe anzuneh-men, dass die derzeitige Weltwirtschaftskrise weder dazuführt, dass die Dominanzdes Finanzkapitals beendet wird, noch, dass sich die derzeitige dem Primat kapita-listischer Eigentumsverhältnisse folgende Form der Globalisierung überlebt hat.Mein Beitrag soll nicht als Plädoyer für eine Verschärfung der Krise verstanden wer-den. Im Gegenteil bin ich der Auffassung, dass nicht allein Krisen Veränderungs-chancen bieten. Dies lässt sich poststrukturalistisch mit dem Kontingenzbegriff vonErnesto Laclau (1990) begründen, aber auch mit Verweis auf den Erfolg der Bürger-rechtsbewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) während des GoldenAge of Capitalism plausibilisieren (McAdam 1999). Gerade letztes Ereignis verweistdarauf, dass eine Richtungsänderung intellektuell am Alltagsverstand anknüpfendguter Vorbereitung bedarf und dass die entwickelten Alternativen von einer breitenBewegung geteilt werden. In der jetzigen Krise ist weder die Alternative zu unseremFinanzsystem noch eine breite Bewegung sichtbar.

Zu den guten Gründen, die gegen einen signifikanten Kurswechsel sprechen, zähleich zum einen die Einsicht von Karl Marx, dass Krisen nicht nur Teil der kapitalisti-schen Wirtschaftsweise sind, sondern auch Momente seiner Erneuerung. Neben die-sem akkumlationstheoretischen Argument führe ich zum anderen noch einen kräfte-theoretischen Grund an. Wirtschaftskrisen delegitimieren zwar die Kräfte des Statusquo, aber sie schwächen auch die Gegenkräfte. Diese theoretischen Ausführungenwill ich empirisch mit einer Skizze der krisengetriebenen Liberalisierung der Finanz-

1.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen16. Jg. (2009) Heft 2, S. 339 – 353

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märkte in der Nachkriegszeit und mit einer knappen Darstellung des derzeitigen Kri-senmanagements veranschaulichen, wobei ich mich hier vor allem auf die USA alsZentrum der Finanz- und Weltwirtschaft konzentriere. Der Anschaulichkeit halberbeginne ich mit der Nachkriegsgeschichte der Finanzmärkte.

Krisengetriebene Liberalisierung der Finanzmärkte in der Nachkriegszeit

Als erste große Liberalisierung der Finanzmärkte in der Nachkriegszeit dürfte dieÖffnung der City of London für internationale Finanzgeschäfte 1952 im Gefolge derDollarknappheit gelten (Burnham 2002). Die nächste Krise, die zunehmende Passi-vierung der US-Zahlungsbilanz, wurde unter den Präsidenten Kennedy und Johnsonzunächst mit der Einführung von Kapitalverkehrskontrollen beantwortet. Doch jemehr diese sich ausweiteten, wuchs der Unmut der Geschäftswelt, der argumentativunterstützt von Milton Friedman die Regierung Nixon zur Kehrtwende veranlasste.Die Kombination von freiem Kapitalverkehr und der von Nixon nach 1970 betriebeneinflationäre Vollbeschäftigungspolitik vertrug sich jedoch nicht mit dem System derfesten Wechselkurse. Es kam zu riesigen transatlantischen Devisenspekulationen, inderen Folge Nixon das Bretton Woods Systems aufkündigte und die Ära flexiblerWechselkurse einläutete. Eine Verteidigung von Bretton Woods hätte nur mit einerEinschränkung des Kapitalverkehrs funktionieren können, dieser wurde aber für sa-krosant erklärt (Scherrer 1999: 163-206). Für viele gilt der Zusammenbruch vonBretton Woods als Beginn der zweiten Globalisierung und der Übermacht des Fi-nanzkapitals (vgl. O'Brien/Williams 2007). Die Währungsschwankungen machtenWährungssicherungsgeschäfte notwendig, die notgedrungen von spekulativem Cha-rakter sind.

War zu Zeiten von Bretton Woods das Bankensystem in den meisten reichen kapi-talistischen Ländern stabil, so begannen sich mit seinem Ende die nationalen undinternationalen Krisen zu häufen. Die Tabelle führt die Krisen auf, die das US-Fi-nanzwesen betrafen.

Tabelle 1: Sozialisierung von Kreditrisiken in den USA, 1982 – 2007

Jahr Anlass Staatliche Maßnahmen

1982-92 LateinamerikanischeSchuldenkrise

Stützung der Banken durch Zentralbank(Fed) und Schatzamt

1984 Continental Illinois Bank 4 Mrd. Dollar durch Fed, Schatzamt undEinlagenversicherung FDIC

Späte 1980erJahre

Bankrott von 350 Banken Fed vergibt günstige Kredite, und erlaubtGroßeinlegern auszusteigen

1987 Kurseinbruch an der Börse Fed gibt massive Liquiditätsspritze

1989-92 Sparkassenkrise 250 Mrd. Dollar durch Schatzamt

2.

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Jahr Anlass Staatliche Maßnahmen

1991 Bank of New England 4 Mrd. Dollar durch FDIC und Schatzamt

1992 Citibank Schatzamt vermittelt saudiarabischeHilfe

1994-95 Peso-Krise Schatzamt unterstützt Peso, damit fürUS-Investoren Währungsverlustgeringer

1997 Asienkrise Schatzamt gibt dem IWF Richtung desKrisenmanagements vor

1998 Long-Term CapitalManagement Hedge Fund

Fed vermittelt privates Rettungspaket

1999 Jahr-2000-Angst Fed gibt massive Liquiditätsspritze

2001 Dotcom-Krise Fed senkt für mehrere Jahre drastisch dieZinsen

Quelle: (Phillips 2008: 57)

Bei jeder Krise schritt die Zentralbank oder das Schatzamt ein, um den Schaden fürdie Investoren gering zu halten. Angesichts der Häufigkeit der Krisen wäre eine Ein-schränkung der Handlungsspielräume des Finanzkapitals zu erwarten gewesen, dochdiese Krisen haben das Finanzkapital eher gestärkt. Die lateinamerikanische Schul-denkrise konnte zur Stärkung neoliberaler marktwirtschaftlicher Elemente in den be-troffenen Ländern genutzt werden (Boris 2000). Zwar wurde 1988 mit Basel I desBasel Committee on Banking Supervision den international tätigen Banken eine hö-here Eigenkapitalquote und eine stärkere Streuung ihrer Ausleihungen vorgeschrie-ben (Lütz 2002), doch in der Peso-Krise von 1994/95 wurde bereits deutlich, dass dieBegrenzungen von Basel I durch die Verbriefung von Krediten umgangen werdenkonnten. Dieses neue Finanzinstrument zeigte seine systemische Sprengkraft in derAsienkrise von 1997/98 (Haustein 1998). Die regulative Antwort blieb innerhalb desneoliberalen Paradigmas. Eine Insolvenzordnung im Falle der Überschuldung vonLändern scheiterte am Widerstand des Finanzkapitals, aber auch an der Furcht vonSchuldnerländern, dass sie Einschränkungen der Gläubigerrechte mit höheren Zinsenoder gar Marktzutrittsperren zahlen müssten. Stattdessen wurde auf mehr Transparenzund auf eine besser mit dem Aufbau nationaler Aufsichtsbehörden abgestimmte Li-beralisierung des Kapitalverkehrs (sequencing) gesetzt (Kellermann 2006). Die Neu-fassung des Basel-Abkommens, Basel II, schreibt sogar vor, dass Banken ihre Min-desteigenkapitalquote an den Bewertungen der Rating-Agenturen ausrichten(Bundesbank 2008), obwohl die Rating-Agenturen nur wenige Jahre zuvor die Dot-com-Krise nicht kommen sahen und auch bei der Prüfung des Geschäftsgebarens desUS-Energiekonzerns Enron versagten (Stiglitz and Griffith-Jones 2007).

Christoph Scherrer: Das Finanzkapital verteidigt seinen Platz in der weltwirtschaftlichen Ordnung

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Die für die US-amerikanischen SteuerzahlerInnen besonders teure Rettung derSparkassen führte gleichfalls nicht zu einer Einschränkung des Handlungsspielraumsfür Banken (Blomert 2005). Die Rettungsaktion für den Long-Term Capital Manage-ment Hedgefonds im Jahre 1998 kann im Nachhinein eher als Startschuss für dasexplosive Wachstum der Hedgefonds angesehen werden. Im selben Jahr verabschie-dete sich der US-Kongress von der längst ausgehöhlten zentralen New-Deal-Ban-kenreform, dem Trennbankensystem, das das Kredit- und Einlagengeschäft vomWertpapiergeschäft trennte. Im Jahre 2000 verzichtete der US-Kongress bewusst aufeine Regulierung von Credit Default Swaps (eine Art Kreditausfallversicherung, Jo-nes 2008).

Allein die Bilanzfälscherkrise (Enron, Worldcom) hatte ein regulatives Nachspiel.Das Sarbanes-Oxley-Gesetz von 2002 verschärfte die Berichterstattungspflichten vonPublikumsgesellschaften und verbot den Wirtschaftsprüfergesellschaften, neben derVergabe des Testats zugleich auch beratend tätig zu werden. Doch ein Systemwechselblieb aus. Die von Enron erfundenen Special Purpose Entities (Zweckgesellschaften),die in der Hypothekenkrise zu großer Prominenz kommen sollten, mussten auch wei-terhin nicht in der Bilanz erfasst werden (Sablowski 2002: 218).

Im April 2004 hob die Securities and Exchange Commission (SEC) die Mindestei-genkapitalvorschrift für Maklerfirmen im Besitz der großen Investmentbanken auf.Dieser Beschluss erlaubte den Banken Milliarden an Dollars, die bisher zur Sicherunggegen Verluste in Reserve gehalten wurden, in verbriefte Hypothekendarlehen undandere innovative Finanzprodukte zu investieren. Für die Abschaffung der Mindest-reserve hatte sich besonders Präsident Bushs Finanzminister eingesetzt, damals nochals Vorstandsprecher der Investmentbank Goldman Sachs (Labaton 2008).

Das ganze Ausmaß an Deregulierung oder Verzicht auf Regulierung kann hier nichtdargestellt werden (Kroszner and Strahan 2007; Bieling 2009; Taub 2009). Im Re-sultat weitete sich der Handlungsspielraum des Finanzwesens trotz wiederholter Kri-sen enorm aus. Wie kann dies erklärt werden?

Neben intensiver Lobbytätigkeit des Finanzwesens halten viele sein Erpressungs-potenzial vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Weltwirtschaftskrise für aus-schlaggebend. Aufgrund der enormen Bedeutung der Kreditwirtschaft für das rei-bungslose Funktionieren der Realwirtschaft konnte es immer darauf hinweisen, dass,wenn rasche Maßnahmen zur Herstellung des Vertrauens in der Kreditwirtschaft aus-blieben, die Volkswirtschaft als Ganze mit nach unten gerissen werden würde (Shiller2000). Das tatsächlich erfolgte zügige Eingreifen der Fed und des Schatzamts er-weckte dann den Anschein, als ob Krisen rasch bewältigt werden könnten und diejeweiligen Krisenbewältigungskosten bald schon durch das Wirtschaftswachstum imAllgemeinen und durch Kursanstiege überkompensiert würden. Die Definition derKrisenlösung blieb weitgehend in der Hand des Finanzkapitals. Statt die vorbeugendeRegulierung zu stärken, setzte es auf mehr so genannte Transparenz, die allerdingsmeist nur auf alte Finanzinstrumente und nicht auf Finanzinnovationen angewandtwurde. Diese Erklärungen greifen jedoch zu kurz, da im Falle von Erpressung Wi-derstand zu erwarten ist und die zyklische Wiederkehr der Krisen immer wieder die

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rasche Erholung von der vorangegangenen Krise in Frage stellt. Eine umfassendereErklärung könnte die gramscianische Hegemonietheorie bieten.

Hegemonie des Finanzkapitals

Antonio Gramsci (1991 ff) hat unter Hegemonie die Fähigkeit verstanden, partikulareInteressen zu universalisieren. Eine breite Zustimmung zu den Projekten einer Min-derheit beruht auf einer Mischung von Zwang und auf Konsens setzenden Mitteln.Die fortschreitende Liberalisierung der Finanzmärkte könnte als Ausdruck der He-gemonie des Finanzkapitals verstanden werden. Sein Zwangsmittel in Form des Er-pressungspotenzials wurde oben bereits identifiziert, wie kommt es aber zum Kon-sens? Im Folgenden werde ich kurz skizzieren, inwiefern das Finanzkapital gegenüberanderen Kapitalfraktionen, der Bevölkerung und den PolitikerInnen nicht nur domi-nant, sondern auch führend war.

Die Vorherrschaft des Finanzkapitals in den letzten beiden Jahrzehnten gegenüberanderen Kapitalfraktionen zeigt sich an seinem steigenden Anteil am Bruttosozial-produkt und an seinen überdurchschnittlichen Renditen (Krippner 2005; Nölke 2009).Ist das Finanzkapital gegenüber dem Industriekapital auch hegemonial? Nach an-fänglichen Widerständen in den frühen 1980er Jahren hat das produktive Managementgelernt, sich mit dem Finanzmarktkapital zu arrangieren. Zum einen schätzt es dieerweiterten Finanzierungsmöglichkeiten, insbesondere den direkteren Zugang zu Ka-pital auf heimischen und ausländischen Börsen unter Umgehung der klassischenBanken, aber auch die Möglichkeiten, sich gegen zukünftige Risiken auf Rohstoff-,Devisen- oder Zinsmärkten durch Derivate abzusichern. Zum anderen beteiligt es sichselbst am Finanzwesen, indem es verstärkt in Finanztitel investiert. Das verarbeitendeGewerbe führte diesen Trend zur »Financialization« sogar an (Krippner 2005). DieEntlohnung des Managements koppelte sich durch Aktienoptionspläne zunehmendan die Entwicklung der Aktienmärkte an. 1992 verfügten die CEOs der US-Aktien-gesellschaften über 2 % des gesamten Aktienkapitals, zehn Jahre später über 12 %(Sablowski 2002): 224).

Für eine fundierte Einschätzung der Qualität der Zustimmung der US-Bevölkerungzum Finanzkapital fehlt es an einschlägigen Analysen. Alltagshandeln (Langley1988), die Hypotheken finanzierten Eigenheime (Young 2009) und die Art der poli-tischen Artikulation lässt jedoch auf eine aktive Zustimmung insbesondere bei ten-denziell steigenden Kursen und niedrigen Zinsen schließen. Insbesondere bei dengeringer qualifizierten Lohnabhängigen geht sie mit einem leichten Unbehagen überkonkrete Praxen im Wirtschaftsleben und den hohen Gehältern einher.

In ihrer Verantwortung für die Wirtschaft sahen sich viele PolitikerInnen unab-hängig von der Parteizugehörigkeit durch das Finanzkapital unterstützt, wobei na-türlich dessen Interessen in die allgemeinen Zielbestimmungen mit einflossen. Anerster Stelle ist die Preisstabilität zu nennen, die sie aus Eigeninteresse als Beziehervon nicht Inflationsindexierten Einkünften, aber auch aufgrund des allgemeinen Kon-sensus unter der politisch aktiven Bevölkerung gleichfalls befürworteten (Davis

3.

Christoph Scherrer: Das Finanzkapital verteidigt seinen Platz in der weltwirtschaftlichen Ordnung

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1986). Außenwirtschaftspolitisch unterstützte das Finanzkapital die Öffnung derMärkte zu Hause und in anderen Ländern, was auch von der Mehrheit der politischenKlasse favorisiert wurde (Scherrer 1999). Die Schuldenkrise Lateinamerikas in den1980er Jahren konnte ebenso wie die Asienkrise der späten 1990er Jahre für eineallgemeine Ausweitung des US-amerikanischen Einflusses genutzt werden (»Dollar-Wall Street Regime«, Gowan 1999). Die disziplinierende Wirkung der Finanzmärktewurde häufig sogar bejaht (Altvater 2004: 55). Zudem erlaubte die Öffnung politischunbeliebte Steuererhöhungen zu vermeiden, da ausländische Vermögensbesitzer be-reit waren, Staatsanleihen in immer höheren Volumina aufzukaufen (Panitch/Giddin2008: 39).

Hegemoniales Krisenmanagement?

Kann die oben skizzierte Hegemonie des Finanzkapitals die Krise überstehen? DieserFrage will ich zum einen durch eine Einteilung des bisherigen Verlaufs des US-ame-rikanischen Krisenmanagements in unterschiedliche Phasen und zum anderen anhandvon folgenden Fragen nachgehen:– Krisenursachen – Wer definiert die Ursachen der Krise?– Krisenlösung – Wer gibt die Lösungen vor, bzw. die Richtungen für die Suche

nach Lösungen?– Krisenlasten – Wer trägt die Masse der Lasten?

Phase I: Stagnation der Immobilienpreise

Von Mai 2006 bis Anfang 2008 wurde das Fehlverhalten des Finanzkapitals nochkaum thematisiert, der Fokus lag mehr auf den Schuldnern und einzelnen Finanzin-stitutionen, die Krisenbewältigungsstrategien waren hauptsächlich geldpolitischerArt und die ersten Opfer der Krise, überschuldete Hausbesitzer, erhielten keine Hilfe.Die Hegemonie des Finanzkapitals war noch ungebrochen.

Phase II: Rettung einzelner Finanzinstitute

Ab März 2008 wurde die Krise offensichtlich, am Ende war ihre systemische Di-mension nicht mehr zu verleugnen. Zunächst galten die Bankenzusammenbrüchenoch als Einzelfälle, die zudem unter staatlicher Vermittlung von der Privatwirtschaftaufgefangen werden konnten. Selbst nachdem Zentralbank- und Steuergelder massiveingesetzt worden waren, blieb der Anschein gewahrt, dass der Staat das Bankenka-pital in die Verantwortung nimmt. Allerdings förderte er damit die Bankenkonzen-tration. Das Finanzkapital verlor zwar im Zuge der Ausbreitung der Krise seinenbisherigen Nimbus des Erfolgs, doch seine Stellung im Krisenbewältigungsprozess

4.

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blieb unangefochten. Hilfe für Hausbesitzer oder arbeitslose einfache Bankangestellteblieb aus. Das Finanzkapital bewahrte seine Hegemonie.

Phase III: Umfassender Aufkauf fauler Kredite

Auf die aufkommende Panik an den Finanzmärkten in Gefolge der Pleite von LehmanBros. reagierten Finanzminister Paulson und Zentralbankchef Bernanke am 19. Sep-tember 2008 mit einem umfassenden Rettungspakt in Höhe von 700 Mrd. Dollar. Derursprüngliche Paulson-Plan setzte zwar systemisch an, stellte aber nicht die System-frage. Im Gegenteil, es war ein Rettungsplan ohne Auflagen. Widerstand im Kongressließ das verabschiedete Gesetz jedoch nicht so eindeutig zugunsten der Finanzindus-trie und der Machtfülle des Finanzministeriums ausfallen. Mit der Verwaltung desGeldes betraute Paulson zudem ihm vertraute Personen von Goldman Sachs, sodassdas Rettungspaket operativ in den Händen nicht nur von Finanzmarktakteuren imAllgemeinen lag, sondern von einem Bankhaus, das vom politischen Managementder Krise bisher am meisten profitierte.

Mit diesem Paket gelang es, die um sich greifende Panik zu stoppen und das Fi-nanzsystem zu stabilisieren. Das Durchschlagen der Krise auf den produktiven Sektorder Wirtschaft konnte hingegen nicht verhindert werden. Die Finanzinstitutionen ha-ben die staatlichen Gelder stärker zur eigenen Sanierung (und Zentralisierung) als fürdie Kreditvergabe an die Realwirtschaft genutzt. Die Rettung der Finanzhäuser bliebauch in dieser Phase prioritär (Für Details zur Phase I – III, siehe Scherrer 2008).

Phase IV: Obama und der Skandal um Managergehälter

US-Präsident Barak Obama verdankt seinem Wahlsieg auch der Wall Street. Zu densieben größten Spendern für Obama gehörten die Manager von Goldman Sachs,JPMorgan und Citibank.1 Bei der Besetzung seiner wirtschaftspolitischen Kabinetts-und Beraterposten griff er auf erfahrene Personen der Finanzwelt zurück, zum Fi-nanzminister machte er Timothy Geithner, zum Chefberater den Finanzminister unterPräsident Clinton, Lawrence Summers. Geithner war als Vorsitzender der New Yor-ker Zweigstelle der US-Zentralbank bei den Entscheidungen der Bush Regierung,Lehman nicht und AIG zu retten, dabei. Diese Besetzungen versprachen zunächstweitgehende Kontinuität im Krisenmanagement, doch das Bekanntwerden hoher Bo-nuszahlungen an führende Manager der mit Steuergeldern geretteten Finanzinstitu-tionen führte zu einem Sturm der Entrüstung in der US-amerikanischen Öffentlichkeit(Story 2009).

Der Kongress reagierte mit Auflagen hinsichtlich der Höhe der Boni für Managervon staatlich gestützten Instituten. Einige Banken konnten sich mittlerweile wiederfrei kaufen, die Vergütungspraxis wurde nur minimal geändert. Selbst die Höhe der

1 Http://www.opensecrets.org; 12.10.2009.

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Boni erreichte in Einzelfällen die Exzesse der Vorkrisenzeit (Segal 2009a). In ge-wisser Weise konnten sich die Bankvorstände gerade dank der Boni-Affäre weiterbereichern, da diese davon ablenkte, dass der Einstieg des Staates bei AIG die Bankenihre Wetten (CDS) zu Hundertprozent bei AIG einlösen konnten, keine Abstrichemachen mussten (Spitzer 2009). Hätte die Regierung auf eine Teilhabe der Vertrags-partner von AIG an den Verlusten beharrt, könnten sich die Banken solche Gehälternicht mehr leisten. Auch die Deutsche Bank profitierte von der Großzügigkeit desUS-Steuerzahlers (Walsh 2009).

Im Vorlauf zum Jahrestag des Konkurses des Bankhauses Lehman Bros. fragtendie Herausgeber der New York Times diverse Experten, warum seitdem so wenigeFinanzmarktreformen erfolgten.2 Einhellig verwiesen diese auf die politische Machtder Finanzindustrie. Finanzmarktbloggerin Yves Smith fügte noch hinzu, dass auf-grund der komplexen Verwobenheit der Finanzmärkte, die Fachleute befürchten,durch falsche Regeln, die Krise zu verschärfen. Auch Jeffry Frieden betonte die großeBedeutung von Expertise für erfolgreiche Reformen. Diese müssen sich die Gegnerselbst regulierter Finanzmärkte erst aneignen. Den Plan, Banken zum Angebot ein-facher, transparente Finanzprodukte zu zwingen, hat die Obama Regierung inzwi-schen aufgegeben (Labaton 2009).

Phase V: Krise überwunden?

Wenngleich die negativen Folgen der Finanzmarktkrise auf die Realwirtschaft nochnicht voll absehbar sind, werden immer mehr Stimmen laut, dass die Finanzkrise alssolche überstanden sei. Entsprechend erlahmt auch der Reformwille der Staatenge-meinschaft. Im Vorfeld der Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds (IMF)in Istanbul 2009 wurden nur noch kleine Reformen gehandelt, weder eine Sonder-steuer für Finanzmarktakteure noch Ausbau des Fonds zur Ersetzung der Notfondsbei einigen Mitgliedsländern stand noch zur Debatte, einzig die Verteilung derStimmrechte zugunsten Chinas und anderer neuer Gläubigerländer (Gottschlich2009). Die wieder aktivierte Kreditvergabe des IMF, soll trotz anders lautender Ver-kündigungen, mit nur geringfügig geänderten neoliberalen Kondionationalitäten er-folgen (Solidar 2009). Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank,will gleichfalls die alten angebotsorientierten Rezepte gleich nach Ende der Kriseangewandt wissen (Cordonnier 2009).

Karl Marx wäre über den bisherigen Krisenverlauf wenig überrascht. Für ihn galt,dass das durch die Krise vernichtete Kapital die Voraussetzung für neue Kapitalak-kumulation schafft, da der Profit auf das übrig gebliebene Kapital steigt (Marx 2000:496f). Zudem forciert die Krise kapitalsparende Innovationen und trägt zur Zentrali-sation des Kapitals durch Übernahme oder Wegfall von Konkurrenten bei. Ein hö-herer Grad an Zentralisation verspricht höhere Profite durch Skalenerträge und/oder

2 Http://roomfordebate.blogs.nytimes.com/2009/09/11/why-wall-street-reforms-have-stal-led/; 12.10.2009.

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vermehrter Marktmacht (Marx 1968: 656). Diese von Marx theoretisch begründetekapitalistische Krisenüberwindungsstrategie, die beschleunigte Tendenz zur Zentra-lisation des Kapitals, wird in der derzeitigen Krise augenscheinlich bestätigt. DieAbkehr von der New Deal Gesetzgebung hat in den USA zu einer raschen Konzen-tration des Bankkapitals geführt, die durch die Krise noch deutlich zunahm. Hielten1995 die fünf größten US-Banken einen Anteil an Einlagen von 11 Prozent, so stiegdieser auf 29 % im Jahre 2004 und auf 38,6 Prozent im Jahre 2009 (Celent 2009). InDeutschland sind 2009 von den fünf größten Privatbanken aus dem Jahre 2006 nurnoch zwei selbstständig, die Dresdner Bank, die Hypo-Vereinsbank und die Postbankwurden von größeren Konkurrenten übernommen. Allerdings entstanden auf denglobalen Finanzmärkten nicht zuletzt aufgrund der Krise neue Konkurrenten für dieangelsächsischen Banken, insbesondere in China.3 Die Konkurrenz findet somit auferweiterter Stufenleiter statt.

Gegenmacht noch wenig sichtbar

Die Finanzkrise hat unbezweifelbar dem Ruf der Finanzinstitute sehr geschadet.Kurzzeitig wurden in den USA sogar etliche Banker auf dem Nachhauseweg vonaufgebrachten BügerInnen belästigt (Segal 2009b). Doch inwiefern mündet die spon-tane Empörung über die hohen Gehälter derjenigen, die die Krise mitverschuldet ha-ben, in kollektives Handeln? Und zu welchen Aktionen? Aus der Geschichte wissenwir, dass Mittel- und Arbeiterschichten nicht unbedingt ihren Zorn über wirtschaft-liche Verluste oder Notlagen an den Reichen ausleben, sondern auch gleichgestelltenoder ärmeren Schichten diesen spüren lassen können. Die Selbstbehauptung kannsowohl über eine Belastung der Reichen als auch über eine Ausgrenzung vermeint-licher Konkurrenten am Arbeitsmarkt oder durch Belastung der Armen erfolgen.

Zur Analyse der derzeitigen Lage kann es hilfreich sein, sich der Quellen der Machtvon Lohnabhängigen zu vergewissern. Etwas vereinfacht können drei Quellen iden-tifiziert werden: Marktmacht, institutionelle Macht und Diskursmacht (Hyman 1989).

Lohnabhängige verfügen dann über Marktmacht, wenn ihre Arbeitskraft aufgrundentweder eines allgemeinen Wirtschaftsaufschwungs oder ihrer besonderen Qualifi-kationen stark nachgefragt wird. Marktmacht verschafft ihnen eine gewisse Durch-setzungskraft gegenüber den Nachfragern ihrer Arbeitskraft, den Unternehmen. DieKrise schwächt die Marktmacht der Lohnabhängigen, indem sie die Nachfrage nachArbeit schwinden lässt, oder wie es Marx plastisch ausgedrückt hat:

»Während der Phase sinkender Marktpreise, ebenso wie während der Phasen der Kriseund der Stagnation, droht dem Arbeiter, falls er nicht überhaupt aufs Pflaster geworfenwird, einer Herabsetzung des Arbeitslohns« (Marx 1989: 145f).

Gerade die Exportwirtschaft, in vielen Ländern die Hochburg der organisiertenArbeiterschaft, leidet in der jetzigen Krise besonders stark. Der Kern der gut organi-sierten und verdienenden Belegschaften in der besonders stark betroffenen Automo-

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3 Http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,623177,00.html; 12.10.2009.

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bilindustrie ist somit mit Abwehrkämpfen beschäftigt. Diese werden auch teils aufKosten anderer Gruppen von Lohnabhängigen ausgetragen, den sog. LeiharbeiterIn-nen, die überproportional und ohne weitere Abfindungen vom Stellenabbau betroffenwurden (Brehmer/Seifert 2009) und der Allgemeinheit der SteuerzahlerInnen. Zwarwurden Letztere von den Bankenrettungsaktionen wesentlich stärker belastet, dochauch die allgemeinen Konjunkturpakete und Kreditgarantien belasten die Staatshaus-halte. Falls es nicht gelingen sollte, die besser Verdienenden stärker an den Krisen-lasten zu beteiligen, werden die öffentlichen Schuldenberge zu staatlichen Leistungs-kürzungen führen, die die Lohnabhängigen im allgemeinen und die Beschäftigten imöffentlichen Dient im Besonderen betreffen werden. Die konservativen Regierungender bevölkerungsreichsten EU-Mitgliedsländer auf dem Kontinent, die derzeitigeSchwäche der Labour Regierung unter Gordon Brown und die weiterhin starke An-tisteuerfront in den USA lassen höhere Steuern für Reiche wenig wahrscheinlich er-scheinen.

Allerdings hat die Krise zu stärkeren Bemühungen der Finanzministerien im Kampfgegen internationale Steuerhinterziehung geführt, die zu OECD-Vereinbarungen zurÄchtung von Steuerparadiesen geführt hat (OECD 2009) und das schweizer Bank-geheimnis angekratzt haben (Hilzenrath 2009). Die allgemeine Skandalisierung derhohen Einkünfte im Bankensektor erleichtert diese Bemühungen. Eine zynische Be-trachtung, die noch der wissenschaftlichen Beweise harrt, könnte dieses Vorgehengegen die »schwarzen Schafe« auch als Ablenkungsstrategie zur Sicherung des Ge-schäftemachens interpretieren (oder diskurstheoretisch als Strategem der superdiffe-renziellen Grenzziehung, die das Element »Gier« aus der Äquivalenzkette »Finanz-kapital« herauszulösen versucht, vgl. Wullweber 2009).

In den Ländern wie den USA, wo die Rentenversicherung bereits weitgehend aufKapitalbasis umgestellt wurde, schwächt die Krise noch zusätzlich die Marktmachtder Lohnabhängigen, indem sie nämlich dazu führt, dass zahlreiche in Rente gegan-gene Personen gezwungen sind, wieder zu arbeiten und damit das Arbeitsangebotinsgesamt noch erhöhen.4

Würden Lohnabhängige lediglich über Marktmacht verfügen, wären sie in ihrerMehrheit völlig den Konjunkturzyklen ausgeliefert. Mittels institutioneller Machtkönnen sie sich das nicht selbstverständliche Recht auf gewerkschaftliche Vertretung,auf Kollektivverhandlungen auch in der Krise und auf Mitsprache bei Kündigungensichern. Ihre nicht nur staatlich abgesicherten Rechte sind in der Regel zählebiger alsder Konjunkturzyklus. Ihre institutionelle Macht beruht auf ihren vergangenen ge-werkschaftlichen und politischen Erfolgen. Diese liegen in den USA lange zurück,entsprechend gering ist die institutionelle Macht der US-Gewerkschaften (Lüthje/Scherrer 1993). Durch die erfolgreiche Mobilisierung ihrer Mitglieder haben sie zwarzur Wahl von Obama und zur Mehrheit der Demokraten im Kongress beigetragen,doch bei ihrem wichtigsten legislativen Anliegen, der rechtlichen Besserstellung bei

4 Http://www.businessweek.com/magazine/content/08_50/b4112046151127.htm?chan=top+news_top+news+index+-+temp_dialogue+with+readers; 12.10.2009.

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der Gewinnung von Mitgliedern, versagt diese Mehrheit ihnen die Gefolgschaft(Greenhouse 2009).

Der Zugang zu wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern ist zudem in vielenLändern auch deshalb eingeschränkt, weil die führenden RepräsentantInnen der denLohnabhängigen traditionell nahe stehenden Parteien den neoliberalen Kurs in derVorkrisenzeit mitgetragen haben. Die Finanzcenter der USA sind seit 1992 Hoch-burgen der Demokraten geworden. Hedge Funds gaben bereits 2006 dreimal mehrden Demokraten als den Republikanern. Die wichtigen demokratischen SenatorenCharles Schumer und Christopher Dodd haben diese entsprechend auch verteidigt(Phillips 2008: 170-174). Die deutschen sozialdemokratischen Finanzminister derjüngsten Zeit, Hans Eichel und Peer Steinbrück, haben die Liberalisierung der Fi-nanzmärkte vor der Krise mitgetragen (Kellermann 2005; Koalitionsvertrag 2005).

Die Abschottung des Staates gegenüber den Lohnabhängigen entspricht durchausder Logik einer Wirtschaftskrise, denn dem Kapital allgemein kann ein Interesse aneiner politisch-institutionellen Schwächung der Lohnabhängigen unterstellt werden,wenn es die Krisenlasten auf diese abwälzen will. Zugleich sind konkrete Kapitalienan einer institutionellen Einbindung der RepräsentantInnen von Lohnabhängigen in-teressiert, wenn sie diese für das Überleben bedürfen. Letzteres zeigt sich in der jet-zigen Krise insbesondere in der Automobilindustrie. Sowohl in den USA als auch inDeutschland besteht eine Bereitschaft, die Gewerkschaften an mit staatlicher Hilferestrukturierten Unternehmen zu beteiligen. Die gewerkschaftlich organisierten Be-legschaften müssen dafür aber erhebliche Einschnitte in ihre sozialen Besitzständehinnehmen und erhalten im Gegenzug keinesfalls risikofreie Aktien (U.A.W. Sum-mary of G.M. Concessions 2009).

Somit verbleibt den Organisationen der Lohnabhängigen vornehmlich die Diskurs-macht. Unter Diskursmacht wird die Fähigkeit verstanden, andere von der Richtigkeitder eigenen Anliegen zu überzeugen. Die Krise delegitimiert das Finanzkapital unddessen wirtschaftspolitisches Credo, der Neoliberalismus, und öffnet daher Raum fürAlternativen. Die Skandalisierung der Zustände reicht allerdings nicht für einenKurswechsel aus. Ein neues Ziel wird gebraucht. Auf den Webseiten beider US-Ge-werkschaftsdachverbände, AFL-CIO und Change-to-Win, fand sich nach der Pleiteder Lehmann Bros. weder eine Stellungnahme zu dem Rettungsplan der Regierungnoch zur Finanzkrise im Allgemeinen. In den bisherigen Anhörungen im Kongresswaren diese Organisationen gleichfalls nicht präsent. Allein das gewerkschaftsnaheEconomic Policy Institute hat kurze, recht allgemein gehaltene Stellungnahmen ver-fasst (Mishel et al. 2008). In Deutschland hat der DGB zwar umfassender Stellunggenommen (Hirschel 2009), aber die intellektuellen Kräfte, auf die er sich dabei stützt,sind zahlenmäßig gering und insbesondere in der ihm Nahe stehenden Partei vor derBundestagswahl 2009 kaum präsent gewesen. Wie bereits erwähnt, gaben in der So-zialdemokratie diejenigen den Ton an, die zuvor die Handlungsräume des Finanzka-pitals erweitert haben.

Nun verweisen einige gerne auf die Weltwirtschaftskrise als Beispiel für die Chancedes Kurswechsels in Richtung eines vernünftig eingehegten Kapitalismus (Lordon2008). Dabei wird leicht übersehen, dass dieser Kurswechsel erstens nicht ohne Al-

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ternativen (Faschismus, Kommunismus) war und zweitens erst durch einen Weltkriegentschieden wurde. Die Parallele mit heute hinkt aber auch aus anderen Gründen.Zum einen hat im letzten Jahr die Politik vor dem Erfahrungshorizont der Weltwirt-schaftskrise entschieden gegen eine Verschärfung der Krise gehandelt, so dass diejetzige Krise bisher nicht in den Ausmaßen und insbesondere hinsichtlich der sozialenVerelendung in den Metropolen vergleichbar ist. Zum anderen trugen gerade dieseAlternativen zum liberalen Kapitalismus zu dessen Veränderung bei. Eine sozialeEinhegung der liberalen Marktordnung galt neben Kriegsführung oder Aufrüstungals bester Schutz der bestehenden Eigentumsordnung und der damit einhergehendenFreiheiten. Das erneute Interesse an irgendwelchen Formen des Sozialismus hat heutenoch keine Massenwirkung entfaltet, selbst in großen Teilen Lateinamerikas nicht(Sader 2009). Von den vorläufigen Gewinnern der Krise im Weltmaßstab, China,Indien und Brasilien, geht diese Gefahr derzeit nicht aus, jedenfalls nicht für denKapitalismus, eher für die Demokratie im Falle von China.

»Es muss sich viel ändern, damit alles gleich bleibt«

Nicht einmal dieses Zitat aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman »Der Leopard«trifft zu. Um gleich zu bleiben, musste sich in der Krise wenig ändern. Wie zuvor,nur auf erweiterter Stufenleiter, haben die Steuerzahler die Verluste des Finanzkapi-tals übernommen. Bisher sind dem Finanzkapital keine engeren Grenzen gesetzt wor-den. Die finanzpolitisch verantwortlichen Personen sind in ihren Ämtern gebliebenoder diese Ämter bekleiden ähnlich denkende und mit dem Finanzkapital verbundenePersonen. Zum Negativen verändert hat sich die Reputation der Banker. Ihre Inter-essen werden von vielen nicht mehr deckungsgleich mit dem Allgemeininteresse ge-sehen. Entsprechend führt das Finanzkapital nicht mehr hegemonial, sondern durchdie Mobilisierung seiner Machtressourcen und sehr begrenzter Zugeständnisse. Ge-fahren für das vornehmlich angelsächsische Management drohen eventuell aus China.Doch ob die chinesischen Finanzmanager den Verlockungen der Spekulation stand-halten können, bleibt für die Zukunft zu entdecken. Ihre Pendants aus den 1980erJahren, die japanischen Bankiers, waren, wie bekannt, diesen schon bald erlegen.

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Rolf J. Langhammer

Die Finanzkrise als Herausforderung für die internationaleOrdnung

Der Beitrag sieht die wesentlichen Ursachen der Finanzkrise in exzessiv wachsenderglobaler Liquidität während der beiden letzten Jahrzehnte, Regulierungsdefiziten aufden Finanzmärkten vor und während der Krise, einer passiven Geldpolitik, die Bla-senbildungen an Vermögensmärkten nicht unterband, sowie im Unvermögen weiterTeile der Finanzmarktakteure, auf unerwartete Ereignisse angemessen zu reagieren.Anders als auf den internationalen Gütermärkten fehlt es an einem globalen Ord-nungsrahmen ähnlich der Welthandelsordnung, der die Akteure diszipliniert und siemultilateralen Instanzen unterwirft. Stattdessen muss seit dem Zusammenbruch desBretton Woods Abkommens von einer Nicht-Ordnung auf Finanzmärkten gesprochenwerden, in der es weder eine einzelstaatliche noch eine plurilaterale oder multilate-rale Ordnungsinstanz mehr gibt. Die USA als größter Schuldner können diese Funk-tion, die sie noch in der frühen Nachkriegsperiode unter dem Bretton Woods Systemausübten, nicht mehr ausfüllen. Der Autor sieht in der näheren Zukunft keine Verän-derung dieser Situation. Die Rolle des Dollars als internationale Leitwährung seizwar geschwächt, aber immer noch alternativlos. Hoffnung setzt der Autor statt auftop-down gesetzte Ordnungen auf sich entwickelnde bottom-up zivilgesellschaftlicheProzesse auf globaler Ebene, die über Transparenz und Information Akteure an Fi-nanzmärkten zu risikobewussterem Verhalten bewegen und Regierungen zur Koor-dinierung ihrer nationalen Regeln veranlassen würden.

Positives1

Es hat in der Nachkriegszeit nur ein einziges globales Regelwerk innerhalb der in-ternationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen gegeben, das sich nicht nur halten,sondern auch weiter entwickeln konnte. Das war die internationale Handelsordnung,zunächst im Rahmen des Güterhandels (GATT) und später erweitert auf den Handelmit Dienstleistungen und den Schutz des geistigen Eigentums im Rahmen der Welt-handelsorganisation WTO. Weder auf den Arbeitsmärkten noch im Bereich der Um-welt und auch nicht in den internationalen Finanzbeziehungen ist es der Weltgemein-schaft seit Kriegsende gelungen, ein entsprechendes Regelwerk zu verankern.2 DerGoldstandard des frühen zwanzigsten Jahrhunderts konnte nicht in die Nachkriegszeithinübergerettet werden, und die an den Dollar als Leit- und Ankerwährung geknüpfteOrdnung des Bretton Woods Abkommens zerbrach Anfang der siebziger Jahre an derschwindenden Fähigkeit der USA, ihre Währung knapp und damit wertstabil zu hal-

1.

1 Der Autor dankt zwei Gutachtern für kritische Beiträge zum Manuskript.2 Dies hatte übrigens zur Folge, dass die Welthandelsordnung mit einer Fülle von konfligie-

renden Zielen überfrachtet wurde und daher auch an Autorität verloren hat.

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ten. Der Dollar hat nichtsdestoweniger seine Leitwährungsfunktion in Ermangelunganderer Alternativen behalten, und diese Alternativlosigkeit besteht bis dato, auchwenn in jüngster Zeit von manchen Seiten, unter anderem aus China, Kritik an dieserFunktion geübt wird. Aber nach wie vor bieten die USA den liquidesten Finanzmarkt,eine sehr absorptionsfähige Volkswirtschaft und im politischen Bereich ein weiteresöffentliches internationales Gut (neben der Leitwährung Dollar): die Omnipräsenzals politische und militärische Macht.3

Zusammengefasst: Die globalen institutionellen Beziehungen auf den Finanzmärk-ten sind durch eine Nichtordnung gekennzeichnet, und es spricht wenig dafür, dassdie Krise so tiefgreifend war, dass Nationalstaaten Souveränitäten bei der Regelungvon Finanzmarktbeziehungen an eine supranationale Institution hätten übertragenwollen.4 Der G-20 Gipfel in Pittsburgh hat diese Fixierung auf nationale Souveränitätund auf Koordination statt Souveränitätsübertragung unterstrichen. Der Internatio-nale Währungsfonds kann die Rolle als institutioneller Träger einer globalen Finanz-marktarchitektur schon deshalb nicht übernehmen, da er zum einen auf die Finanz-mittel der wichtigsten Mitglieder – sei es als Stimmrechtskapital oder als Kredit –angewiesen ist und zudem dank der bisherigen Sperrminorität der USA und der hohensummierten Stimmrechtsanteile der europäischen Staaten nicht autonom entscheidenkann. Im eigenen Hause ist er nur der deputy sheriff. Außerdem hat er keine Ein-griffsrechte in das Setzen nationalen Rechts von Ländern. Deshalb konnte er bislangauch nicht »lender of last resort« sein. Paradoxerweise ist es gerade die Stellung derUSA als größter Schuldner, die die Rolle des Dollars als Leitwährung so unangreifbarmacht. Dies wurde von John Connally, Finanzstaatssekretär in der Nixon Regierung,1971 treffend zum Ausdruck gebracht: Der Dollar ist unsere Währung und Euer Pro-blem.5 Die USA sind international in ihrer eigenen Währung verschuldet und könnendaher durch eigene Wechselkursinterventionen (Abwertung) die Vermögenspositionder Gläubiger (unter anderem China) zu deren Nachteil beeinflussen. Anders formu-liert: sie können ihre Schulden mit einem Geld bezahlen, das sie selbst schaffen kön-nen. Dies und die forcierte Exportexpansion wichtiger Schwellenländer haben in denvergangenen Jahren zu Leistungsbilanzungleichgewichten geführt, die ein Volumenan globaler Liquidität schufen, das über das Wachstum der Realwirtschaft weit hin-ausging. Im Zuge dieser Entwicklung und parallel zur Globalisierung von Güter-märkten und dem damit verbundenen Wettbewerbsdruck auf die Preise von handel-baren Gütern und Dienstleistungen sanken die Inflationserwartungen. Dank sinkenderkurzfristiger Realzinsen florierten Vermögensmärkte, in die die Liquidität floss, ohne

3 Siehe zum Zusammenhang zwischen den beiden internationalen öffentlichen Gütern der USA(Leitwährung und globale Sicherheit) in der älteren Literatur Fratianni/Patterson (1982). No-belpreisträger Robert Mundell (1993) fasst dies unter der Metapher »great powers have greatcurrencies« zusammen. Das Dilemma der Nicht-Ordnung und das Fehlen einer attraktivenAlternative zur Leitwährung Dollar wird von Cohen (2009) und Setser (2009) diskutiert.

4 Dies nicht zu tun, dafür gibt es aus politökonomischer Sicht eine Reihe von Argumenten.Siehe Weder di Mauro (2009).

5 Siehe zu den Hintergründen dieser Aussage, die anlässlich des Besuchs einer europäischenDelegation in den USA gemacht wurde: http://en.allexperts.com/e/j/jo/john_connally.htm;20.10.2009.

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dass die Geldpolitik einen Anlass gesehen hätte, die dadurch entstehenden exzessivenVermögensbewertungen (Blasen) zu verhindern bzw. ihnen entgegenzutreten (Grubel2008). Hier zeigt sich der erste Problemkomplex, der der Krise zugrunde lag: Einedank der Leistungsbilanzungleichgewichte stetig wachsende Quelle internationalerLiquidität verbunden mit der Passivität der Geldpolitik, die sich dem Inflationszielverpflichtet sah und wegen globalisierungsbedingtem Wettbewerb und Lohnzurück-haltung keine inflationäre Entwicklung befürchten musste.

Anders als in den früheren Finanzkrisen, die sich auf Transformations- und Schwel-lenländer beschränkten (Lateinamerika und Südostasien), fand die Überschussliqui-dität Aufnahme in Kreditersatzgeschäften in den Industrieländern, allen voran in denUSA. Zu den Leistungsbilanzungleichgewichten trugen Rohstoffmärkte bei, da sichim Zuge des raschen Wachstums von Schwellenländern eine ungebrochene Nachfra-ge nach Rohstoffen entwickelte, die zu weiteren Leistungsbilanzungleichgewichtenbeitrug. Dieser makroökonomische Problemkomplex wurde von einem zweiten mi-kroökonomischen Problemkomplex begleitet, nämlich dem der Regulierungsdefiziteauf heimischen Finanz- und Vermögensmärkten und der fehlenden Koordination be-stehender Regulierungen zwischen den einzelnen Ländern. Diese Defizite haben sichauf allen Märkten in unterschiedlicher Form gezeigt, sicherlich prominent in den USAbei der Finanzierung von Grundstücksinvestitionen aber auch in Deutschland, wobestimmte Finanzmarktprodukte außerhalb der Bilanz und Bilanzkontrolle von dafüreingerichteten Spezialinstituten vertrieben werden konnten. Zu unterscheiden ist da-bei erstens zwischen unzureichenden Regulierungen vor der Krise, zweitens Fehlan-reizen von großen Akteuren, die ein sogenanntes systemisches Risiko, also einenDominoeffekt für andere Akteure, auslösen können (too big to fail), und schließlichdrittens prozyklisch wirkende Regulierungen dahingehend, dass Eigenkapitalhinter-legung gerade dann verschärft wurde, als das Eigenkapital für die in der Krise be-findlichen Institute am teuersten war. Ein dritter Problemkreis umfasst die Geldpo-litik der Industriestaaten, die die Blasenbildung an Vermögensmärkten weitgehendignorierte. Diese Problemkreise hätten für sich genommen nicht zwangsläufig zumAusbruch der Krise führen müssen, hätte es nicht »tipping points« wie das Zulassendes Zusammenbruchs von Lehman Brothers gegeben, die panisches Herdenverhaltenauslösten.

Nationalstaaten und Zentralbanken haben in der Krise rasch reagiert, indem sienahezu uneingeschränkt Liquidität zur Verfügung stellten, implizite Solvenzgaranti-en für große Finanzinstitute aussprachen und vorübergehend die Funktionen des zu-sammengebrochenen Interbankenmarktes übernahmen (Dewatripont et al. 2009)Zentralbanken wurden vorübergehend zu Geschäftsbanken. Nichtsdestoweniger blei-ben die wesentlichen Herausforderungen, die sich aus den drei Problemkomplexenergeben haben, auch nach den bisherigen drei G-20 Gipfeln ungelöst.

Erstens bestehen die globalen Ungleichgewichte, wenn auch zyklisch bedingt ver-ringert, weiterhin noch. Die Rolle des Dollars als Leitwährung bleibt vorerst unan-gefochten, aber die Kritik an dieser Funktion wird immer unüberhörbarer. Es bestehtweiterhin ein erheblicher Überschuss an Liquidität, die ihre Anlage nicht allein ineiner sich nur langsam erholenden Realwirtschaft finden wird. Zweitens wird die

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Einigung auf globale Standards für Finanzmarktprodukte und gemeinsame Finanz-marktregulierungen angesichts der Interessenunterschiede zwischen den führendenFinanzstandorten USA und dem Vereinigten Königreich einerseits, sowie China undden kontinentaleuropäischen Ländern andererseits sehr schwierig werden. Nicht aus-zuschließen ist, dass sich hinter Formelkompromissen löchrige Regulierungen ver-stecken können, die auch angesichts der ungebrochenen Innovationskraft einer umsÜberleben kämpfenden Finanzmarktbranche größer werden können. Regulierungenzielen auf bereits bestehende Produkte ab, aber man zielt auf ein sich bewegendesZiel, da die Branche neue Produkte hervorbringen wird und Regulatoren immer einenSchritt hinter den Innovatoren bleiben werden. Umso mehr ist zu erwarten, dass eineEntschärfung der Situation weniger aus neuen Regulierungen denn aus verändertenVerhaltensweisen der Akteure an den Märkten resultieren wird; diesmal in einerüberschießenden Vorsicht, solange die Bilanzpositionen der Unternehmen und derprivaten Haushalte nicht konsolidiert sind. Drittens steht die Geldpolitik vor derschwierigen Aufgabe, den richtigen Zeitpunkt für die Rückführung der reichlich zurVerfügung gestellten Liqudität zu finden, ohne die realwirtschaftliche Erholung be-reits rasch wieder im Keim zu ersticken. Dabei kann es zu Asymmetrien in der zeit-lichen Abfolge der Geldpolitik dahingehend kommen, dass die EZB früher als dieamerikanische Notenbank beginnt, Liquidität einzusammeln. Eine derartige Asym-metrie könnte den Dollar schwächen und zu protektionistischen Schritten seitens derLänder führen, die mit den USA auf den internationalen Märkten konkurrieren be-ziehungsweise den Importdruck als Folge der Aufwertung ihrer Währung als Lastsehen. Eine weitere Abwertung des Dollars würde zudem den Zugang zum amerika-nischen Gütermarkt sichtbar erschweren.

Es spricht vieles dafür, dass es zunächst einmal bei der Nichtordnung oder einem»Weiter So« auf den internationalen Finanzmärkten bleiben wird. Die Rolle des Dol-lars als internationale Leit- und Ankerwährung bleibt vorerst alternativlos. Sonder-ziehungsrechte oder andere in der Diskussion befindlichen Dollarsubstitute sind so-lange keine Alternative, wie sie nicht alle drei Funktionen eines internationalenGeldes erfüllen können: Umrechnungseinheit, Zahlungsmittel im internationalenHandel und Wertaufbewahrung (letztere international konkretisiert durch die Aufga-ben als Reservewährung und Wechselkursanker). Die Interessengegensätze zwischenden USA und dem Vereinigten Königreich einerseits sowie den kontinentaleuropäi-schen Ländern andererseits und nicht zuletzt auch China bleiben weiterhin bestehen.Der Finanzsektor wird vor dem Hintergrund einer Schrumpfung Innovationen her-vorbringen, an die Regulierungsinstitutionen auf nationaler Ebene zur Zeit noch garnicht denken können. Dies alles geschieht vor dem Umfeld eines alles andere alsselbsttragenden Aufschwungs, da die realwirtschaftlichen Bremsspuren (Überkapa-zitäten in bestimmten Sektoren, Fragen nach der Fortsetzung des asiatischen Export-booms, Spannungen im Europäischen Währungssystem) weiterhin die nächsten Jahrebestimmen werden.

Die Frage nach einer stabilen globalen Finanzmarktordnung bzw. Finanzmarktar-chitektur bleibt damit weiterhin unbeantwortet. Weitere Krisen sind daher wahr-scheinlich. Ebenso wenig kann ausgeschlossen werden, dass die Globalisierung der

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Gütermärkte einen Rückschlag erleidet. Dies bedeutet, dass eine Finanzmarktarchi-tektur sich nicht auf den Vorbildcharakter der internationalen Handelsordnung wirdstützen können. Dafür waren die Enttäuschungen nach acht Jahren Verhandlungeninnerhalb der Doha Runde zu groß. Protektionistische Einzelfeuer hat es in vielenFällen in der Krise gegeben, jedoch keinen Flächenbrand (Evenett 2008). Dennochliegt der multilaterale Abschluss der Runde in weiter Ferne. Zwischen den nationalenund den globalen Regelungen könnte es zu einer verstärkten Regionalisierung vonRegeln kommen, da es auf der regionalen Ebene mit homogeneren Partnern leichtersein dürfte, eine Harmonisierung von Regeln erreichen.

Über den Umweg der Regionalisierung könnte es dann auch zu globalen Regulie-rungen zwischen wenigen Währungsblöcken kommen. Entscheidend wird sein, wiegroß der Dollarblock nach der Krise ist. Diese Frage wird zwischen den USA undChina entschieden. Europa bleibt hier Zuschauer.

Normative Implikationen für eine Weltwirtschaftsordnung fürFinanzmarkttransaktionen

Die Erfahrungen mit Nichtordnungen auf globaler Ebene für Finanzmarktbeziehun-gen, Umwelt und Arbeit sowie die offenkundige Schwäche der WTO als bereits eta-blierter Ordnungsrahmen für den Welthandel werfen grundlegende Fragen nach derMachbarkeit globaler Ordnungsarchitekturen auf. Meines Erachtens zeigen diese his-torischen Erfahrungen, dass sich ein globales Regelwerk nur mit einer akzeptierteneinzelstaatlichen oder einer plurilateralen oder multilateralen Ordnungsinstanz, alsoeinem führenden Nationalstaat, einer anerkannten Regionalgemeinschaft oder einermultilateralen Einrichtung verwirklichen lässt. Diese Instanz würde andere Staatenfür Härten aus der Bindung an eine Ordnung kompensieren und ein veritables Eigen-interesse an globalen Regeln haben. Unter den Einzelstaaten waren dies früher Eng-land und dann die USA. Diese Funktion als Ordnungsinstanz füllen sie heute nichtmehr aus. Die USA sind als größter internationaler Schuldner geschwächt und darüberhinaus nicht bereit, eine andere Instanz uneingeschränkt zu akzeptieren. Eine solcheInstanz ist auch nicht in Sicht. Die EU ist kein Ersatz, da sie mit Ausnahme einereinheitlichen Geld- und Handelspolitik in der Kernfrage einer gemeinsamen Außen-politik zerrissen bleibt. Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, das VereinigteKönigreich und Frankreich, bleiben außenpolitische Antipoden und werden zentraleSouveränitäten nicht an eine EU-Institution abgeben. Mit zunehmender Mitglieder-zahl bleibt die EU vom Ministerrat, also vom Interesse der Einzelstaaten, geprägt,nicht aber von der Kommission. Schwellen- und Transformationsländer haben wederdie wirtschaftliche Potenz noch die politische Akzeptanz, um als Ordnungsinstanzakzeptiert zu werden. Viele dieser Staaten sind defekte oder autoritäre Demokratien.Etablierte Demokratien müssten bereit sein, ihre politischen Grundvorstellungen, wieDemokratie, soziale Marktwirtschaft und individuelle Menschenrechte mit anderenGrundvorstellungen in Konkurrenz treten zu lassen, ja sogar gegebenenfalls zu ak-zeptieren, dass diese Grundvorstellungen obsiegen.

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Wenn man annimmt, dass eine top down Regelarchitektur, die von einer Ordnungs-instanz bestimmt wird, zukünftig nicht verwirklicht werden kann, bleibt die Hoffnungauf eine bottom up Bewegung, die man als globale internetvernetzte Zivilgesellschaftbezeichnen kann. Sie könnte dank ihrer Präsenz und ihres Wissens in einem längerenProzess Verhaltensnormen etablieren, denen sich Regierungen letztlich anschließen.Im internationalen Handel haben sich derartige Normen bereits durchgesetzt, wie dieErfolge der Extractive Industries Transparency Initiative oder der Business SocialCompliance Initiative zeigen, in der sich Unternehmen zu Sozialstandards und ande-ren ethischen Prinzipien bekennen. Grundlage einer bottom up Bewegung sind Trans-parenz, eine rankingorientierte Beurteilung und Öffentlichkeit, insbesondere bei Re-gelverstößen. Diese Bewegung betont maßvolles Nutzen von Ressourcen, wäre bereit,sich mit weniger materiellem Konsum zufrieden zu geben und würde sich stattdessenimmaterielle Ziele setzen. Die Krise hat die Chancen für bottom up Bewegungengestärkt, unter anderem auch deshalb, weil im Nachklang der Krise risikoaversesVerhalten und generelle Vorsicht zunächst einmal bestimmend sein werden, um dannspäter durchaus wieder dem Überschwang und der Partylaune zu verfallen.6 Unge-achtet jeder Ordnungsarchitektur auf Finanzmärkten werden Konsumenten, Investo-ren und Sparer weiterhin ihren gelernten oder erfahrenen Verhaltensmustern folgen.Damit werden sie nicht vorbereitet sein auf das völlig Unerwartete, den »BlackSwans« (Nassim Taleb). Sie werden ihren Erfahrungsschatz nicht nutzen können, undihre bestehenden Regelsysteme werden den Schock eines völlig unerwarteten Ereig-nisses nur in längerer Sicht bewältigen können. Daher bleiben zivilgesellschaftlicheOrdnungen, wie Familie oder Vereine, als Moleküle einer Ordnung übrig, die ihreAnpassungsfähigkeit und Änderungsbereitschaft viel stärker durch gewachsene bot-tom up als durch gesetzte top down Regeln beweisen kann.

Für das Ringen um eine internationale Finanzmarktordnung heißt dies viererlei:Erstens, für eine top down Ordnung mit globalen Institutionen und Souveränitätsver-zicht nationaler Institutionen gibt es kein politisches Fundament. Zweitens, der Dollarals internationale Leitwährung bleibt unangefochten, gestützt von zunächst sinkendenLeistungsbilanzungleichgewichten. Drittens, es wird dennoch mehr Ordnung an denFinanzmärkten geben, in erster Linie geprägt durch sehr vorsichtige Verhaltensweisender Anleger, verschärfte Bonitätsauflagen gegenüber Kreditnehmern und die Tendenzder Banken, sich stärker auf Heimatmärkte und das Massengeschäft zu konzentrieren.Viertens, Nationalstaaten werden sich auf Mindeststandards für Eigenkapitalunter-legung in Abhängigkeit vom systemischen Risiko großer Finanzinstitute einigen, aberdie Implementierung und Überwachung wird eine Quelle ständiger Dispute zwischenNationalstaaten bleiben.

6 Akerlof/Shiller (2009) haben für eventgetriebene Verhaltensweisen den Begriff »animal spi-rits« geprägt.

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Literatur

Akerlof, George A./Shiller, Robert J. 2009: Animal Spirits: How Human Psychology Drives theEconomy, and Why it Matters for Global Capitalism, Princeton, NJ.

Cohen, Benjamin J. 2009: The Future of Reserve Currencies, in: Finance & Development 46: 3,26-29.

Dewatripont, Mathias/Freixas, Xavier/Portes, Richard (Hrsg.) 2009: Macroeconomic Stabilityand Financial Regulation: (Key Issues for the G-20), London.

Evenett, Simon (Hrsg.) 2008: Broken Promises: (A G20 Summit Report by Global Trade Alert),London.

Fratianni, Michele/John Pattison 1982: The Economics of International Organizations, in: Ky-klos, 35: 2, 244-262.

Grubel, Herbert 2008: The 2008 Financial Turmoil and Sovereign Debt Funds, in: http://www.sfu.ca/~grubel/new_page_1.htm; 9.10.2009.

Mundell, Robert 1993: EMU and the International Monetary System: A Transatlantic Perspective(Austrian National Bank Working Paper 13), Wien.

Setser, Brad 2009: The Shape of Things to Come, in: Finance & Development 46: 1, 36-39.Weder di Mauro, Beatrice 2009: The Dog that Didn't Bark, in: The Economist 3.10.2009, 94.

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Mitteilungen der Sektion

Ergebnisse der Sektionsmitgliederversammlung im Rahmen des DVPW-Kongresses 2009

Auf der Mitgliederversammlung der Sektion standen die Berichte über die zurück-liegenden drei Jahre im Sektionsvorstand, die Buchreihen und die ZIB sowie die Ta-gungsplanung und die Wahlen der neuen SektionssprecherInnen an.

Diskutiert wurden dabei auch die geringe Resonanz der Sektionsmitglieder auf dieCalls zur Einreichung von Panel-Vorschlägen, die die Sektion auf nationalen undinternationalen Konferenzen, etwa der ISA oder dem DVPW-Kongress, besetzenkann. In der Diskussion wurde zum einen kritisch angemerkt, dass sich die Tagungenderart häuften, dass sich eine gewisse Konferenzmüdigkeit einstelle. Zum anderenseien die Chancen, mit einem individuellen Paper oder Panel bei der ISA angenom-men zu werden, mittlerweile so gut, dass die Sektions-Panel nicht mehr benötigtwürden. Zugleich wurde aber argumentiert, dass diese Panels auch eine gute Mög-lichkeit darstellten, die spezifische Forschungsausrichtung der »deutschen« IB zupräsentieren. Der neue Sektionsvorstand hofft, dass zukünftige Calls wieder mehrResonanz hervorrufen und wird im Vorfeld hierfür verstärkt Werbung betreiben.

Ein weiterer wichtiger Punkt auf der Mitgliederversammlung war die Situation deswissenschaftlichen Nachwuchses, die bereits auf dem DVPW-Kongress 2006 disku-tiert wurde. Gegenüber der damaligen Diskussion über »halbe« Qualifikationsstellenfür Post-Docs oder unzumutbare Lehrbelastungen bei Nachwuchsstellen betonte dieNachwuchsgruppe nunmehr, dass ein weiterer Problemkreis hinzugekommen sei. Sowürden auf der Mailingliste der Nachwuchsgruppe vermehrt Beschwerden über diePraxis der Promotionsförderung laut. Dabei geht es sowohl um Stipendienverträge,die reguläre Mitarbeiterstellen oder Projektmitarbeiter ersetzen sowie um wissen-schaftliche Hilfskraftstellen, auf denen promoviert werden soll. In der Diskussionwurde angemerkt, dass der generelle Anstieg der Anzahl von Stipendien zunächstpositiv zu werten sei, da es damit mehr Möglichkeiten gibt, den wissenschaftlichenNachwuchs zu fördern. Das zentrale Problem sei daher die Vermengung unterschied-licher Fördermöglichkeiten und Anforderungsprofile. Die Sektion bekräftigte daherihre Unterstützung für die Stellungnahme zur Situation des wissenschaftlichen Nach-wuchses von Vorstand und Beirat der DVPW aus dem Jahr 2008 (https://www.dvpw.de/fileadmin/docs/NachwuchsFeb08.pdf). Der neue Sektionsvorstandwird die Stellungnahme auf die Sektionshomepage setzen und ruft alle Mitglieder auf,die Stellungnahme im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unterstützen.

Bei den Neuwahlen des Sektionsvorstandes wurden Mathias Albert, Nicole Dei-telhoff und Bernhard Zangl als SprecherInnen gewählt. Die Geschäftsführung2009/2010 wird in Frankfurt angesiedelt sein. In Frankfurt wird auch die nächste

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Tagung der Sektion, gemeinsam mit der Sektion »Politische Theorie und Ideenge-schichte«, zum Thema »Internationale Politische Theorie« vom 10.-12. Juni 2010stattfinden. Der Call für die Tagung endet am 31.12.2009 und kann auf derHomepage der Sektion (http://www.soz.uni-frankfurt.de/hellmann/sektion/aktuelles/CfP_IPT.pdf) eingesehen werden. Neben dieser Tagung plant die Sektion eine zweitegemeinsame Tagung mit der BISA sowie eine offene Sektionstagung. Nähere Hin-weise dazu werden auf der Homepage und über Sektionsverteiler in Kürze folgen.Der Vorstand ist natürlich offen für weitere Anregungen und Initiativen und bittet,entsprechende Rückmeldungen und Vorschläge direkt an die Geschäftsführung inFrankfurt zu richten.

Ergebnisse der DVPW-Mitgliederversammlung

Die Sektion war mit zwei Kandidaten für Vorstand und Beirat in die Mitgliederver-sammlung der DVPW gegangen. Es ist aber nicht gelungen, beide Kandidaten durch-zubringen. Die Sektion ist in dieser Amtsperiode daher nicht im Vorstand der DVPWund mit Mathias Albert im Beirat vertreten. Ein Grund für dieses aus Sektionssichtnicht zufriedenstellende Ergebnis ist die sehr geringe zahlenmäßige Beteiligung vonSektionsmitgliedern an der Mitgliederversammlung.

Tagung der Nachwuchsgruppe der Sektion Internationale Politik

Die Nachwuchsgruppe der Sektion Internationale Politik der Deutschen Vereinigungfür Politische Wissenschaft (DVPW) veranstaltet vom 28. bis 30. Mai 2010 in derEvangelischen Akademie Arnoldshain zum Thema »Sicherheit, Wirtschaft, Gesell-schaft: Theorien und Problemfelder internationaler Beziehungen« die neunte Tagungfür den wissenschaftlichen Nachwuchs. Die Tagung bietet Nachwuchswissenschaft-lerInnen (insbesondere DoktorandInnen) die Möglichkeit, ihre Forschungsarbeitenaus dem Bereich der Internationalen Beziehungen mit VertreterInnen des Faches zudiskutieren. Die Nachwuchstagung steht auch interessierten TeilnehmerInnen offen,die kein eigenes Papier vorstellen möchten. Diese wenden sich bitte bis zum15. Februar 2010 an [email protected].

Die Kosten der Tagung sind von den TagungsteilnehmerInnen selbst zu tragen,fallen jedoch moderat aus (ca. 100,00 € für Übernachtung und Verpflegung für dengesamten Tagungszeitraum).Für weitere Informationen stehen Sprecherin und Sprecher der Nachwuchsgruppe derDVPW Sektion Internationale Politik gerne zur Verfügung:

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Mitteilungen der Sektion

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Melanie ZimmerHessische Stiftung Friedens- und KonfliktforschungBaseler Straße 27-3160329 Frankfurt a. [email protected] Julian EcklUniversität St. GallenInstitut für PolitikwissenschaftDufourstr. 45CH-9000 St. [email protected]

Kontaktdaten des Vorstands der Sektion

Prof. Dr. Mathias AlbertFakultät für SoziologieUniversität BielefeldPostfach 100 13133501 [email protected](Geschäftsführung 2011/2012) Prof. Dr. Nicole DeitelhoffGoethe-Universität Frankfurt a. M.Exzellenzcluster »Herausbildung Normativer Ordnungen«Senckenberganlage 3160325 Frankfurt a. [email protected](Geschäftsführung 2009/2010) Prof. Dr. Bernhard ZanglLudwig-Maximilians-Universität MünchenGeschwister-Scholl-Institut für PolitikwissenschaftOettingenstr. 6780538 Mü[email protected](Geschäftsführung 2010/2011)

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Mitteilungen der Sektion

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Abstracts

Thorsten Benner/Stephan Mergenthaler/Philipp RotmannInternational Bureaucracies and Organizational LearningThe Contours of a Research AgendaZIB, Vol. 16, No. 2, pp. 203-236

This article sketches an agenda for furthering research on international bureaucracies,a topic neglected by IR researchers over the past decades. The first part identifieseleven topics: internal governance, leadership, interaction with principals, inter-or-ganizational relations, roles in new forms of public-private governance, authority/influence, accountability/legitimacy, impact evaluation, institutional design, change/reform and learning. The second part uses the topic of organizational learning as anillustration and presents a framework for analyzing learning in international bureau-cracies. The third part discusses challenges for better embedding research on inter-national bureaucracies into the discipline of IR.

Martin Nonhoff/Jennifer Gronau/Frank Nullmeier/Steffen SchneiderThe Politicization of International InstitutionsThe Case of the G8ZIB, Vol. 16, No. 2, pp. 237-267

Whether, why and in what respect we are witnessing an increasing politicization ofinternational regimes is widely discussed at the moment. Recent contributions pro-pose that such politicization is in fact happening and that we should understand thatdevelopment as an unintended consequence of the growing supra- and transnationa-lization of international regimes. Looking more closely at which institutions are be-coming politicized the most blatant example is surely the G8. It has aroused morepolitical protest than any other international institution during the last decade and itis also, as we show in this article, under severe discursive legitimation pressure. Yet,the G8 is neither a supra- nor a transnational, but rather a trans-governmental insti-tution. Therefore, supra- or transnationalization cannot be understood as a sufficientcondition for explaining the politicization of international regimes. Other factors, suchas the symbolic character of an institution, its discursive visibility, and its pronenessto assume a state-like range of responsibilities have to be taken into account.

Christian Grobe

Zeitschrift für Internationale Beziehungen16. Jg. (2009) Heft 2, S. 367 – 370

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How cheap talk really isCommunicative vs. strategic rationality in an experimental dictator gameZIB, Vol. 16, No. 2, pp. 269-297

Since the onset of the »ZIB debate« the theory of communicative action has witnessedan interesting evolutionary process, with institutional explanations for argument-ba-sed changes in agent's behavior moving into focus. At the same time, behavioral gametheorists – practically unnoticed by political scientists – have broadened the founda-tions of traditional rational choice theory. Equipped with findings from laboratoryexperiments, they found numerous ways to explain changes in agent's behavior as aresult of strategic action. By leaving these rationalist explanations aside, the validityof commonly used counterfactual proofs of communicative action, via the institutio-nal context, is threatened. To avoid the resulting danger of bias, the article puts fortha new definition of the relation between communicative and strategic rationality.Subsequently, it builds on this definition in order to measure the relative explanatorypower of the two approaches by means of a laboratory experiment. The article thusshows how the adopted experimental method can supplement empirical field research,and therefore deserves to become an integral part of the standard toolkit used bypolitical scientists.

Stefan A. SchirmA Coordinated World Economy?New Rules for More Efficient and Legitimate MarketsZIB, Vol. 16, No. 2, pp. 311-324

The global financial crisis clearly shows that the current world economic order lacksefficiency as well as legitimacy. Therefore, more powerful rules for global marketsmust be created in form of better surveillance and regulation of financial market ac-tors, a strengthening of international organizations, and by a more comprehensiveparticipation of relevant countries in global economic governance. In the G20, mem-ber states accomplished a rapprochement on several reform proposals, but only re-ached consensus on non-binding rules. This is essentially due to the variety of societalideas and interests towards possible reform strategies which shaped governmentalpositions an led to divergence in the G20. Thus, the optimistic scenario for reformedgovernance is a better coordinated world economy, which combines on principleopenness of markets with better multilateral suveillance and regulation as basic fea-tures of a more efficient and legitimate international order.

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Jens van ScherpenbergFinancial Capital, the Financial Crisis and Competition Among StatesZIB, Vol. 16, No. 2, pp. 325-337

Analyzing the impact of the current global financial crisis on international relationsrisks falling short of meaningful conclusions if the crisis is treated as a mere externalshock. The current article aims at contributing to a deeper understanding of the eco-nomic forces that led to the crisis and that continue to determine states' reactions toit. First, three theses on the accumulation of financial capital are presented, based onMarx' analysis of capital. In pointing out the fundamental subsumption of all sectorsof capitalist economies under the self-referential accumulation of financial capital thearticle does not only offer a rebuttal of the financialisation theory but also attemptsto explain why there is so little willingness among states to agree on stricter regulationof the financial sector. The conclusions from the first part are then applied to a briefanalysis of competition and rivalry between the major economic powers as displayedin the G20 and IMF context.

Christoph ScherrerFinance Capital Stays Dominant Despite CrisisZIB, Vol. 16, No. 2, pp. 339-353

Finance capital enjoyed hegemony in the governance of the world economic order.The article pursues the question whether finance capital has lost its hegemonic powers.It argues with reference to accumulation and new social movement theories that crisescan actually strengthen capital and contribute to the reproduction of capitalism. Pre-vious financial crises did not curb, but enlarged the powers of finance capital. Ananalysis of the stages of the current crisis management reveals the staying power offinance capital, however its interest are no longer seen by many to represent the in-terest of all.

Rolf J. LanghammerThe Financial Crisis and the International OrderZIB, Vol. 16, No. 2, pp. 355-361

This article identifies the underlying roots of the financial crisis as follows: excessivegrowth of global liquidity during the last two decades, deficient regulations on fi-nancial markets in the making of the crisis and during the crisis, passive monetarypolicies which failed to prick excessive asset bubbles, and incapability of actors tocope with unexpected shocks. Unlike in goods markets where the world trading order(WTO) sets global rules, there is no global regulatory order in financial markets whichsubmits actors to rules discipline and supranational institutions. Instead, since thecollapse of the Bretton Woods System,financial markets are characterized by a »non-

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order« in which there is no longer a national hegemon acting as a guardian. The USas the largest international debtor is no longer in the position of a hegemon. In thenear future, the author does not see an improvement out of this situation. The role ofthe dollar as the leading international currency has weakened but is still without anyalternative. At least, there is room for hope that instead of a top-down setting of globalexplicit rules, civic society will be instrumental to gradually develop implicit rulesdriven by transparency and information in order to induce actors in financial marketstowards more risk-conscious behaviour.

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Autorinnen und Autoren dieses Heftes

Thorsten Benner M. A., MPA, stellv. Direktor des Global Public PolicyInstitute, Reinhardtstr. 15, 10117 Berlin,E-Mail: [email protected]

Christopher Daase Dr., Professor für internationale Organisationen der Goethe-Universität Frankfurt, Senckenberganlage 31, 60325Frankfurt a. M.E-Mail: [email protected]

Marieke de Goede Dr., Senior Lecturer am Department für European Studiesder Universität Amsterdam, Spuistraat 134, 1012VBAmsterdam,E-Mail: [email protected]

Christian Grobe Dipl.-Vw., M.A., Berater bei McKinsey & Company,Taunustor 2, 60311 Frankfurt,E-Mail: [email protected]

Jennifer Gronau Dipl.-Pol., Mitarbeiterin im SFB 597 Staatlichkeit imWandel, Postfach 33 04 40, 28334 Bremen,E-Mail: [email protected]

Rolf J. Langhammer Prof. Dr., Vizepräsident des Instituts für Weltwirtschaft,Düsternbrooker Weg 120, 24105 Kiel,E-Mail: [email protected]

Stephan Mergenthaler M. A., Research Associate, Global Public Policy Institute,Reinhardtstr. 15, 10117 Berlin,E-Mail: [email protected]

Martin Nonhoff Dr., Professor am Institut für Interkulturelle undInternationale Studien der Universität Bremen, LinzerStraße 4, 28359 Bremen,E-Mail: [email protected]

Frank Nullmeier Dr., Professor am Zentrum für Sozialpolitik der UniversitätBremen, Parkallee 39, 28209 Bremen,E-Mail: [email protected]

Philipp Rotmann M. A., Fellow, Global Public Policy Institute, Reinhardtstr.15, 10117 Berlin,E-Mail: [email protected]

Jens van Scherpenberg Dr., Lehrbeauftragter für Internationale PolitischeÖkonomie am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München, Oettingenstraße 67,80538 München,E-Mail: [email protected]

Zeitschrift für Internationale Beziehungen16. Jg. (2009) Heft 2, S. 371 – 372

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Christoph Scherrer Dr., Professor für Globalisierung und Politik an derUniversität Kassel, Nora-Platiel-Str. 1, 34127 Kassel,E-Mail: [email protected]

Stefan A. Schirm Dr. habil., Professor für Politikwissenschaft, Lehrstuhl fürInternationale Politik, Ruhr Universität Bochum,Universitätsstraße 150, 44780 Bochum,E-Mail: [email protected].

Steffen Schneider Dr., Mitarbeiter im SFB 597 Staatlichkeit im Wandel,Postfach 33 04 40, 28334 Bremen,E-Mail: [email protected]

Richtigstellung Im Forumsbeitrag von Brigitte Young in der letzten Ausgabe der ZIB sind die Quel-lenangaben unter den Abbildungen 2 und 4 falsch. Die richtigen Quellen lauten: Ab-bildung 2: Andrea Finicelli: House Price Developments and Fundamentals in theUnited States (Bank of Italy Occasional Paper Nr. 7), Rom, 2007, S. 6. Abbildung 4:ebenda, S. 4.

Autorinnen und Autoren

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Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB)

Herausgegeben im Auftrag der Sektion Internationale Politikder Deutschen Vereinigung Politische Wissenschaft (DVPW) von:

Christopher Daase (geschäftsf.), Gunther Hellmann, Reinhard Meyers,Harald Müller, Klaus Dieter Wolf, Michael Zürn

Redaktion: Maria Birnbaum, Stefan Engert, Anna E. Frazier,Rainer Hülsse, Dieter Kerwer, Steven M. Wakat

INHALTSVERZEICHNIS16. Jahrgang (2009)

Thorsten Benner/Stephan Mergenthaler/Philipp RotmannInternationale Bürokratien und OrganisationslernenKonturen einer Forschungsagenda...................................................... 203 Hans-Jürgen BielingWenn der Schneeball ins Rollen kommtÜberlegungen zur Dynamik und zum Charakter der Subprime-Krise.......... 107 Marieke de GoedeFinance and the ExcessThe Politics of Visibility in the Credit Crisis......................................... 299 Sandra Dieterich/Hartwig Hummel/Stefan Marschall»Kriegsspielverderber«?Europäische Parlamente und der Irakkrieg 2003.................................... 5 Christian GrobeWie billig ist Reden wirklich?Kommunikative vs. strategische Rationalität in einem experimentellenDiktatorspiel................................................................................. 269 Dieter KerwerInternationale Beziehungen und OrganisationsforschungEin Tagungsbericht......................................................................... 177 Oliver KesslerDie Subprime-Krise und die Frage nach der Finanzmarktstabilität 161 Rolf J. LanghammerDie Finanzkrise als Herausforderung für die internationale Ordnung. . . 355

Zeitschrift für Internationale Beziehungen16. Jg. (2009) Heft 2, S. 373 – 375

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Martin Nonhoff/Jennifer Gronau/Frank Nullmeier/Steffen SchneiderZur Politisierung internationaler InstitutionenDer Fall G8................................................................................... 237 Andreas NölkeFinanzkrise, Finanzialisierung und VergleichendeKapitalismusforschung.................................................................. 123 Ingo RohlfingBilateralismus und Multilateralismus in den internationalenBeziehungenEin polit-ökonomischer Ansatz am Beispiel der Handelskooperation.......... 75 Christoph ScherrerDas Finanzkapital verteidigt seinen Platz in der weltwirtschaftlichenOrdnung..................................................................................... 339 Stefan A. SchirmKoordinierte Weltwirtschaft?Neue Regeln für effizientere und legitimere Märkte............................... 311 Jens van ScherpenbergFinanzkapital, Finanzkrise und internationale Staatenkonkurrenz. . . . . . . 325 Brigitte YoungVom staatlichen zum privatisierten KeynesianismusDer globale makroökonomische Kontext der Finanzkrise und derPrivatverschuldung......................................................................... 141 Lisbeth ZimmermannWann beginnt der (Demokratische) Frieden?Regimewechsel, Instabilitäten, Integration und ihr Einfluss auf den Konfliktzwischen Ecuador und Peru.............................................................. 39 Editorial(2/2009)....................................................................................... 199 Aufsätze(1/2009) ...................................................................................... 5(2/2009) ...................................................................................... 203 Forum(1/2009) ...................................................................................... 103 Symposium(2/2009) ...................................................................................... 299

Jahresregister 2009

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Tagungsbericht(1/2009) ...................................................................................... 177 Neuerscheinungen(1/2009) ...................................................................................... 185 Mitteilungen der Sektion(1/2009) ...................................................................................... 189(2/2009) ...................................................................................... 363 Abstracts(1/2009) ...................................................................................... 191(2/2009) ...................................................................................... 367 Autorinnen und Autoren(1/2009) ...................................................................................... 195(2/2009) ...................................................................................... 371

Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB)

ZIB 2/2009 375